Gegenwartsbewältigung (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26864-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Gegenwartsbewältigung - Max Czollek
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Nach Max Czolleks Bestseller 'Desintegriert euch!' liefert er nun ein Manifest für die plurale Gesellschaft, das Antworten auf die politische Gegenwart gibt.
In Zeiten der Krise leiden Gesellschaft und Vielfalt. Für Max Czollek bieten staatstragende Konzepte wie 'Leitkultur' oder 'Integration' darauf keinerlei Antwort. Seit 2018 wird viel diskutiert über Max Czolleks Streitschrift 'Desintegriert euch!'. Beschrieb sie den Status quo des deutschen Selbstverständnisses, entwirft Czollek nun das Modell für eine veränderte Gegenwart: Wie muss sich die Gesellschaft wandeln, damit Menschen gleichermaßen Solidarität erfahren? Welche liebgewonnenen Überzeugungen müssen wir alle dafür aufgeben? Wie kann in einer fragmentierten Welt die gemeinsame Verteidigung der pluralen Demokratie gelingen? Max Czollek trifft ins Herz des Jahres 2020 - diese Polemik ist sein Schrittmacher.

Max Czollek, geboren 1987, ist Autor und lebt in Berlin. Er ist Mitherausgeber des Magazins Jalta - Positionen zur jüdischen Gegenwart und seit 2021 Kurator der Coalition for a Pluralistic Public Discourse (CPPD) für eine plurale Erinnerungskultur. Er hat drei Gedichtbände publiziert, bei Hanser erschienen bisher seine vieldiskutierten Essays Desintegriert euch! (2018), Gegenwartsbewältigung (2020) und Versöhnungstheater (ET: 23.01.2023). 2022 war er Ideengeber und Kokurator der Ausstellung Rache. Geschichte und Fantasie am Jüdischen Museum Frankfurt, deren Begleitband ebenfalls bei Hanser erschien.

Einleitung:
Gegenwartsbewältigung


Auch wenn politische Regime gestürzt, Ideologien kritisiert und demontiert werden können — hinter jedem Regime und seiner Ideologie steht eine Art des Denkens und Fühlens, eine Reihe von kulturellen Gewohnheiten, eine Wolke von dunklen Instinkten und unauslotbaren Trieben.

UMBERTO ECO1

Keine*r kann genau sagen, wann das mit der Corona-Krise so richtig anfing. Zunächst war es nicht mehr als ein dumpfes Grummeln in den Newsfeeds, ein entferntes Gewitter wie so viele da draußen, das schon vorbeiziehen würde. Einige Wochen zählte ich die allmählich kürzer werdenden Pausen zwischen Blitz und Donner, beruhigt, dass ich noch lange in den zweistelligen Bereich kam. Und dann, plötzlich, brach die Krise heraus aus ihren kurzen Erwähnungen in den Nachrichten — und hinein in meine Gegenwart. Am 18. März 2020 trat Angela Merkel vor die Kameras und tat etwas, das sie in ihren fünfzehn Jahren als Bundeskanzlerin sonst nur zu Neujahr getan hatte: Sie wandte sich mit einer Ansprache an die deutsche Bevölkerung.

Mit zunehmendem Abstand scheint es mir, als konzentriere sich in Merkels Rede die Corona-Krise als zeitgeschichtliches Ereignis. Aber das bemerkte ich im Moment der Ansprache nicht. Auf ihre nüchterne Weise appellierte die Bundeskanzlerin an die Vernunft derjenigen, die den Menschen um sich herum irgendwie Gutes wünschen — aller Vermutung nach immer noch die Mehrheit in diesem Land —, und versuchte, sie von der Gefährlichkeit des Virus zu überzeugen. Aber mit ihrer »letzte[n] Mahnung aus dem Kanzleramt«2 stimmte sie die Bevölkerung gleichzeitig ein auf die rasch auf die Rede folgenden drastischen Beschränkungen demokratischer Freiheiten.

Nur einen Tag vor Merkels Ansprache hatte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron in seiner Rede von einem Krieg gegen einen »unsichtbaren Feind« gesprochen, was wie der Aufruf zu einer »Generalmobilmachung«3 klang. Im Vergleich dazu hatte die Bundeskanzlerin ein wohltuendes, weniger bellizistisches Vokabular gewählt, was vielleicht auch daran lag, dass Deutsche ihre Kriege tendenziell verlieren. Ganz ohne Kriegserwähnung aber kam auch sie nicht aus, wie das in einem Land, in dem viele Eltern und Großeltern knietief in den mörderischsten Krieg aller Zeiten verwickelt waren, ja auch nur angemessen ist. Um die Bedeutung der Corona-Krise zu unterstreichen, sprach Merkel von der größten Herausforderung »seit der Deutschen Einheit, nein, seit dem Zweiten Weltkrieg«.4 Ich fragte mich, welche Herausforderung Merkel meinte — wirklich den Zweiten Weltkrieg oder nicht doch eher die Zeit danach? Sicherlich, Welteroberung und Völkermord sind anstrengende Geschäfte, aber die Bundeskanzlerin hatte wohl eher die zerstörte deutsche Industrie vor Augen als die deutschen Vernichtungsfeldzüge in Osteuropa.

Wie dem auch sei, meiner Meinung nach lag die Bundeskanzlerin mit ihrem historischen Verweis auf den Zweiten Weltkrieg ohnehin nicht ganz richtig. In der emotionalen Wucht, mit der sie die deutsche Bevölkerung ganz unkriegerisch zu einer Art solidarischer Mobilmachung aufrief, erinnerte mich die Rede weniger an die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs als an die nationale Euphorie zu Beginn des Ersten. In einer der berühmtesten Ansprachen an die Deutschen überhaupt formulierte es Kaiser Wilhelm II. damals am 4. August 1914 folgendermaßen:

Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.

Damit hatte der Kriegseintritt Deutschlands seine Formel gefunden. An der anschließenden öffentlichen Inszenierung der deutschen Volksgemeinschaft nahmen dann auch diskriminierte Gruppen wie Sozialdemokrat*innen oder Juden und Jüdinnen teil, auch, weil sie sich durch ihre Beteiligung ein höheres Maß an Anerkennung erhofften.5 Diese allgemeine Hochstimmung zu Kriegsbeginn 1914 wird auch als Augusterlebnis bezeichnet. So viel in den Monaten der globalen Entwicklung der Corona-Pandemie passierte und weiterhin passieren wird: die euphorische öffentliche Solidarisierung von deutschem Staat und Gesellschaft Anfang 2020 möchte ich analog als Märzerlebnis bezeichnen. Denn auch hier war die behauptete umfassende Solidarität nicht nur ungewöhnlich — sondern auch äußerst fragwürdig.

Je weiter der März 2020 zurückliegt, umso erstaunlicher scheint mir nämlich, mit welcher Geschwindigkeit und welchem Enthusiasmus die Menschen den Vorschlägen und Anweisungen der Regierung Folge leisteten. Und zwar auch jene Bevölkerungsteile, deren Angehörige nur wenige Wochen zuvor beim größten rassistischen Mord der Nachkriegsgeschichte in Hanauer Shishabars ermordet wurden und die zweifelsohne auch in Zukunft weiterhin als »Integrationsprobleme« bezeichnet werden würden. Dieser Gehorsam gilt übrigens auch für mich, denn ich begab mich zu einem Zeitpunkt in Selbstisolation, zu dem die meisten Menschen um mich herum noch zur Arbeit gingen. Meine Veranstaltungen waren abgesagt worden, die Arbeit an diesem Buch machte die Umstellung ohne größere Probleme möglich und die Worte der Kanzlerin und der Expert*innen schienen mir nachvollziehbar. Da kaufte ich eben für zwei Wochen Nahrungsmittel, sah meine Freund*innen nur noch über das Internet und beschränkte mich auf kurze Spaziergänge über Kreuzberger Friedhöfe, während es vor meinem Fenster Frühling wurde. Wie alle in meiner Umgebung stellte ich mein Leben im Sinne der staatlichen Maßnahmen so schnell und so grundlegend um, wie ich es noch kurz zuvor niemals für möglich gehalten hätte.

Wie gern würde ich glauben, dass ich das gemeinsam mit den 95 Prozent der Bevölkerung, die die Maßnahmen der Bundesregierung Ende März befürworteten, vor allem aus Solidarität mit den besonders bedrohten sogenannten Risikogruppen tat.6 Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Denn dieser beeindruckend kollektive Akt der Solidarisierung ergab sich nicht spontan und auch nicht einfach nur aus einer plötzlich entdeckten Menschenliebe der Deutschen heraus. Vielmehr wird derartiger »Schutz der Bevölkerung« seit Jahrzehnten und Jahrhunderten rhetorisch und politisch eingeübt — seine Kehrseite ist nicht nur die nationale Abschottung nach außen, die auch während der ersten Monate der Corona-Krise nicht nachließ, sondern außerdem der Entzug von Solidarität für diejenigen Teile der deutschen Bevölkerung, die nicht zur Gesellschaft gezählt werden oder gleichermaßen an ihr teilhaben können.

Solches Denken beschränkter Solidarität kann weltweit viele Formen annehmen, in Deutschland hat es eine ganz eigene tödliche Tradition. Die als Gemeinschaftsaufgabe beschworene und zunächst von Millionen Menschen freiwillig, bald auch durch Verordnungen geregelte persönliche Isolation verband Staat und Gesellschaft in einer spezifischen Denk- und Fühlweise, die radikal unterscheidet zwischen jenen, die staatliche Hilfe und Solidarität verdienen, und jenen, die es nicht tun. Selbstverständlich passierte das alles unter der Beteuerung der besten Absichten sowohl von Regierungsseite als auch von uns, den mit aller Glaubenskraft sich beispielhaft solidarisch wähnenden Bürger*innen.

Aber die kollektive Akzeptanz von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit, der bereitwillige Verzicht auf das Grundrecht der Freizügigkeit, die begrenzten Besuche der Angehörigen Sterbender in den Krankenhäusern und die vielen weiteren Eingriffe in Rechte und Sicherheiten eignen sich nicht als schillernde Beispiele für eine Solidarität, die Menschen in einer funktionierenden Gesellschaft füreinander empfinden können und empfinden sollten. Denn eine solche Solidarität braucht kein Bedrohungsszenario und gilt für alle gleichermaßen. Die Fähigkeit staatlicher Institutionen, unter rasanter Suspendierung bürgerlicher Freiheitsrechte schnell und entschlossen durchzugreifen, demonstrierte vor allem eines in aller Deutlichkeit: Dass etwa die seit vielen Jahren nahezu ausbleibenden Reaktionen auf Nazistrukturen in Polizei, Bundeswehr und Verfassungsschutz oder die unterlassene Hilfe für das vor den Augen der Welt elende Vegetieren der Männer, Frauen und Kinder an den Außengrenzen der Festung Europa niemals Resultate gesellschaftlichen und staatlichen Unvermögens waren — sondern ihres Unwillens.

Die Corona-Krise wirkte von Anfang an als »Kontrastmittel«, das mit den Worten der Autorin Carolin Emcke gesprochen »sichtbar macht, was in unseren Gesellschaften fehlt, was wir fahrlässig geschwächt haben, welche Ungleichheiten toleriert, wem Anerkennung verweigert wurde und...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alptraum • Antifa • Antisemitismus • Aufstehen • Aydemir • Böhmermann • Christlich • Desintegriert • Deutschland • Diskurs • Emcke • Erinnern stören • Eure Heimat ist unser Albtraum • faschistisch • Gomringer • Gorki • Grüne • Hanau • Heimat • Hensel • Hitler • Identität • Identitätspolitik • Integration • Jüdisch • Kiyak • Leitkultur • Linke • lustig • Mahnmal • Mangold • #metoo • metoo • migrantisch • Multikulti • Nazi • #ohnefolie • ohnefolie • Osten • Othmann • Panel • Passmann • Polemik • Political Correctness • politisch • postmigrantisch • Rassismus • Salzmann • Sarrazin • Schönheit • Sebald • Sozial • Stanisic • Stokowski • Streit • Talkshow • Trigger • Verbrecher • whiteness • will
ISBN-10 3-446-26864-2 / 3446268642
ISBN-13 978-3-446-26864-7 / 9783446268647
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