Generation haram (eBook)

Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
192 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07220-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Generation haram - Melisa Erkurt
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'Das Buch von Melisa Erkurt sollte Lektüre werden in der Ausbildung von Pädagog*innen und Lehrkräften. Es zeigt präzise, pragmatisch, konstruktiv die Verfehlungen und Unwegsamkeiten der Bildungssysteme, in denen viele Kinder aus 'bildungsfremden' Familien auf der Strecke bleiben ... Eine Wucht!' Sa?a Stani?ic
Melisa Erkurt ist als Kind mit ihren Eltern aus Bosnien nach Österreich gekommen. Sie hat studiert. Sie arbeitet als Lehrerin und Journalistin. Sie hat es geschafft. Doch sie ist eine Ausnahme. Denn am Ende eines Schuljahres entlässt sie die Klasse mit dem Wissen, dass die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler nie ausreichend gut Deutsch sprechen werden, um ihr vorgezeichnetes Schicksal zu durchbrechen. Hier wächst eine Generation ohne Sprache und Selbstwert heran, der keiner zuhört, weil sie sich nicht artikulieren kann. Über den 'Kulturkampf' im Klassenzimmer befinden einstweilen andere. Melisa Erkurt leiht ihre Stimme den Verlierern des Bildungssystems. Nicht sie müssen sich ändern, sondern das System Schule muss neue Wege gehen.

 Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, war Redakteurin beim Magazin biber und zwei Jahre mit dem biber Schulprojekt 'Newcomer' an Wiener Brennpunktschulen unterwegs. Erkurt unterrichtete an einer Wiener AHS, war Redakteurin beim ORF Report (Innenpolitik) und leitet seit Jänner 2021 das Medienprojekt 'die_chefredaktion'. Sie schreibt eine wöchentliche Kolumne im Falter und ihre Kolumne in der taz heißt 'Nachsitzen'.

Melisa Erkurt, geboren 1991 in Sarajevo, war Redakteurin beim Magazin biber und zwei Jahre mit dem biber Schulprojekt »Newcomer« an Wiener Brennpunktschulen unterwegs. Erkurt unterrichtete an einer Wiener AHS und ist seit September 2019 Redakteurin beim Report (Innenpolitik) im ORF. Sie schreibt eine wöchentliche Kolumne im Falter und ihre Kolumne in der taz heißt »Nachsitzen«.

»Wie Melisa Erkurt in ihrem klugen, realistischen Buch ›Generation haram‹ beeindruckend schildert, sind wir dabei, eine Generation ›ohne Sprache und Selbstwert‹ zu erzeugen.«
Hans Rauscher, Der Standard, 26.08.20

»›Generation Haram‹ist ein gesellschaftspolitisches Buch, das jede*r lesen sollte, die*der nur irgendwas mit Bildung zu tun hat - und das schließt sowohl Eltern als auch (ehemalige) Schüler*innen mit ein.«
Wienerin, 19.08.20

»Melisa Erkurt hat mit ihrem Buch ›Generation Haram‹ einen Nerv getroffen.«
Martin Tschiderer, Wiener Zeitung, 21.08.20

»Melisa Erkurt nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Nicht auf Twitter, nicht in ihren Kolumnen im Falter und bei der taz, nicht impersönlichen Gespräch. Sie formuliert und argumentiert präzise, jeder Satz ein Treffer.«
Carmen Baumgartner-Pötz, Tiroler Tageszeitung, 15.08.20

»Erkurts Buch ist mit einer argumentativen Dichte und gleichzeitig mit einem Furor geschrieben, die ihresgleichen suchen. Es sollte Pflichtlektüre sein für alle, die sich an Bildungspolitik bzw. den Diskussionen darüber beteiligen – und am besten gleich auch für jedwede Pädagogin und jedweden Pädagogen.«
Simon Hadler, orf.at, 18.08.20

»Wer auf kurzweilige Unterhaltung mit einer fein dosierten Mischung aus Tragik und Komik aus ist kommt ebenso auf seine Kosten wie jemand, der zum Nachdenken, Reflektieren und Zweifeln angeregt werden oder ein bisschen Geschichtsunterricht erhalten will.«
Köksal Baltaci, Die Presse, 18.08.20

Das Privileg, eine Heimat zu haben


Österreich, der Rassismus und ich

Meine Mutter flüchtete mit mir als Baby vor dem Bosnienkrieg nach Österreich. Sie war damals ungefähr so alt wie ich heute, als sie mit mir im Arm zur Busstation rannte. Wir hätten auf dem Weg dorthin jeden Moment von Snipern erschossen oder von einer Bombe getroffen werden können. Die ersten Male, als sie es versuchte, fuhr der Bus nicht oder war schon überfüllt, sodass sie Tag für Tag wiederkommen musste, immer der Gefahr ausgesetzt, auf dem Weg zur Busstation zu sterben, wie die Frauen und Kinder, deren Leichen sie in den Gassen liegen sah.

Ich erzähle das deshalb an dieser Stelle so genau, weil ich heute, wenn ich meine Mutter beobachte, wie sie etwas völlig Alltägliches macht, zum Beispiel Blumen gießt, nicht glauben kann, dass sie das alles erlebt hat und jetzt ein normales Leben führt und dass sie, seit dem ersten Tag, seit dem wir in Österreich sind, funktioniert. Weil ich im Laufe der letzten Jahre auf Jugendliche getroffen bin, die in Syrien und Afghanistan dasselbe gesehen und durchgemacht haben wie meine Mutter. Die eine noch schlimmere Fluchtroute hinter sich haben als wir, die dann plötzlich vielleicht sogar ohne Eltern und völlig allein in Österreich sind und sich jetzt auf die Schule konzentrieren und so schnell es geht Deutsch lernen sollen.

Man muss die Geschichten von Migrantinnen und Migranten kennen, um die Herausforderungen zu verstehen, vor denen sie in Österreich stehen. Egal ob sie als Kriegs- oder Wirtschaftsflüchtlinge, als Gastarbeiterkinder oder schon in der dritten Generation hier sind. Man muss das Narrativ, dass ebendiese Migrantinnen und Migranten das Problem sind, endlich umkehren und es auch aus einem anderen Blickwinkel sehen: Für autochthone Österreicherinnen und Österreicher ist Heimat eine Selbstverständlichkeit, und die meisten sind sich dieses Privilegs nicht bewusst. Sie sind aus Österreich — Punkt. Keine »Wie wäre mein Leben, wenn meine Eltern nicht ausgewandert oder geflüchtet wären«-Fragen. Keine täglichen »Erinnerungen« durch andere, dass man nicht von hier ist. Keine Sehnsucht nach einem Zuhause, das es so nie gab, das immer nur als Vorstellung existieren wird. Privilegien spürt man nicht, man spürt sie nur, wenn man sie nicht hat. Weshalb es einigen vielleicht so schwerfällt, sich in all jene, die dieses Privileg Heimat nicht haben, hineinzuversetzen.

Ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, mir die Frage nach meinem Zuhause zu beantworten.

Meine Eltern kommen aus Bosnien, ich bin dort geboren. Sie haben ihre Heimat verloren und die Menschen, die sie dort waren. Aber zumindest hatten sie mal eine Heimat, zumindest kennen sie das Gefühl, auch wenn sie nie die Zeit und Kraft hatten, mit mir über ihr vergangenes Leben in Sarajevo zu sprechen. So gerne würde ich mich in ihrem Sarajevo finden, dort, wohin mich manche Österreicher zurückwünschen, wenn ich etwas sage, was ihnen nicht passt — aber nichts von mir existiert in Sarajevo. Das Krankenhaus, in dem ich geboren wurde, wurde im Krieg zerstört. Das Haus, in dem ich gehen gelernt habe, sieht nicht mehr so aus wie auf den bunten Fotos von früher. Die meisten meiner Verwandten leben nicht mehr oder sind ausgewandert. Wenn mich Leute fragen, ob ich im Sommer Heimaturlaub mache, muss ich schlucken. Seit ich denken kann, ist Heimat ein Ort, zu dem ich keinen Zutritt erhalte.

Jedes Mal, wenn mich in Österreich jemand als »Ausländerin« bezeichnet, fühlt sich das wie eine Retraumatisierung an. Und in Sarajevo? Dort macht man sich über die »Diaspora«, über Menschen wie mich, lustig. Über unsere Halbsprachigkeit und den österreichischen Akzent. »Die feinen Herrschaften aus dem Westen, die glauben, sie seien etwas Besseres«, ein Hohn, denn diese »Herrschaften« sind sich nicht zu fein dafür, in Österreich Klos zu putzen und nie gut genug zu sein. Sie haben sich damit abgefunden und reden nicht zurück, genauso wenig wie sie in Bosnien zurückreden, weil sie ein schlechtes Gewissen denen gegenüber haben, die nicht fliehen konnten.

Bosnien ist ein kaputtes Land, die Arbeitslosenquote liegt laut Statistik bei über achtzehn Prozent, die Menschen sind traumatisiert, desillusioniert und zynisch. Es gibt keinen Platz für Menschen wie mich, die einen Job haben, ein gutes Leben in der Diaspora und denen trotzdem immer etwas fehlt. Jedes Mal werde ich auch dort daran erinnert, dass ich damals zwar vor dem Krieg fliehen konnte, aber niemals vor dem kleinen Kind in mir, das sich so nach einer Heimat sehnt.

Meine Mutter hätte damals eigentlich schon ahnen können, welche Probleme in Österreich auf uns zukommen werden. Ihre Eltern waren in den siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Österreich gekommen, sie besuchte hier vier Jahre lang die Hauptschule, bevor sie von ihrem Vater wieder zurück nach Bosnien geschickt wurde, um seine Mutter zu pflegen. Die Jahre, die sie in Österreich verbrachte, waren geprägt von Rassismus. Von Lehrerinnen, die ihr sagten, dass sie erst gar nicht für die Tests lernen müsste, weil ein Ausländermädchen wie sie keine Ausbildung braucht. Von Nachbarinnen, die sie beschimpften. Geschichten, die ich heute genauso von meinen Schülerinnen und Schülern gehört habe. Manche Dinge ändern sich eben nicht, wenn man sie jahrzehntelang nicht anspricht.

Von diesen Diskriminierungserfahrungen erzählte meine Mutter mir nichts, bis ich mit ihr als Erwachsene über den Rassismus, der mir begegnete, sprach. Heute sagt sie, dass sie damals alles hingenommen hätte, sie hätte geglaubt, dass das normal sei, sie waren ja nur zu Gast in Österreich. Das war auch ihre Einstellung, als sie zwanzig Jahre später wieder in Österreich ankam — diesmal als Kriegsflüchtling und dankbarer als je zuvor, das Leben ihrer kleinen Tochter, mir, in Sicherheit zu bringen.

Ich hörte meine Mutter in all den Jahren nicht einmal über Diskriminierung klagen. Ich erfuhr am eigenen Leib, wie sich Rassismus anfühlte, dass es einen Begriff für das gibt, was mir da widerfährt, habe ich erst viel später gelernt. Ich glaubte lange, dass mit mir etwas nicht stimmte, weil ich aufgrund meiner Herkunft angefeindet und anders behandelt wurde, ich war überzeugt, dass ich etwas falsch machte.

Also hörte ich irgendwann auf, in der Öffentlichkeit mit meiner Mutter Bosnisch zu reden, ich hörte eine Zeit lang komplett auf zu sprechen, zum Teil aus Angst davor, ausgelacht zu werden, wenn ich ein Wort auf Deutsch falsch ausspreche. Später als Teenagerin glättete ich mein lockiges Haar und zupfte meine dicken, dunklen Augenbrauen, für die ich von den anderen gehänselt wurde. Bloß nicht als »anders« auffallen, nur dann hast du vielleicht die Chance, es in Österreich zu schaffen. Nur dann lassen dich die anderen mit ihren Bemerkungen in Ruhe, und du kannst dich voll und ganz auf deine Zukunft konzentrieren, nahm ich damals mit.

»Du musst doppelt so hart arbeiten, um dieselben Chancen wie Österreicher zu bekommen«, sagte mir meine Mutter. Ich drängte meine bosnische Identität fast völlig in den Hintergrund — nur wer sich assimiliert und völlig verausgabt, bekommt womöglich die Chance, das vorgezeichnete Schicksal eines Migranten in Österreich zu durchbrechen. So war es zu meiner Zeit, so ist es auch heute.

Ich wusste damals nicht, dass diese Diskriminierung von Menschen anderer Herkunft und anderen Glaubens einen Namen und Geschichte in Österreich hat. Wie sollte ich auch, wenn niemand mit mir darüber sprach, weder meine Eltern, die einfach nur irgendwie durchkommen wollten, noch die Mehrheitsgesellschaft, die sich ja auch heute noch schwertut, Diskriminierungserfahrungen von Migrantinnen und Migranten klar als Rassismus zu benennen. Seit Jahren weigert man sich, einen Begriff für die Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen zu akzeptieren. Islamophobie, antimuslimischer Rassismus — diese Begriffe würden bloß Kritik am Islam im Keim ersticken, so der Grundtenor. Für mich steckt etwas anderes dahinter: Wenn es kein Wort dafür gibt, dann gibt es das auch nicht. Die deutsche Autorin Kübra Gümüşay schreibt in ihrem Buch »Sprache und Sein«: »Indem wir einen Missstand benennen, geben wir ihm einen Raum, machen ihn begreifbar. Erfahrungen bleiben nicht länger namenlos, unsagbar.« Wenn man im Deutschen keinen Begriff akzeptiert, der die Diskriminierung von Musliminnen und Muslimen beschreibt, leugnet man, dass sie zur größten Gruppe gehören, die in Österreich von Rassismus betroffen ist.

Rassismus ist ein politisches Problem und kann also auch nur politisch gelöst werden. Was Musliminnen und Muslimen an Hass widerfährt, nicht klar mit einem eigens dafür kreierten Begriff zu benennen, ist ein...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Alma Zadic • Ausbildung • Biber • Bildung • Bildung als Provokation • Bildungssystem • Bosnien • Brennpunktschulen • Falter • Islam • Konrad Paul Liessmann • Kulturkampf im Klassenzimmer • Lehrer • Migration • niki glattauer • #ohnefolie • ohnefolie • Österreich • Pädagogen • Politik • report • Saša Stanišić • Schule • Susanne Wiesinger
ISBN-10 3-552-07220-9 / 3552072209
ISBN-13 978-3-552-07220-6 / 9783552072206
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