Irrwege -  Till Randolf Amelung

Irrwege (eBook)

Analysen aktueller queerer Politik
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2020 | 1. Auflage
Querverlag
978-3-89656-669-0 (ISBN)
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Das Engagement für die Rechte sozialer Minderheiten sieht sich immer stärkerer Kritik ausgesetzt. Es gehe bloß um 'Identitätspolitik', die an einem nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel nicht interessiert sei. Das sind Folgen eines poststrukturalistisch geprägten Theorie- und Politikverständnisses. Die Rolle der Sprache wird übermäßig betont - die soziale Realität gerät in den Hintergrund. Diese Entwicklung wird in allen Feldern der Antidiskriminierungs- und Menschenrechtspolitik unter dem Modewort 'Intersektionalität' forciert. Dieser Sammelband befasst sich mit den Auswirkungen, die sich für queere Politik ergeben. Mit 10 Beiträgen und ihren Autor_ innen, die exemplarisch dafür stehen, dass nicht jede_r den Glauben an die Kraft kritischer Analysen und Auseinandersetzungen begraben hat. Mit Beiträgen von Till Randolf Amelung, Paula Busch, Ingo Elbe, Petra Klug, Eszter Kováts, Aaron Lahl, Patsy l'Amour laLove, Sabri Deniz Martin, Vojin Sa?a Vukadinovi?, André Windhorst und Sonja Witte

Till Randolf Amelung ist freiberuflicher Autor und Referent. Er hat Geschlechterforschung und Geschichtswissenschaften in Göttingen studiert. Beruflich beschäftigte er sich zuletzt vor allem mit geschlechtersensibler Gesundheitsversorgung sowie Diversity und Intersektionalität. Darüber hinaus hat er 10 Jahre Erfahrungen im LSBTI-Aktivismus hinter sich. Missstände in Wissenschaft und Aktivismus stehen im Zentrum seiner Kritik und haben ihn bereits zur Beteiligung an Beißreflexe motiviert. Texte von ihm sind in ausgewählten Sammelbänden und Medien wie der Jungle World, der Siegessäule, auf queer.de sowie Queerspiegel - dem queeren Blog des Tagesspiegels erschienen. Im März 2020 gab er den Sammelband Irrwege - Analysen aktueller queerer Politik heraus.

Diffamierung als Selbstentblößung


Ein Rückblick auf die Beißreflexe-Debatte

Sabri Deniz Martin

Der beim Berliner Querverlag 2017 erschienene Sammelband Beißreflexe hat seit beinahe drei Jahren die deutschsprachigen Auseinandersetzungen rund um „queer“ geprägt. Eine Fülle von Debattenbeiträgen lässt es als sinnvoll erscheinen, die erste Bilanz zu ziehen. Von der Ausgangssituation, der zündenden Idee zum Buch, über dessen Rezeption im außer- wie inneruniversitären queeren Aktivismus sowie im Feuilleton, bis hin zu diversen Vorträgen, Seminaren und Kongressen, versucht dieser Beitrag, die wichtigsten Etappen abzubilden – und sie nicht unkommentiert zu lassen, wo der Text nicht von selbst eine klare Sprache spricht.

Das enge Korsett des Queerfeminismus

Aber was meint „queer“ heutzutage eigentlich? Einst war „queer“ ein Schimpfwort für alle, die von den Begehrens-, Geschlechter- und Körpernormen abgewichen sind. Darunter fielen vor allem LSBTIs – Lesben, Schwule, Bisexuelle und trans- oder intergeschlechtliche Menschen. In den USA eigneten sich homosexuelle Bewegungen, spätestens in der Anti-Aids-Bewegung der 1980er und 1990er Jahre, „queer“ als politische Selbstbezeichnung an. Über gemeinsame Bewegungs- wie Diskriminierungserfahrungen und eine Vielzahl akademischer Arbeiten ist „queer“ heute mit etlichen weiteren, über LSBTI hinausweisenden Themen verknüpft. Darunter fallen Bestrebungen, Binaritäten wie heterosexuell/homosexuell, weiß/schwarz, männlich/weiblich aufzulösen und sich überkreuzende, gleichzeitige und aufeinander bezogene Unterdrückungsverhältnisse abzubauen, die mit Gruppenkategorien wie age, class, race oder sex und gender näher bestimmt werden (Engel et al. 2005). Übersetzungen ins Deutsche könnten hier fehlleiten, denn im Vordergrund stehen die Wortbedeutungen aus der englischsprachigen Debatte, die auf die sozialen Implikationen dieser Kategorien fokussieren. Gemeint sind mit ihnen zusammenhängende Identifikationen, Rollen, Erwartungen, Wahrnehmungen, Zuschreibungen, Naturalisierungen, Institutionalisierungen, Habitus usw. Diese werden als sozial konstruiert und damit als wandelbar verstanden. Ihre Dekonstruktion ist daher zentral. Ziel ist es, Selbstdefinitionen und Diversität zu ermöglichen und anzuerkennen sowie geteilte Erfahrungen und politische Forderungen bestimmter Gruppen deutlicher artikulieren zu können. Zudem wird jedem Einzelnen eine soziale Position als Knotenpunkt solcher Machtverhältnisse zugeordnet. Das kann der Selbstreflexion dienlich sein.

Im gegenwärtigen queeren Aktivismus, Stichwort Queerfeminismus, können jedoch aus Selbstdefinitionen und sozialen Positionen die sogenannten Identitäten gerinnen, die allzu oft autoritär genutzt werden (EMMA 2017). Aus ihnen kann abgeleitet werden, wer warum, wie, wann und wo etwas sagen oder tun darf und wer nicht. Das soll zwar einerseits verhindern, Marginalisierte oder Verletzbare zu triggern, zu traumatisieren, zu diskriminieren oder zu übergehen und ist mit der Forderung verknüpft, dass eine bestimmte Identität (mehr) Anerkennung findet. Andererseits können daraus aber Denk- und Sprechverbote resultieren. Obgleich die queere Theorie einen solchen „positionalen Fundamentalismus“ ablehnt, wie die Gender Studies-Professorinnen Paula-Irene Villa und Sabine Hark meinen, hat er seinen festen Platz im Aktivismus (Hark, Villa 2017: 26; Villa 2017a).

Solche Identitäten können außerdem wieder und wieder dekonstruiert und neu benannt werden. Dieser Prozess mag durchaus mit der Lebensrealität übereinstimmen. Im queeren Aktivismus verbindet sich damit allerdings die Forderung nach einer stetig kleinteiliger werdenden Vereindeutigung menschlichen Lebens (vgl. Bauer 2018). „LSBTI“ sind demnach veraltete und damit problematische Kategorien, „Q*“ ist hingegen in und korrekt. Dekonstruiert werden neben Binaritäten oder Unterdrückungsverhältnissen auch bindende, universale Normen, die ein menschenwürdiges Zusammenleben abbilden könnten, weil sie, wie beispielsweise mit der Deklaration der Menschenrechte geschehen, von westlichen, nordatlantischen Gesellschaften geprägt worden sind, die allesamt keine weiße Weste haben – nicht aber, weil sie inhaltlich schlecht wären. Über diese Grundproblematik öffnen sich im inner- wie außerakademischen Bereich neben notwendigen neuen Sichtweisen und Bewertungen auch antiemanzipatorischer Theorie und autoritärem Aktivismus Tür und Tor.

Bei mangelnder Ambiguitätstoleranz wird dieses Vorgehen besonders prekär. Wenn die Fähigkeit fehlt, auf Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten, Vagheiten oder Unangenehmes nicht direkt emotional, wertend oder gar eindeutig zuordnend zu reagieren und erstmal die Lage zu sondieren, sind Fremddefinitionen schnell aus dem vorhandenen Denkmaterial abrufbar. Was oder wer als politisch problematisch gilt, kann unter diesen Umständen über die verfügbaren Kategorien der Identitätsbildung rasch auf einer Position festgenagelt und abgeurteilt werden. Ein solches Urteil läuft beinahe reflexartig ab, weshalb man von einem Beißreflex sprechen kann. Alles ist im Handumdrehen vereindeutigt und auf eine allgemeine Ebene gehoben, etwa auf die der (imaginierten) Freund- und Feindallianzen, der Community, der Solidarität oder, noch abstrakter, auf die des allgemeinen Plurals.

Breitenwirksame Selbstkritik an diesen Zuständen hat die queerfeministische Szene bisher auch deshalb nicht geleistet, weil sie sich Kritik oftmals nur als Hetze vorstellen kann – und das beschreibt ein weiteres zentrales Problem: In der Szene wird sozial geächtet, wer sich nicht entsprechend der eigenen Position als von allen Ambiguitäten befreiter reiner, achtsamer, gewissenhafter „queerer Unschuldsengel“ (Rehberg 2017) in Sprache, Verhalten und Handeln beweisen kann oder wer den ideologischen Konsens beispielsweise mit eigenen Deutungen und Interpretationen stört. Zugehörigkeitsbekundungen sind hingegen gerne gesehen. Verstöße gegen die daraus resultierenden Tabus und Sprechverbote werden mit Sanktionen, Verboten und sozialen Ausschlüssen geahndet. Handlungsfähigkeit, eigenes Denken und damit domestizierender Zweifel sind in diesem engen Kitt eingeschränkt.

Beißreflexe bricht mit dem Status Quo

Das hat zu immer heftigeren Zerwürfnissen in der queerfeministischen, feministischen und LSBTI-Szene in Berlin und darüber hinaus geführt. In dieser Gemengelage ist die Idee des Buchprojekts Beißreflexe entstanden, dessen Anspruch es war, diesen starken Tendenzen entgegenzuarbeiten. Der Sammelband, herausgegeben von Patsy l’Amour laLove, ist im März 2017 mit insgesamt 26 Artikeln, Essays, Erfahrungsberichten und Interviews als zweiter Teil der sogenannten Kreischreihe im Berliner Querverlag erschienen. Beißreflexe thematisierte erstmalig die oben genannten und viele weitere Unzulänglichkeiten in queerer Theorie und queerem Aktivismus in gebündelter Form und benannte konkrete Vorfälle. Besprochen wurden Phänomene wie Betroffenheitspolitik, der moralinsaure, ideologische Umgang mit Alltäglichem wie mit Andersdenkenden, Lustfeindlichkeit, Privilegien- und Verbotsdenken und Sprachregelungen. Außerdem ging es um die Relativierung sexueller Gewalt über die unangemessene Verwendung fachpsychologischen Vokabulars, aktivismusnahe Konzepte kultureller Aneignung, subjektfeindliche und antihomosexuelle queere Ansätze. Nicht unerwähnt blieben die Betätigung queerer AktivistInnen in der antisemitischen BDS-Bewegung, Pinkwashing-Vorwürfe gegenüber Israel, die Renaissance antiimperialistischer Ideologie und das Unvermögen, die Kritik der Heterosexualität mit der Kritik von Rassismus und Religiosität zusammenzuführen, wodurch beispielsweise der politische Islam in Schutz genommen wird.

Beißreflexe erntete zwar vielseitiges, manchmal vorsichtigeres, manchmal expliziteres Lob dafür, Aufmerksamkeit für Probleme in der queerfeministischen Szene generiert zu haben, die seit Jahrzehnten auf keine produktive Weise verhandelt worden sind. Doch kam die schärfste Abweisung aus dieser Szene selbst. Sie störte sich vordergründig am bestimmten, unversöhnlichen, teils gar unfreundlichen Ton als auch an den Zuspitzungen und Polemiken einzelner Texte. Das wurde und wird zum Anlass genommen zu unterstellen, es ginge den Beteiligten nicht um einen kritischen Dialog, sondern nur darum, SzeneaktivistInnen zu verletzen und ein reaktionäres Publikum zu bespielen. Der Sammelband setze jedoch dort an, wo Linke besonders empfindlich seien, wie Nora Caótica in der Szenezeitschrift Phase 2 ausführte, nämlich „bei ihren Versuchen, emanzipatorisch zu handeln, und ihrem Scheitern in autoritären Gesten“ (Caótica 2018). Das mache ihn lesenswert, impulsgebend für eine fruchtbare Debatte, könnte aber einen weiteren Grund fürs Ausbleiben inhaltlicher Auseinandersetzungen mit der Kritik seitens der AdressatInnen bedeuten.

Tatsächlich ist trotz dieser Steilvorlage in Buchform die inhaltliche Ebene kaum gemeinsam verhandelt worden. Eine ausgearbeitete Gegenposition, die den Beiträgen insgesamt in ihrer Breite wie einzeln in ihrer oftmals theoretischen Komplexität gerecht wird, ist bis dato nicht zu finden. Der allzu oft gewählte Modus des Widerspruchs war es vielmehr, öffentlich auf die Tränendrüse zu drücken, die beleidigte Leberwurst zu spielen und den AutorInnen – durchaus...

Erscheint lt. Verlag 29.5.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-89656-669-5 / 3896566695
ISBN-13 978-3-89656-669-0 / 9783896566690
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