Krieg im Orient (eBook)
272 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00759-8 (ISBN)
Seit 1980 berichtete Ulrich Tilgner als Korrespondent aus dem Nahen und Mittleren Osten. Von 1986 bis 2001 hatte er sein Bu?ro in Amman in Jordanien, danach leitete er das ZDF-Bu?ro in Teheran und war Sonderkorrespondent des ZDF. Ab April 2008 berichtete Tilgner hauptsächlich fu?r das Schweizer Fernsehen aus der Region. Mehrere Buchveröffentlichungen, darunter «Der inszenierte Krieg. Täuschung und Wahrheit beim Sturz Saddam Husseins» (2004), das zum Bestseller wurde.
Seit 1980 berichtete Ulrich Tilgner als Korrespondent aus dem Nahen und Mittleren Osten. Von 1986 bis 2001 hatte er sein Büro in Amman in Jordanien, danach leitete er das ZDF-Büro in Teheran und war Sonderkorrespondent des ZDF. Ab April 2008 berichtete Tilgner hauptsächlich für das Schweizer Fernsehen aus der Region. Mehrere Buchveröffentlichungen, darunter «Der inszenierte Krieg. Täuschung und Wahrheit beim Sturz Saddam Husseins» (2004), das zum Bestseller wurde.
Wo stehen wir heute
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde versucht, mit der Entsendung von Experten oder Geldzahlungen Unterentwicklung zu beseitigen. Offiziell wurden derartige Maßnahmen «Entwicklungshilfe» genannt, später wurde dieser Begriff durch «Entwicklungszusammenarbeit», danach durch «Wirtschaftliche Zusammenarbeit» ersetzt. Die unterschiedlichsten Konzepte und Bemühungen, durch staatliche Initiativen Unterentwicklung zu bekämpfen oder wirtschaftliche Probleme zu lösen, sind im Großen und Ganzen gescheitert. Jetzt will die Privatwirtschaft die Probleme angehen, bei deren Überwindung selbst reiche Staaten versagt haben. Zunehmend sollen Stiftungen die weltweite Armut und das globale Elend reduzieren, Superverdiener wollen einen Teil ihrer Einkommen dafür einsetzen, um Ungleichheit zumindest abzuschwächen. Nur wird die Unterentwicklung in Wirklichkeit nicht abgebaut, vielmehr vergrößert sie sich. Unterschiedliche Stiftungen schaffen zwar Arbeitsplätze in den entwickelten Zentren, können aber die Unterentwicklung insgesamt nicht mindern und schon gar nicht beseitigen.[1] Sie werden auch nicht die ungleiche Entwicklung unterschiedlicher Teile des Planeten verhindern können.
Denn ein großer Teil von privatwirtschaftlich bereitgestellten Geldern wird bereits in den Industriestaaten ausgegeben. Zudem handelt es sich vielfach um Propagandaaktionen gegen Forderungen, Gewinne zu versteuern oder die Spitzensteuersätze zu erhöhen. Dabei kann nur abgeschöpfter Reichtum und dessen globale Umverteilung zunehmende Ungleichheit rückgängig machen.
Die Debatte um das Verbot von Rüstungsexporten verdeutlicht, wie Industrieländer versuchen, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Eine Behauptung lautet, es sei falsch, ein Verbot der Ausfuhr zu fordern, da kein Zusammenhang zwischen den steigenden Waffenexporten und der Zunahme von Kriegen in den ärmsten Gebieten der Welt bestehe. Oft heißt es in diesem Zusammenhang, Kriege und Konflikte würden weltweit abnehmen. Hierbei wird die vergleichsweise friedliche Entwicklung der Industriestaaten zum Maßstab genommen. Man übersieht dabei aber, dass bewaffnete Konflikte heute meist außerhalb der Grenzen dieser Staaten geführt werden. Gegner des Verbots von Rüstungsexporten begründen ihre Haltung oft mit Argumenten, die jegliche moralische Verantwortung für das eigene Handeln leugnen. So heißt es zum Beispiel, ein Exportverbot der deutschen Regierung könne nicht unterbinden, dass die Waffen stattdessen von anderen Staaten geliefert würden. Zudem seien nicht die waffenliefernden Exportstaaten, sondern die beteiligten Parteien für den Ausbruch von Kämpfen und bewaffneten Konflikten verantwortlich zu machen.
Der jahrzehntelange Aufenthalt in einer anderen Kultur und das Kennenlernen anderer Lebensweisen hat mich in der Ansicht bestärkt, dass Interessen in der Regel auf unterschiedlichen Einstellungen und Bewertungen gründen. Oft trägt auch räumliche Distanz zu einer abweichenden Bewertung bei. So verlieren Tote, die nicht zum eigenen Kulturkreis zählen, an Bedeutung. Je weiter weg ein Todesfall sich ereignet, desto weniger berührt er uns. Ereignisse, von denen man sich nicht direkt bedroht fühlt, werden nicht als relevant angesehen.
Diese einfache Einsicht habe ich erst nach einigen Umwegen entwickeln können. Zuerst musste ich mir eingestehen, dass die Wirklichkeit ganz anders war, als ich es erwartet hatte. Einen ersten richtigen Kulturschock erlebte ich 1983 in Jordanien, als mir bewusst wurde, dass ich meine Freizeit nahezu täglich mit Männern verbrachte, deren Ehefrauen ich niemals kennenlernen würde. Aber diese Beobachtung darf nicht dazu führen, die in der eigenen Heimat fehlende Gleichberechtigung der Geschlechter zu beschönigen, nur weil es anderswo darum noch schlechter bestellt ist. Vielmehr ist es wichtig, eine Sensibilität dafür zu entwickeln, dass Überlegenheit in einzelnen Bereichen mit Unterlegenheit in anderen gepaart ist.
Während meiner Arbeit als Journalist ist mir zunehmend klar geworden, dass immer unterschiedliche Sichtweisen auf die- selben Vorgänge bestehen. Dies mag ein Allgemeinplatz sein, aber er entwickelt Sprengkraft, wenn es um die Wertung von Vorgängen oder Entwicklungen geht, die sich weit weg vom eigenen Lebensbereich abspielen. Voreingenommene Überzeugungen beruhen auf den eigenen Einschätzungen, wie sie zu Hause üblich sind, und widersprechen oft den tatsächlichen Verhältnissen. Das «Andere» ist anders, als man normalerweise denkt.[2]
Die Ursachen dieser subjektiven Sichtweise gehen weit über den Umstand hinaus, dass Beobachter an voneinander entfernten Orten eine unterschiedliche Wahrnehmung von derselben Situation haben. Das Beispiel des Todes wird höchst brisant, wenn es um den eigenen geht. Im Orient und in weiten Teilen der islamischen Welt wird der Tod meist als eine das Leben begrenzende Normalität angesehen. Da niemand weiß, wann das eigene Ende kommt, wird das Überirdische bemüht. Die Lebensdauer, so meint man, sei vorherbestimmt, weil Gott es so wolle. Dessen Allmacht sei entscheidend.
Hinter dieser Haltung Gleichgültigkeit zu vermuten oder auch nur die mangelnde Bereitschaft zur Gestaltung des eigenen Lebens zu sehen, führt in die Irre. Auch gläubige Moslems sehen die Begrenztheit und Zerbrechlichkeit des Lebens. Völlig absurd wird es, wenn im Krieg die Tötung von Zivilisten billigend in Kauf genommen wird, weil es sich um Moslems handelt.[3] Natürlich hängen auch sie an ihrem Leben, und viele von ihnen versuchen, es zu verlängern. Aber sie verdrängen den Tod nicht und sind sich bewusst, dass er auch überraschend kommen kann und jeder Mensch gerade deshalb auf ihn vorbereitet sein sollte.
Die Rückkehr in meinen ursprünglichen Kulturkreis hat mir 2013 die Augen weiter geöffnet. Waren für mich «Andere» normale «Gläubige», so waren sie für Landsleute abzulehnende «Flücht- linge», die «uns» langfristig zu «dominieren» und zu «überlagern» drohen. Es ist kein Zufall, dass die Ausländerfeindlichkeit dort besonders groß ist, wo es keine oder kaum Fremde gibt.
Die seit 2015 verstärkt geführte Debatte über Flüchtlinge verfolge ich mit Schrecken. Obwohl Politiker Migrationsbewegungen unterbrechen und gegen Schutzsuchende tödliche Barrieren errichten lassen, werden sie von fremdenfeindlichen Bürgern beschimpft und kritisiert, nichts gegen den Zuzug von Fremden zu unternehmen. Menschen wird außerhalb Europas, fern von den eigenen Wählern, die Freizügigkeit verweigert. Flüchtlinge werden dort gestoppt und müssen beim Versuch, sich in Sicherheit zu bringen, aufs Schlimmste leiden, werden nicht selten misshandelt und sterben.[4]
Mit Schiffbrüchigen im Mittelmeer existiert immerhin eine begrenzte Solidarität, und auf dort Ertrunkene wird mit Betroffenheit reagiert. Dagegen werden Menschen, die beim Versuch, die Wüste Sahara zu durchqueren, verdursten, in der Regel nicht einmal mehr registriert. Die Abschottung Europas und die schwache Solidarität mit Flüchtlingen und Menschen, die ihre Heimat verlassen und sich eine neue Existenzgrundlage schaffen wollen, schockieren mich immer wieder.
US-Präsident Donald Trump hat diese Politik auf die Spitze getrieben. Gleichzeitig glaubt er, durch Verhandlungen mit Nordkorea und die Verteufelung Irans neue außenpolitische Akzente setzen zu können. Durch eine aggressive Haltung Moslems gegenüber und die Blockade des Zuzugs von Fremden will er die Privilegien von Alteingesessenen stärken und Letztere vor Konkurrenz durch Zuwanderer schützen. Eine neue Zollpolitik mit der Androhung oder der Einführung von Strafzöllen soll die Unternehmen der USA stärken. Vor allem die ärmsten Staaten der Welt werden einen zusätzlichen Preis für diese auf falsch verstandenem Nationalismus gründende Politik bezahlen.
Bei Trump handelt es sich nicht um einen Hochstapler, der durch geschicktes Taktieren zum mächtigsten Politiker der Welt geworden ist. Trump ist vielmehr der Ausdruck einer Politik, die auf der Durchsetzung von nationalen Eigeninteressen basiert und weltweit wachsenden Zuspruch findet. In Deutschland wird diese Tendenz im weiteren Erstarken der AfD sichtbar, deren Gründung (2013) und Aufstieg vor dem Amtsantritt Trumps begann. Für mich handelt es sich um die Spitzen eines Eisbergs, denn eine Politik, die den Zweck verfolgt, «weiße» Vorherrschaft zu verteidigen, ist auch in anderen Parteien verbreitet.[5]
Diese Politik, die letztlich eine angebliche Überlegenheit der «weißen Rasse» behauptet, verschweigt, dass Europäer die Welt kolonialisiert und ausgebeutet haben. Menschen, die Flüchtlinge abweisen, leugnen den Zusammenhang zwischen dem eigenen Wohlstand und dem Elend in anderen Teilen der Welt. Sie sind entschlossen, diesen Wohlstand mit allen Mitteln zu verteidigen, und wollen sich an der Unterwerfung und Ausbeutung von Menschen in anderen Erdteilen bereichern.[6] Wohlstand allein auf das Ergebnis eigener harter Arbeit zurückzuführen, verhindert nicht nur das Erkennen der wirklichen Zusammenhänge, sondern verdeckt auch den Grund, warum der Reichtum zwischen unterschiedlichen Gesellschaften unterschiedlich verteilt ist.
Die europäische und damit westliche Politik im Orient ist seit Jahrhunderten von Gewalt geprägt. Im Zeitalter des Kolonialismus wurde der Orient vor allem britischen und französischen Interessen unterworfen. Bereits den Kreuzzügen des Mittelalters lagen nicht nur religiöse Absichten zugrunde. Sie galten auch dem Zweck, Märkte zu erschließen und Handelswege zu kontrollieren. Zwischen 1500 und 1800 (Zeitalter des...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2020 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Afghanistan • Arabien • Arabischer Frühling • Bürgerkrieg • Internationale Politik • Irak • Iran • Iran-Konflikt • Islamische Republik • Islamischer Staat • Islamismus • Krieg • Mittlerer Osten • Naher Osten • Öl • Syrien • Taliban • USA |
ISBN-10 | 3-644-00759-4 / 3644007594 |
ISBN-13 | 978-3-644-00759-8 / 9783644007598 |
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