Terror gegen Juden (eBook)
250 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8016-5 (ISBN)
Ronen Steinke, Dr. jur., geboren 1983 in Erlangen, ist Leitender Redakteur und Kolumnist bei der Süddeutschen Zeitung. Er studierte Jura und Kriminologie, arbeitete in Anwaltskanzleien, einem Jugendgefängnis und beim UN-Jugoslawientribunal in Den Haag. Seine Promotion über die Entwicklung der Kriegsverbrechertribunale von Nürnberg bis Den Haag wurde von der FAZ als »Meisterstück« gelobt. Seine 2013 veröffentlichte Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, wurde mit »Der Staat gegen Fritz Bauer« preisgekrönt verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Im Berlin Verlag erschien 2017 sein hochgelobtes Buch »Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin«. 2020 folgte »Terror gegen Juden. Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt«, 2022 der Bestseller »Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich. Die neue Klassenjustiz« und 2023 »Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht«.
Ronen Steinke ist Redakteur und Autor der "Süddeutschen Zeitung". Seine Doktorarbeit über Kriegsverbrechertribunale von 1945 bis heute wurde von der FAZ als "Meisterstück" gelobt. Im Piper Verlag erschien seine Biografie über Fritz Bauer, den mutigen Ermittler und Ankläger der Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die mit "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015) preisgekrönt verfilmt wurde. Im Berlin Verlag erschien 2017 "Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin". Beide Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Blaming the victims
Wie beim NSU
»Mich. Meinen Sohn. Alle.«
Josef Jakubowicz, Holocaust-Überlebender, auf die Frage, wen das Bayerische Landeskriminalamt verdächtigte, etwas mit dem Mord an dem jüdischen Verleger Shlomo Lewin 1980 zu tun zu haben. Er war nicht der einzige Jude, der grundlos verdächtigt wurde.
Ein Doppelmord in Erlangen
Wir Juden reden nicht gern darüber, so werden wir erzogen, und so geben wir es weiter an unsere Kinder. Über die ständige Bedrohung wird in den jüdischen Gemeinden nicht zu offen mit Außenstehenden gesprochen. Man möchte keine Nachahmer auf den Plan rufen, heißt es, wenn wieder wohlmeinende Journalisten abgewimmelt werden, oder einfach und ehrlich: Man wolle in der Öffentlichkeit nicht immer als Opfer dastehen.
Wir klagen aber auch nicht viel über das, was dieses Problem so sehr vergrößert. Immer wieder habe ich das bei meinen Recherchen gehört: Bitte, wir wollen keine Probleme mit der Polizei und den Gerichten. Wir brauchen doch deren Hilfe.
Ich glaube, das ist ein Fehler.
Der 19. Dezember 1980 ist ein Freitag, es ist halb sieben am Abend, soeben hat der Schabbat begonnen, eine Zeit für Kerzenschein und ein Glas Wein. In einem Bungalow in der Ebrardstraße 20 nahe der Erlanger Universität sind die Jalousien heruntergelassen, so werden später die Beamten der Spurensicherung notieren. Shlomo Lewin, bis vor Kurzem Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, ist zu Hause mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke. Es klingelt, Lewin öffnet.
Sofort fallen Schüsse. Der Rechtsradikale Uwe Behrendt, 29 Jahre alt, feuert dreimal aus einer Maschinenpistole der Marke Beretta, Kaliber 9 Millimeter, mit Schalldämpfer, und als Lewin schon am Boden liegt, setzt er noch einen Kopfschuss aus nächster Nähe auf, es ist eine regelrechte Hinrichtung. Dann bemerkt der Täter offenbar Frida Poeschke, die er sofort danach im Eingang zum Wohnzimmer ebenfalls mit vier Schüssen tötet. In kürzester Zeit ist er wieder verschwunden.
So läuft es ab, das erste tödliche Attentat auf einen Vertreter der deutschen Juden nach 1945. Aber anstatt in der örtlichen Nazi-Szene zu ermitteln – die Wehrsportgruppe Hoffmann, die gerade erst vom Bundesinnenminister verboten worden ist, hat ihre Zentrale ganz in der Nähe –, verdächtigt die Polizei zunächst das Umfeld des Opfers.
Die bayerischen Behörden spekulieren, der Mossad habe eine Rolle gespielt, Israels Auslandsgeheimdienst. Ein Journalist einer Nachrichtenagentur zitiert noch am Abend »informierte Kreise« mit der Vermutung, der Tote sei ein Agent gewesen.
Die erste Frage, die der zuständige Staatssekretär im Bonner Bundesinnenministerium nach der Tat stellt, zielt dann auf einen »möglichen nachrichtendienstlichen Hintergrund des Ermordeten«, wie interne Protokolle verzeichnen. Die Spezialisten des Bundesnachrichtendienstes sollten dies einmal abklären, bittet er.
Die Ermittler mutmaßen auch, Shlomo Lewin hätte im Jom-Kippur-Krieg im Jahr 1973 unter Israels damaligem Verteidigungsminister Mosche Dajan gedient. Das ist der General mit der Augenklappe, einer der verhasstesten Männer in der arabischen Welt. Die erste Schlagzeile, mit der die Leser der Erlanger Nachrichten dann von dem Mord erfahren, lautet nicht: Ex-Vorsitzender der jüdischen Gemeinde unserer Stadt ermordet. Sondern: »Ex-Adjutant Mosche Dajans hingerichtet«. Als wäre es eine Kriegshandlung. Nahöstliche Rache. Fremde unter sich.
Es ist Unsinn, in Wahrheit hat Lewin schon seit 1960 in Süddeutschland gelebt und gearbeitet, als Lehrer und Verleger von Büchern zu deutsch-jüdischer Kultur. Er ist 1911 in Jerusalem geboren worden, in die Großfamilie Rivlin, die sich dort vierzehn Generationen zurückverfolgen lässt. Aber schon seit dem ersten Lebensjahr hat er im Deutschen Reich gelebt. Sein Vater, ein Rabbiner, war damals einem Ruf an eine Synagoge ins preußische Posen gefolgt.
In ihrer Ermittlung mit dem Aktenzeichen 340 Js 40387/81 beschreiben die Polizisten die beiden Mordopfer jetzt so: »Frida Poeschke, Glaubensbekenntnis: evangelisch, Staatsangehörigkeit: deutsch«. Und: »Shlomo Lewin, Glaubensbekenntnis: mosaisch«; seine Staatsangehörigkeit interessiert offenbar nicht. Dabei ist Lewin Deutscher. Sein Vater hat sich 1914 – als das Deutsche und das Russische Reich sich an die Kehle gingen – freiwillig als Feldrabbiner gemeldet, zum Dank haben er und seine Familie die Staatsangehörigkeit erhalten.
Später hat Shlomo Lewin in Köln studiert, erst auf der Flucht vor den Nazis ist er von 1938 an für einige Jahre, um sein Leben zu retten, in die damalige britische Kolonie Palästina gekommen, auf deren Gebiet im Jahr 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Seit 1960 ist er wieder in Deutschland.
»Ex-Adjutant Mosche Dajans hingerichtet«: Als die Zeitung mit dieser Schlagzeile aufmacht, hat dies Folgen. Tags darauf geht beim Oberbürgermeister ein Brief ein, Betreff: »gekillerter Israeli, samt Hure«, der anonyme Verfasser schreibt: »Die gehen und kommen, wie sie belieben! 1 Dutzend Reisepässe in der Tasche! Wenn der Oberstinker im Kriegsstab bei Dajan war, hat der doch bei uns gar nichts mehr zu suchen und muß seine Exekution dort bei den Arabern abwarten!«
»Kompromittierendes Material«
Am Tag nach dem Mord wird Arno Hamburger, Lewins Nachfolger im Amt des Gemeindevorsitzenden, gleich drei Mal von anonymen Anrufern bedroht: »Arno Hamburger, du verfluchte Judensau, Shlomo Lewin war der Erste, du bist der Nächste. Du kannst dich darauf vorbereiten«, kündigt einer an. Ein anderer bekräftigt: »Du entgehst uns nicht.«
Hamburger hat den Holocaust dank eines Kindertransports nach Palästina überlebt. Nach dem Krieg hat er seine Eltern in Nürnberg wiedergefunden, der Rest der Familie war ermordet worden. Die Eltern waren zu schwach, um fortzugehen und noch einmal ein neues Leben anzufangen. Als einziges Kind, so hat Hamburger einmal erzählt, habe er dann »das moralische Empfinden gehabt, dass ich meine Eltern nicht allein lassen könnte«.
Viele Mitglieder der Gemeinde sind in Angst, manche meinen, in der Mordnacht auch vor ihrer eigenen Wohnung seltsame Gestalten gesehen zu haben. Man hatte »Befürchtungen«, erinnert sich Rose Wanninger, die spätere Gemeindevorsitzende in Erlangen in den 1990er-Jahren, ihr Mann habe deshalb eine Weile »mit dem Colt unter der Matratze« geschlafen.
Es sind schreckliche Tage, deutschlandweit herrscht »blankes Entsetzen« in den jüdischen Gemeinden, so hat Paul Spiegel später in einem Interview erzählt, der Präsident des Zentralrats der Juden in den frühen 2000er-Jahren. »Aber auch Entsetzen darüber, dass das von der breiten Gesellschaft nicht so wahrgenommen wurde.« Paul Spiegel denkt anfangs, jetzt würde ein Aufschrei durch das Land gehen. Er irrt sich. Stattdessen geschieht etwas anderes.
Arno Hamburger, Lewins Nachfolger, bekommt Besuch von Ermittlern des Bayerischen Landeskriminalamts. Aber nicht, um ihm Schutz zu bieten. Sondern um ihn als Verdächtigen zu befragen.
Hamburger ist ein Mann mit breiten Schultern und Lederjacke, ein gebürtiger Nürnberger, der Fränkisch spricht, sich in Fußballvereinen engagiert und für die SPD im Stadtrat sitzt. Er ist bodenständiger als der kunstsinnige Lewin, der zu Demonstrationen gegen die NPD auf dem Nürnberger Hauptmarkt schon mal eine Dixieland-Band mitbrachte. Die beiden sind keine Freunde gewesen.
Aber ein Mord? Die Ermittler steigen hinab in den Keller von Shlomo Lewin. Sie vermuten, er habe dort »kompromittierendes Material gesammelt oder aufbewahrt«, um andere Juden zu erpressen. Dies könne »wertvolle Hinweise auf den möglichen Täterkreis« ergeben, so sagt es der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Rudolf Brunner auch vor Journalisten.
Lewin hat sein Archiv nicht für Erpressungen, sondern »lediglich« für den Betrieb seines kleinen Verlags genutzt, notiert der Staatsanwalt nach der Durchsuchung enttäuscht. Der Verlag »Ner Tamid«, ewiges Licht, gibt illustrierte Bände zu jüdischer Zeremonialkunst heraus, historische Essays, auch Dokumentationen über »den Nazismus in Westdeutschland«, sehr erfolgreich ist er nicht, Lewin hatte ihn schon so gut wie aufgegeben.
An ihrer Hypothese vom jüdischen Mordkomplott halten die Ermittler dennoch fest. Als Israels Regierung nachfragt, weshalb denn nichts vorangehe bei dieser Ermittlung, antworten die Deutschen: Gemach. Die Staatsanwaltschaft, so heißt es in einem Vermerk an die deutsche Botschaft in Tel Aviv vom 9. Januar, halte »sowohl persönliche als auch politische Motive für möglich (Tendenz: persönliche Motive)«.
Von Neonazis ist da noch immer keine Rede.
Wer sich jetzt an den NSU erinnert fühlt, an den entsetzlichen Umgang der Ermittler mit den Opfern der Neonazi-Bande in den 2000er-Jahren, dem geht es wie mir. Auch dort verdächtigten die Ermittler vor allem die meist türkischstämmigen Opfer und ihr Umfeld. Auch dort stellten sie die Ermordeten als Menschen hin, die von ihren angeblichen dunklen Geheimnissen eingeholt worden seien.
Im Fall von Shlomo Lewin verbreitet die Lokalzeitung, orthodoxe Juden könnten ihn umgebracht haben, weil er mit einer Christin zusammenlebte. »Seine Familie in Israel« habe »bisher ebenfalls wenig zur Aufhellung beigetragen«. Und lange bevor in Nürnberg die Tochter des ersten NSU-Mordopfers Enver Şimşek, Semiya Şimşek, die Fragen ertragen muss, ob ihr ermordeter Vater eine Affäre gehabt habe, bei Drogengeschäften mitgemacht oder womöglich für die Kurdenpartei PKK spioniert habe, verschicken die Ermittler im Mordfall Shlomo Lewin eine ausführliche Liste an alle Landeskriminalämter bundesweit. Thema: Lewins Liebesleben.
»Schillernde Vergangenheit«
Die Nachrichtenagentur ddp...
Erscheint lt. Verlag | 6.7.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anschlag • antisemitische Gewalttaten • antisemitische Verfolgung • Antisemitismus • Ausgrenzung • BDS • Bedrohungslage • Bürgerwehr • Friedhofsschändung • Geheimbund • Gewalt gegen Juden • Halle • Hanau • Hate speech • Holocaust • Islamismus • Jom Kippur • Juden • Judenhass • Judenverfolgung • Jüdische Gemeinde • Jüdisches Leben • Jüdisches Leben in Deutschland • Justizversagen • Nazis • Neonazis • NSU • Polizei • Polizeigewalt • Polizeischutz • Rassismus • rechter Rand • Rechter Terror • Rechtsextremismus • Rechtsradikalismus • schutzlos • Staatsversagen • Synagoge • Terror • Verfassungsschutz • Volksverhetzung |
ISBN-10 | 3-8270-8016-9 / 3827080169 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8016-5 / 9783827080165 |
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