Die Pflegekatastrophe (eBook)
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2342-8 (ISBN)
Kaspar Pfister, geboren 1956, hat 19 Jahre als kommunaler Verwaltungsbeamter gearbeitet, bevor er Gründer und Geschäftsführer der BeneVit Gruppe wurde. Dazwischen gab es Stationen in der sozialen Dienstleistung als Geschäftsführer bei privaten, kommunalen und kirchlichen Organisationen und Stiftungen im In- und Ausland. Mit seinem Unternehmen hat er sich auf die Altenpflege spezialisiert und betreibt etliche Wohngemeinschaften, die er nicht Seniorenheime nennen will. Dazu kommen ambulante, teilstationäre und stationäre Pflege und betreutes Wohnen. Im Vordergrund seines Tuns steht der Mensch und nicht die reglementierende Behörde, die beim Thema Alter kräftig mitreden möchte.
Kaspar Pfister hat 19 Jahre als kommunaler Verwaltungsbeamter gearbeitet und danach als Geschäftsführer von kirchlichen, kommunalen und privaten Trägern operative Erfahrungen in Österreich, Spanien, Italien, und der Schweiz gesammelt. Er ist Gründer und Geschäftsführer der BeneVit Gruppe. Mit seinem auf Altenpflege spezialisierten Unternehmen betreibt er etliche Wohngemeinschaften, die er nicht Seniorenheime nennen will.
Kapitel 1:
Wir brauchen dringend einen Wandel in der Altenpflege
Viele von uns tabuisieren Alter. Sie haben Angst, mit den zunehmenden Jahren die Herrschaft über den eigenen Körper zu verlieren und im Alltag auf die Hilfe anderer angewiesen zu sein. Oder gar im Heim zu landen, wo die Luft zum Schneiden ist und nach Desinfektionsmittel, Großküche und Hagebuttentee riecht. Die allerwenigsten verbinden mit dem Begriff »Pflege« ein Leben, das Freude macht und Sinn stiftet in einem angenehmen, motivierenden Umfeld. Doch sollte das unser aller Anliegen sein. Egal um welche Form der Pflege es geht – ob im Heim, betreut oder zu Hause. Schließlich sollten wir uns auch im Alter trotz der einen oder anderen Einschränkung glücklich und wohlfühlen. Das zu ermöglichen bedarf eines vielgestaltigen Wandels in der Altenpflege. Auch vor dem Hintergrund, dass die Alterspyramide kopfsteht und die Zahl der pflegebedürftigen Menschen rasant zunehmen wird. Unsere Gesellschaft vergreist, und das macht die Auseinandersetzung damit umso dringlicher für uns – als Gesellschaft, aber auch für uns persönlich.
Konfrontiert mit dem Thema Pflege ist heute schon jeder Zweite. Direkt oder indirekt. Durch die Betreuung alter oder erkrankter Ehe- und Lebenspartner, der Eltern, der Großeltern oder anderer Angehöriger. Denn 3,4 Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Sie brauchen wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Beeinträchtigung Grund- und/oder Behandlungspflege. Jemanden, der ihnen beim Aufstehen, Waschen, Toilettengang oder bei der medizinischen Versorgung hilft. Ihnen Spritzen gibt, Verbände wechselt und oftmals auch im Haushalt zur Hand geht, den sie nicht mehr oder nur eingeschränkt führen können. Zwei Drittel der Betroffenen werden zu Hause versorgt, das restliche Drittel in 14.480 Pflegeheimen.
Und selbst wenn uns das Thema persönlich noch nicht berührt, stellt sich für jeden irgendwann die Frage: Wo und wie wollen wir uns und unsere Angehörigen im Alter versorgt wissen? Natürlich wünschen wir uns und unseren Lieben, fit bis ins hohe Alter zu bleiben und mit 90 oder 100 Jahren friedvoll über Nacht im eigenen Bett zu entschlafen. Doch das ist nicht immer der Fall, eher sogar die Ausnahme. Daher geht ein Wandel, den wir bei diesem multikomplexen Thema »Pflege« brauchen, vor allem auch mit einem Gesinnungswandel einher.
Es braucht einen Kulturwandel
Wir sollten Alter nicht als Tabu ausklammern, sondern es mit anderen Augen betrachten. Sollten seinen Reichtum sehen und uns damit auseinandersetzen, wie wir die vierte Lebensphase erfüllt und lebenswert gestalten wollen. Ich sage hier bewusst »gestalten«. Denn auch wenn wir im Alter vielleicht schlechter sehen, eventuell langsamer denken, wahrscheinlich nicht mehr so beweglich sind und möglicherweise mit Bluthochdruck, Arthritis, Diabetes oder Herzproblemen zu kämpfen haben, ist es dennoch möglich, im Alter freudvoll zu leben und glücklich zu sein. Und das beginnt zuallererst im Kopf: Deshalb müssen wir damit aufhören, Alter als lediglich defizitbelastet zu betrachten.
Zu dieser Entwicklung, Alter als Defizit zu sehen, kam es aus verschiedenen Gründen: Zum einen ließen die fortschreitende Industrialisierung, die Einführung der Rente und der zunehmende Wohlstand Familienstrukturen auseinanderfallen: Großeltern mussten nicht mehr für die Enkel und die Familie da sein. Sie waren im Generationengefüge nicht mehr ein wichtiger stabilisierender Faktor als Haushaltshilfe, Köchin, Geschichtenerzähler oder Kinderaufpasser. Nein. Sie konnten es sich gut gehen lassen und in ihrem »wohlverdienten Ruhestand« die Hände in den Schoß legen, hatte man es sich doch nach den vielen Jahren harter Arbeit verdient, sich auszuruhen.
Im Laufe der Zeit wurde es geradezu üblich, dass wer es sich leisten konnte, gar mit 50 Jahren seinen Beruf an den Nagel hängte. Er demonstrierte damit, zu welch finanziellem Wohlstand er es gebracht hatte, indem er schon so früh »seine Schäfchen im Trockenen hatte« und sich aus dem Erwerbsleben zurückziehen konnte. Gerade in den 1980er-Jahren schien das ein Privileg, und man wurde dafür beneidet. Gleichzeitig wurde – je mehr sich die Leistungsgesellschaft etablierte – Alter zum Stigma. Denn zählen nur noch Ergebnis und Output, wird Alter zum limitierenden Faktor. Vor allem, wenn sich in einem globalen, immer digitaler werdenden Wettbewerb das Hamsterrad schneller und noch schneller dreht. Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass ältere Menschen so viele Kenntnisse und Weisheit angesammelt haben. Dass in dieser Hinsicht grundsätzlich umgedacht wird und Alter wieder einen anderen Stellenwert zu erhalten beginnt, zeigen Strömungen aus den USA. Dort soll der Begriff »Ageist« klarmachen, Alter – ähnlich wie Rasse und »Racist« – nicht als Diskriminierungsfaktor geltend zu machen. Denn jeder ältere Mensch hat das Recht, wertschätzend behandelt zu werden. Selbst wenn er im höheren Alter auf Pflege angewiesen sein sollte. Es braucht aber nicht nur einen Kultur-, sondern auch einen Systemwandel.
Es braucht einen Systemwandel
Alter nicht als Defizit zu sehen fällt nicht nur unserer Gesellschaft und uns selbst schwer, sondern vor allem auch dem institutionalisierten Pflege- und Gesundheitssystem. Um den Schutz und die Sicherheit pflegebedürftiger Senioren zu gewährleisten, haben der Gesetzgeber und das Gesundheitssystem jede Menge Gesetze, Verordnungen, Vorschriften und Auflagen erlassen und Kontrollmechanismen installiert. Sie definieren und überwachen Personalausstattung, Fachkraftquoten, Pflegequalitätskriterien, Hygienestandards, Betreuungszeiten, Baustandards, Menschenwürde, Strafrecht, Datenschutz, Sicherheitsanforderungen, Arbeitsschutz, Abläufe und Modalitäten des Zusammenlebens. Und weil es immer wieder kleinere und größere Skandale in der Pflege gibt und gab – etwa dass Heimbewohner bettlägerig gehalten, mangelernährt oder durch Pillen ruhiggestellt wurden –, wurden die Kontrollmechanismen und Regularien im Laufe der letzten Jahrzehnte immer stärker ausgebaut. Forderten die Missstände den Gesetzgeber doch heraus, zu handeln. Allerdings dienten die Kontrollen und Vorgaben nicht immer dem Schutz pflegebedürftiger Menschen, sondern sind zu oft reiner Aktionismus, um sich abzusichern. Immer mehr Schlüssel, Quoten, Regularien, Überprüfungen lähmen und ersticken jegliche Innovation, die gerade in der Pflege so dringend notwendig wäre.
So manche Bürokraten und angeblichen Experten würden Heime am liebsten zum Reinraum machen, superhygienisch, superkontrolliert und supertransparent, da – wie ein Behördenvertreter mir gegenüber einmal sagte – alle alten Menschen und Heimbewohner »kontaminiert« seien. Die Bedürfnisse der Bewohner und allen voran die Menschlichkeit bleiben da auf der Strecke. Denn wie behaglich ist es, wenn aus Hygienegründen nur noch glatte, abwaschbare und desinfizierte Materialien verwendet werden? Wenn Sie von Plastikgeschirr essen müssen, nur noch Schnabeltassen herumstehen, Sie keine Kerzen anzünden und nicht mal schnell mit Pantoffeln in den Garten gehen dürfen? Ganz zu schweigen davon, wenn Sie keine Aufgabe und Herausforderungen mehr haben dürfen, weil Sie sich, bitte schön, doch ausruhen sollen?!
Statt betagte Menschen in einen wattierten Kokon zu packen und sie zur Passivität zu zwingen, brauchen wir neue Wege im Gesundheitssystem und in der Pflege. Wege, die die natürlichen Möglichkeiten des Menschen berücksichtigen und ihn nicht dazu animieren oder gar verdammen, seine Eigenverantwortung abzugeben und inaktiv zu werden. Mit diesem Buch möchte ich solche Wege aufzeigen, und zwar aus der täglichen und jahrelangen Praxis heraus. Dabei geht es mir nicht darum, Werbung für meine eigenen Einrichtungen zu machen – wir können uns schon jetzt vor Anfragen kaum retten und haben lange Wartelisten. Wir brauchen in Deutschland einen neuen Ansatz, eine zugewandte menschliche Pflege ohne Defizitdenken. Dass dies möglich ist und wie man solche Modelle umsetzen kann, davon will ich auf den folgenden Seiten berichten. Als Pflegeheimbetreiber habe ich gelernt, dass ältere Menschen viel Emotionalität brauchen. Sie geben aber auch viel Herz und Wahrhaftigkeit zurück. Im Alter geht es um Menschlichkeit. Es ist Endzeit, und die einem verbleibende Zeit wird sehr konkret. Da fallen alle Masken, tritt der Mensch in den Vordergrund, sein Erfahrungsschatz, seine Weisheit. Diese Erkenntnis hat mich sehr berührt. Und es ist unglaublich, was passiert, wenn man Ältere ernst nimmt, ihnen Perspektiven gibt und Möglichkeiten schafft, damit sie aktiv sein können. Sie glauben gar nicht, welche Agilität und Kreativität selbst in der Hochaltrigkeit dadurch zum Vorschein kommen.
Aus diesem Grund war es mir so wichtig, Wohngemeinschaften in der Pflege zu etablieren, damit pflegebedürftige Ältere sich eingebunden fühlen und aktiv sein können. Und nicht in ihrer letzten Lebensphase apathisch im Bett liegen oder auf plastikverkleideten Stühlen und an Tischen mit hygienischer, aber hässlicher Folie sitzen müssen. Wo einen das Gefühl beschleicht, dass sie nur noch auf ihren Tod warten. Nein, so auf keinen Fall! Es geht anders, und...
Erscheint lt. Verlag | 28.9.2023 |
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Co-Autor | Christine Koller |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Familie / Erziehung | |
Medizin / Pharmazie ► Pflege | |
Recht / Steuern | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Wirtschaft | |
Schlagworte | 3. Lebensabschnitt • alte Eltern • Altenheim • Altenpflege • Alten WG • Alten-WG • Altern • Älter werden • Alzheimer • Ambulante Pflege • Benevit • Best Ager • Betreutes Wohnen • Betreuung • Buch • Demenz • Dritter Lebensabschnitt • Fit im Alter • Gesellschaft & Alter • Gesellschaft und Alter • Glück • glücklich alt werden • Heim • Pflege • Pflegebedürftige • Pflegedienst • Pflegefall • Pflegeheim • Pflegestufen • Pflegeversicherung • Rentner • Senior • Seniorenheim • Senioren WG • Senioren-WG • Silver Ager • Umziehen im Alter • Wohnen im Alter • Wohngemeinschaft • zufrieden alt werden |
ISBN-10 | 3-8437-2342-7 / 3843723427 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2342-8 / 9783843723428 |
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