Autokratie überwinden (eBook)

(Autor)

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2020 | 1. Auflage
288 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2542-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Autokratie überwinden -  Masha Gessen
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Nicht nur Russland, Ungarn oder die Türkei sind autokratische Staaten. In den USA werden täglich demokratische Prozesse missachtet, korrodieren Rechtsystem und kulturelle Normen, verfallen Bürger dem Versprechen radikaler Einfachheit, der Aufteilung der Welt in »Us« und »Them«. Vor dem Hintergrund einer im postsowjetischen Russland verbrachten Jugend beschreibt Masha Gessen das Versagen von Institutionen, Medien und Opposition und das Ende der Würde in der US-amerikanischen Politik. Das Buch ist eine messerscharfe und schonungslose Analyse, wie Autokratien entstehen, eine Anleitung zum Widerstand - und ein Handbuch für den Wiederaufbau der Zivilgesellschaft in einem Land, das auch nach einer Abwahl Trumps nicht zur Tagesordnung übergehen kann.

Masha Gessen erhält 2023 den Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken.

»Kaum jemand hat die subversive Kraft antidemokratischer und autoritärer Ideologien und Regime so präzise analysiert wie Masha Gessen.« Carolin Emcke.

»Eine unverzichtbare Stimme in der heutigen Zeit.« Timothy Snyder, Autor von »Über Tyrannei. 20 Lektionen für den Widerstand«.

 »Masha Gessens Überlegungen zu den weltweit grassierenden autokratischen Regierungsformen sollten Pflichtlektüre für jeden denkenden Menschen sein.« Daniel Schreiber.



Masha Gessen, geboren 1967 in Moskau, wurde mit Büchern wie 'Der Mann ohne Gesicht: Wladimir Putin. Eine Enthüllung' (2012) und 'Der Beweis des Jahrhunderts. Die faszinierende Geschichte des Mathematikers Grigori Perelman' (2013) bekannt. 'Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor' wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem National Book Award 2017 und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2019. Gessen schreibt für das Magazin The New Yorker. Masha Gessen lebt in New York.

2.
Warten auf den Reichstagsbrand


Unmittelbar nach der Präsidentschaftswahl im November 2016 schien sich die besiegte Mehrheit der Amerikanerinnen und Amerikaner, die Hillary Clinton gewählt hatten, in zwei Lager zu spalten, die sich nur durch den Grad ihrer Panik unterschieden. Als Repräsentant des einen, weniger panischen Lagers konnte der bisherige Präsident Barack Obama gelten, der die Amerikaner in den Tagen nach der Wahl mit dem Hinweis, dass das Leben weitergehe, zu beruhigen versuchte. Am 9. November hielt er eine kurze, würdevolle Ansprache, in der er drei Punkte hervorhob – der denkwürdigste war, dass die Sonne auch an diesem Morgen aufgegangen sei.1

Bevor gestern die Stimmen ausgezählt waren, nahm ich ein Video auf, das manche von Ihnen vielleicht schon gesehen haben. Darin sagte ich dem amerikanischen Volk, egal, welcher Seite ihr eure Stimme gegeben habt, egal, ob euer Kandidat gewonnen oder verloren hat – auch morgen wird die Sonne wieder aufgehen.

Und das ist endlich mal eine Vorhersage, die tatsächlich eingetroffen ist. Die Sonne ist aufgegangen.

Obama gab zu, dass zwischen ihm und Trump »wesentliche Meinungsunterschiede« bestünden, dass er aber nach einem Telefonat mit dem gewählten Präsidenten in den frühen Morgenstunden die Gewissheit habe, dass Demokraten und Republikaner, und auch er und Trump, gemeinsame Ziele verfolgten.

Wir alle wollen das Beste für unser Land. Das entnahm ich Mr Trumps Aussagen gestern Abend. Das war es, was ich auch im direkten Gespräch mit ihm hörte. Und das hat mich ermutigt. Das ist es, was dieses Land braucht – ein Gefühl der Einheit und der Zugehörigkeit, die Achtung vor unseren Institutionen, vor unserer Lebensart, vor dem Rechtsstaat, und die gegenseitige Achtung der Menschen.

Obama beendete die Ansprache in optimistischem Ton.

Das Wichtigste ist, dass wir vorangehen, dass wir Vertrauen in unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben, denn das ist die entscheidende Voraussetzung für eine lebendige und funktionierende Demokratie. Das hat dieses Land über zweihundert Jahre vorangebracht. So haben wir unsere Grenzen erweitert und Freiheit in alle Welt gebracht. So haben wir die Rechte unserer Staatsgründung auf alle Bürgerinnen und Bürger ausgedehnt. Und nur so konnten wir so weit kommen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass diese unglaubliche Reise, auf der wir als Amerikaner unterwegs sind, weitergehen wird.

Jeder Präsident ist ein großer Geschichtenerzähler. Die Obama-Story, die auf den Geschichten seiner Vorgänger aufbauen konnte, handelte von einer amerikanischen Gesellschaft, die sich auf einem unaufhaltsamen Marsch zu einer besseren, freieren, faireren Welt befand. Sie mochte mitunter ins Stolpern geraten, aber sie richtete sich immer wieder auf. Das war die Bedeutung, die Obama seinem Lieblingszitat von Martin Luther King Jr. verlieh: »Der Bogen des moralischen Universums ist weit, aber er neigt sich zur Gerechtigkeit.« Und es ist auch die Prämisse, auf der der Glaube an den amerikanischen Exzeptionalismus beruht oder an das, was der Soziologe Robert N. Bellah und der Rechtsgelehrte Sanford Levison als »amerikanische Zivilreligion« bezeichneten: dass die US-Verfassung eine nahezu perfekte Blaupause für die Politik darstelle, auf ewig.2

Als sich Trump 2016 an die Spitze der Kandidaten für die republikanische Nominierung setzte, trösteten sich viele Amerikaner mit der Gewissheit, dass sich die amerikanischen Institutionen stärker als irgendein Kandidat erweisen würden, und sogar stärker als dieser oder jener Präsident.

Aber nach der Wahl klang diese vermeintliche Gewissheit nur noch hohl. Am selben Tag, an dem Obama den planungsgemäßen Aufgang der Sonne feierte, veröffentlichte ich im New York Review of Books einen Artikel, in dem ich die Leserschaft warnte, »die Institutionen werden euch nicht retten«. Ich stützte mich dabei auf meine Erfahrungen als Journalist*in in Russland, Ungarn und Israel – drei Länder, die sich völlig von den Vereinigten Staaten unterschieden und natürlich auch untereinander verschieden waren. Ihre Institutionen waren jedoch auf bemerkenswert ähnliche Weise zusammengebrochen. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass amerikanische Institutionen in vergleichbarer Weise versagen würden, aber ich wusste genug, um behaupten zu können, dass absolutes Vertrauen in Institutionen nicht angebracht sein würde. Viele Menschen teilten diese Intuition. Sie gehörten zum stärker zur Panik neigenden Lager. Eine gemeinsame Erwartungshaltung machte sich unter ihnen breit: die Erwartung eines neuen Reichstagsbrands.

Der historische Brand im deutschen Reichstag ereignete sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1933. Vier Wochen zuvor war Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt worden und hatte sich sofort darangemacht, die Pressefreiheit einzuschränken und die Polizeigewalt auszuweiten. Aber es war dieser Brand, der in der Erinnerung als das Ereignis haften geblieben ist, nach dem nichts mehr so war wie zuvor, weder in Deutschland noch in der Welt. Am Tag nach dem Brand erließ die Regierung eine Verordnung, die die Polizei ermächtigte, als vorbeugende Maßnahme Menschen ohne Anklage in die sogenannte »Schutzhaft« zu nehmen. Hitlers paramilitärische Gruppen, die SA und die SS, griffen Aktivisten als »staatsfeindliche Elemente« auf und verbrachten sie in Lager. Weniger als einen Monat später verabschiedete das Parlament das »Ermächtigungsgesetz«, durch das Hitler fortan durch Verordnungen regieren konnte und auch die gesetzgebende Gewalt faktisch auf die Regierung überging. Gleichzeitig wurde der Notstand verhängt, der bis zum Ende der NS-Diktatur bestehen blieb.

Der Reichstagsbrand wurde genutzt, um einen »Ausnahmezustand« zu schaffen, wie es Carl Schmitt, Hitlers bevorzugter Rechtsgelehrter, ausdrückte. Nach Schmitts Auffassung entsteht ein Ausnahmezustand, wenn eine Notlage, ein einzigartiges Ereignis, die etablierte Ordnung erschüttert. Dann muss der Souverän auftreten und neue, außerrechtliche Regeln einführen. Der Ausnahmezustand ermöglicht einen Quantensprung: Hat sich der Staat erst einmal genug Macht verschafft, um ihn verhängen zu können, kann er sich nun durch diesen Akt noch weit umfassendere, unkontrollierte Machtbefugnisse anmaßen. Das ist es, was diese Veränderung unumkehrbar und den Ausnahmezustand zum Dauerzustand macht.

Jedes große, umwälzende Ereignis der letzten 80 Jahre wurde mit dem Reichstagsbrand verglichen. Am 1. Dezember 1934 wurde der Erste Sekretär der Leningrader Parteiorganisation, Sergei Kirow, von einem Einzeltäter durch Kopfschuss ermordet. Das Attentat gilt als Vorwand für die Verhängung des Ausnahmezustands in der Sowjetunion. Schauprozesse und Massenverhaftungen folgten, wodurch sich der Gulag mit Gefangenen füllte, die als Verräter, Spione und terroristische Verschwörer beschuldigt wurden. Um die schiere Masse der Anklagen bewältigen zu können, schuf der Kreml die sogenannten Troikas – dreiköpfige Ausschüsse, die Urteile verkündeten, ohne die Fälle zu untersuchen oder eine Verteidigung anzuhören.

In jüngerer Zeit nahm Wladimir Putin eine Serie von katastrophalen Ereignissen zum Anlass, unumkehrbare Ausnahmeregelungen zu verhängen. 1999 kam es zu einer Reihe von Bombenanschlägen auf Wohnhäuser in Moskau und weiteren Städten, bei denen Hunderte Menschen umkamen. Das ermöglichte es Putin zu verkünden, dass er alle, die für »Terroristen« zu halten seien, summarisch hinrichten lassen könne. Und die Ereignisse wurden auch zum Vorwand für einen neuen Krieg in Tschetschenien. Im Jahr 2002 diente die dreitägige Belagerung eines von tschetschenischen Terroristen besetzten Theaters in Moskau dazu, das Prinzip der summarischen Exekution real vorzuführen: Russische Spezialeinheiten pumpten eine unbekannte gasförmige Chemikalie in das Ventilationssystem, stürmten das Gebäude und erschossen die bewusstlosen Geiselnehmer. Der Kreml nutzte die Theaterbesetzung auch als Vorwand, um die bereits gefügig gemachten Medien davon abzuhalten, über Antiterror-Operationen zu berichten. Zwei Jahre später starben über 300 Menschen, größtenteils Kinder, nach einem Angriff russischer Spezialtruppen auf eine Schule in Beslan in der zur Russischen Föderation gehörenden Republik Nordossetien. Putin nutzte dieses Ereignis als Begründung, die Wahl eines Bezirksgouverneurs abzusagen, womit er die föderale Struktur des Landes praktisch aufhob.

Die Geisteshaltung, die es ermöglicht, Tragödien in repressive Maßnahmen umzumünzen, ist auch in den Vereinigten Staaten nicht unbekannt. Im Jahre 1798 verabschiedete der Kongress die Alien and Sedition Acts, die unter anderem die Privilegien des Präsidenten gegenüber Ausländern erweiterten und die Veröffentlichung »falscher, skandalträchtiger oder boshafter Schriften« gegen Amtsträger unter Strafe stellten. Der Vorgang verursachte eine politische Krise, in der sich die Federalists und die oppositionellen Republikaner gegenseitig als Verräter beschimpften, sich mangelnde Wachsamkeit vorwarfen oder einander als jakobinische Marionetten anprangerten. Die Gerichte verloren keine Zeit und schlossen die der Opposition nahestehenden Zeitungen. Ein halbes Jahrhundert später setzte Präsident Abraham Lincoln das Habeas-Corpus-Recht aus, sodass nun eine Gefangennahme auch ohne richterliche Haftprüfung erfolgen konnte. Lincoln wollte damit erreichen, im Sezessionskrieg Rebellen und Südstaatensoldaten auch ohne Nachweis konkreter Gewaltakte auf unbestimmte Zeit...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2020
Übersetzer Henning Dedekind, Karlheinz Dürr
Sprache deutsch
Original-Titel Surviving Autocracy
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Autokratie • Die Zukunft ist Geschichte • Diktatur • Erdogan • leipziger buchpreis für europäische verständigung • Medien • Menschenrechte • National Book Award • Orban • Putin • Timothy Snyder • Trump • Türkei • Über Tyrannei • Ungarn • USA • US-Wahlen
ISBN-10 3-8412-2542-X / 384122542X
ISBN-13 978-3-8412-2542-9 / 9783841225429
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