Auf der Straße gilt unser Gesetz (eBook)

Arabische Clans – Ein Insider erzählt seine Geschichte
eBook Download: EPUB
2020
304 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-25728-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Auf der Straße gilt unser Gesetz - Khalil O., Christine Kensche
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Spektakuläre Raubüberfälle, Morddrohungen, Schießereien, Schutzgelderpressung, Drogenkriminalität: Mit Khalil O. erklärt erstmals ein Insider, was wirklich hinter den Schlagzeilen über arabische Clans steckt. Khalil stammt aus einem polizeibekannten Clan in Berlin und öffnet eine Tür in eine verschlossene Welt, die nach ganz eigenen Gesetzen funktioniert. Er erzählt von Gewalt, arrangierten Ehen und Blutrache, von Familiengeschäften wie Drogenschmuggel und Raubzügen. Gleichzeitig bricht er den Mafia-Mythos vom Paten, der alle regiert, indem er die Strukturen erklärt, in denen die Clans funktionieren: Es geht um die Familie, und zwar die echte. Ein SEK-Einsatz mitten in der Nacht in seiner Wohnung bringt Khalil schließlich zum Umdenken. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter und betreut jugendliche Intensivtäter. Khalil gibt dieser Parallelgesellschaft eine Stimme, und er plädiert für ein hartes Durchgreifen seitens des deutschen Staats - andernfalls werde sich nichts ändern.

Khalil O. stammt aus einem polizeibekannten Clan in Berlin. Seine Eltern kamen aus dem Libanon, er wurde in Deutschland geboren. In seiner Jugend hat er geprügelt, gestohlen und im großen Stil gedealt. Bei den meisten Verbrechen wurde er nicht erwischt. Als Zweifel in ihm wachsen, entschließt er sich, ein neues Leben zu beginnen: Er holt die Schule nach, legt das Abitur ab und studiert. Heute arbeitet er als Sozialarbeiter und betreut kriminelle Jugendliche.

Vorwort

Der Mann, der ein Café im Süden Berlins betritt, sieht ein bisschen aus wie Diego Maradona. Sein Gang wippt, unter dem Kapuzenpullover wölbt sich ein Bauch, und so, wie man sich bei Maradona schwer vorstellen kann, dass er einmal Leistungssportler war, würde man von ihm nicht unbedingt denken, dass er einen Drogenring aufgebaut und Menschen blutig geprügelt hat. Die Leute in dem Café, das er als Treffpunkt vorgeschlagen hat, begrüßen ihn mit Handschlag, er hat für jeden ein Kompliment parat, sein Lachen steckt an. Der Mann stellt sich als Khalil vor.

In Deutschland ist gerade Clan-Saison. In Berlin, Bremen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen geht die Polizei auf Razzia bei arabischen Großfamilien. Innenminister, Lokalpolitiker und Kommissionen überbieten sich gegenseitig mit Konzepten zur Bekämpfung von Clan-Kriminalität, wollen illegales Vermögen einziehen, Staatsbürgerschaften entziehen, Aussteigerprogramme entwerfen, Kinder aus kriminellen Familien nehmen.

Auslöser der Debatten ist ein Mord am »helllichten Tag« und auf »offener Straße«, wie es bei derart drastischen Vorfällen heißt: Am 9. September 2018 streckten unbekannte Täter in Berlin einen bulligen Mann mit mehreren Schüssen nieder – vor den Augen picknickender Familien, darunter seine eigene Frau und seine Kinder. Das Opfer ist Nidal R., Clan-Krimineller und Schutzgelderpresser, die Täter stammen vermutlich aus einer rivalisierenden Familie. Vier Tage später marschierten bei der Beerdigung rund 2000 Männer zu seinem Grab, zwei Hundertschaften der Polizei bewachten das Geschehen, vor dem Friedhof staute sich der Verkehr. Die Oberhäupter berüchtigter Familien gehörten zu den Trauergästen; szenekundige Beamte zählten 128 Männer, die direkt der Organisierten Kriminalität zuzuordnen seien. Die Machtdemonstration im öffentlichen Raum setzte das Thema Clans auf die politische Agenda.

Nidal R. war über Ermittlerkreise hinaus bekannt. Für Leute wie ihn wurde der Begriff Intensivtäter geprägt. Bevor Nidal 14 und somit strafmündig wurde, verzeichnete seine Akte bereits 20 Delikte. Ihn in die Gesellschaft zu integrieren sei so gut wie unmöglich, prophezeite eine Staatsanwältin 2005.1 Als Nidal im Alter von 36 Jahren starb, umfasste sein Strafregister mehr als 100 Einträge, darunter Raub, versuchter Totschlag, Diebstahl, Nötigung, Körperverletzung und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung. Insgesamt hatte er mehr als zehn Jahre in Haft gesessen.

In der einen Welt gilt Nidal R. als »Prototyp des Ethno-Kriminellen«2, in der anderen ist er offensichtlich ein Held: Nach seinem Tod sprühen Unbekannte in der Nähe des Tatorts am Tempelhofer Feld ein glorifizierendes Porträt auf eine Hauswand; der Bezirk Neukölln lässt es eilig übermalen. Gleichzeitig wächst der Kult um die arabische Mafia: Die Gangster-Serie »4 Blocks« wird für den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Staatsanwälte und Clan-Anwälte treten in Talkshows auf. Dass Clan-Mitglieder selbst sprechen, kommt so gut wie nie vor.

Ich möchte in jenem Herbst 2018 mehr über die Strukturen der Clans erfahren und mache mich auf die Suche nach Insidern. Ich klopfe an viele Türen, werde nicht eingelassen oder schnell wieder rausgeworfen. Die Familien bleiben unter sich und halten dicht. Auch die Migrationsforscher, Sozialarbeiter, Behördenmitarbeiter und Vereine, bei denen ich vorspreche und Visitenkarten hinterlasse, können oder wollen mir keinen Kontakt vermitteln. Nach langer Recherche in der Berliner Szene und etlichen Absagen will ich das Projekt aufgeben, als an einem Freitagnachmittag mein Handy klingelt. Ein Mann aus der polizeibekannten Großfamilie O. ist dran. Er habe gehört, dass ich mit Clan-Mitgliedern sprechen möchte, sagt er. Zwar habe er seine kriminelle Karriere vor 15 Jahren beendet, aber vielleicht sei, was er wisse und erlebt habe, trotzdem interessant. Wir verabreden uns zu einem Gespräch, und so kommt es zu dem ersten Treffen in einem Neuköllner Café.

Khalil ist so alt wie Nidal R., als dieser erschossen wurde, und lange Zeit hat sein Leben so ausgesehen, als werde es das gleiche Ende nehmen. Er sammelt schon früh zig Einträge in seiner Strafakte und hat mit Anfang 20 von unerlaubtem Waffenbesitz über gefährliche Körperverletzung bis hin zu schwerem Diebstahl so ziemlich alles hinter sich. »Fast unmöglich zu integrieren«, ist ein Urteil, das auch auf ihn passen würde. Doch er trotzt der Prognose für jugendliche Intensivtäter und vollzieht eine Wende: Khalil holt die Schule nach, macht Abitur und studiert Soziale Arbeit. Heute arbeitet er als Anti-Gewalt-Trainer mit Intensivtätern.

Er möchte seine Geschichte erzählen, weil er glaubt, dass man aus ihr etwas lernen kann. Warum junge Männer aus Clan-Familien kriminell werden, zum Beispiel. Und was der Staat dagegen unternehmen kann.

Unserem ersten Treffen folgen mehr als fünfzig weitere. Wir laufen durch das Viertel, in dem seine Karriere als Drogendealer begann. Bei einem Abendessen in seinem Haus lerne ich seine Familie kennen. Ich spreche mit Leuten aus seinem Umfeld, die seine Vergangenheit kennen, und mit Arbeitskollegen, die seine derzeitige Tätigkeit beurteilen können. Khalil zeigt mir seine Narben, alte Fotos und Gerichtsakten. Ich bekomme Zugang zu allen seinen Dokumenten, von der Geburtsurkunde bis zu Führungs- und Arbeitszeugnissen.

Dennoch bleibe ich skeptisch. Ich traue dem Mann, der den Schlitzohr-Charme von Maradona versprüht, nicht über den Weg. Um Khalils Schilderungen einzuordnen und zu überprüfen, trage ich sie zwei Oberstaatsanwälten vor, die für Clan-Kriminalität in Berlin zuständig sind, und einem leitenden Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, der sich seit vielen Jahren in der Clan-Szene bewegt. Die Ermittler halten Khalils Geschichte für glaubwürdig. Sie entspreche dem »gewöhnlichen Lebenslauf« eines Clan-Mitglieds. Bis zu ihrem Bruch. Eine solche Wendung, sagen sie, hätten sie noch nie erlebt. »Davon hätten wir gerne mehr«, sagt eine Staatsanwältin.

Ich begleite Khalil zwei Jahre lang. Mit der Zeit fassen wir Vertrauen zueinander, und ich beginne zu verstehen, wie einsam er ist. Khalil hat sich von seiner Familie emanzipiert und hinterfragt ihre Wertvorstellungen. Nach einem unserer Gespräche schreibt er mir eine Nachricht: »Krass, du kennst mich mittlerweile besser als alle anderen Menschen um mich herum. Ich habe keine Freunde in dem Sinne. Ich habe Leute, die alles für mich tun würden, aber ich würde mich denen nie öffnen.«

Dass ich mit ihm zusammen seine Geschichte aufschreiben kann, ist eine einmalige Chance. Khalil öffnet eine Tür in eine verschlossene Welt, zu der sonst niemand Zugang hat. Er führt den Leser in eine Gesellschaft ein, die nach eigenen Gesetzen funktioniert, in der Gewalt, arrangierte Ehen und Blutrache zum Alltag gehören; berichtet von »Familiengeschäften«, wie Drogenschmuggel und Raubzügen. Gleichzeitig bricht er den Mafia-Mythos vom Paten, der alle regiert, und beschreibt erste Anzeichen eines Umdenkens im Clan-Milieu.

Khalil ist einen weiten Weg gegangen. Betrachtet man die Verhältnisse, aus denen er kommt, ist sein Wandel bewundernswert. Es ist jedoch keine Entwicklung von Schwarz zu Weiß, oder von Saulus zu Paulus, wie er selbst seine Geschichte umschreibt. So einfach ist das nicht. Khalil hat Kriminalität und Gewalt abgeschworen und hinterfragt die patriarchalischen Wertvorstellungen seiner Familie. Gleichzeitig vertritt er Ansichten, die die Mehrheit der Leser vermutlich ablehnen. Diese Widersprüche gilt es auszuhalten, sie gehören zu einer ehrlichen Biografie dazu. Kein Mensch ist nur schlecht oder total anständig. Handlungen sind nicht immer logisch, Weltbilder nicht konsistent. Ich lasse Khalil ohne Stringenzzwang und Moralfilter zu Wort kommen, mit Schwarz-, Weiß- und sehr vielen Grautönen – so, wie er ist.

In meiner Arbeit als Gerichtsreporterin begegnete mir gelegentlich die Kritik, ich würde Verbrechern »eine Bühne bieten« oder Taten »verharmlosen«, wenn ich ihren Hintergrund und die Beweggründe beschreibe. Genau das aber macht auch jedes Gericht. Der Kern der Strafverfolgung ist es, die Denkweise und Motive eines Menschen zu verstehen, um sein Handeln beurteilen zu können. Verstehen bedeutet dabei nicht entschuldigen, sondern nachvollziehen im Sinne von begreifen. Die Berliner Polizei etwa hat eine Spezialtruppe verdeckter Ermittler aufgestellt, die sich in der Clan-Szene umhören, in Shisha-Bars sitzen, die einschlägigen Familien gehören, und Rap-Konzerte besuchen, um das Milieu besser zu verstehen – und dadurch effektiver ermitteln zu können.

Nachdem ich im Januar 2019 einen Text über Khalil in der »Welt am Sonntag« veröffentliche, bekomme ich Anfragen von Politikern, die in ihren Wahlkreisen mit Clans zu kämpfen haben, von Kriminalbeamten, die Konzepte gegen Clan-Kriminalität schreiben, und von Forschern, die ein Aussteigerprogramm für Clan-Mitglieder entwickeln. Sie wollen mit Khalil sprechen, um zu verstehen, wie das Milieu funktioniert und was sie unternehmen müssen, um die Verhältnisse zu verändern. Khalil möchte anonym bleiben, um Frau und Kinder und sein neues Leben zu schützen. Seine Antworten auf die vielen Fragen stehen in diesem Buch.

Er hat den Mut gefasst, ausführlich zu berichten. Zum ersten Mal erzählt ein Insider aus einem großen Clan, teilweise überraschend differenziert, teilweise empörend brutal, doch immer aufschlussreich. Dieses Buch ist keine Bühne, sondern ein seltener Blick hinter die Kulissen.

Es ist aus etlichen Akten, Dokumenten und Hunderten Stunden Gesprächen...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 4 blocks • Bandenkrieg • Biografie • Biographien • Bushido • Capital Bra • Der Pate von Berlin • Die Macht der Clans • Dogs of Berlin • eBooks • Familienclan • gangsta • Heiliger Krieg • Mafia • No-Go-Areas
ISBN-10 3-641-25728-X / 364125728X
ISBN-13 978-3-641-25728-6 / 9783641257286
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