Geliebte Ronja (eBook)

Unser Wunschkind hat das Down Syndrom
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Kösel (Verlag)
978-3-641-25648-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geliebte Ronja -  Gundula Rath-Bingart
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Was ist denn schon normal?
Ronja ist ein absolutes Wunschkind und ganz wunderbar. Sie hat bezaubernde blonde Locken, das süßeste Lachen - und das Downsyndrom. In der 26. Schwangerschaftswoche erfuhren ihre Eltern, das Ronja mit einem Chromosom zu viel und einem löchrigen Herzen auf die Welt kommen würde. Alle Vorstellungen und Erwartungen, die sie für ihr Leben mit Baby hatten, wurden auf den Kopf gestellt. Trotzdem war schnell klar: Ronja wird geliebt und ist willkommen, genau wie sie ist.
Mit großer Offenheit und voller Optimismus schreibt Gundula Rath-Bingart über die ersten zwei Jahre mit ihrer besonderen kleinen Tochter. Und sie stellt fest: Ihr Alltag ist meistens genauso wundervoll und wenig normal wie bei vielen anderen jungen Eltern auch. Schwierig wird es vor allem dann, wenn die Bürokratie unsinnige Hürden aufstellt oder Vorurteile anderer die Eltern behinderter Kinder in eine ungewollte Rechtfertigungshaltung drängen. Dagegen wehrt Ronjas Mutter sich selbstbewusst. Was ist schließlich schon normal? Und wer definiert das?
Dieses Buch will anderen Eltern Mut machen. Ein moderner, positiver Blick auf das Eltern- und Muttersein, Pränataldiagnostik und unseren Umgang mit Menschen mit Behinderung.

Gundula Rath-Bingart, geb. 1985, beschäftigte sich schon während ihres Studiums der Philosophie, Geschichte und Islamwissenschaft intensiv mit den damaligen Debatten zur Präimplantationsdiagnostik. Sie lebt mit ihrem Partner in Bayreuth, 2017 wurde sie schwanger. Nachdem sie erfahren hatte, dass ihre Tochter mit einer Trisomie 21 und einem Herzfehler auf die Welt kommen würde, begann Gundula Rath-Bingart das Blog »Geliebte Ronja« zu schreiben.

5. April 2019

Ronja: 10 Monate alt

»Wer betreut denn Ihre doch noch sehr kleine Tochter?« – warum Gleichberechtigung genau so lange gilt, bis man ein Kind hat

An drei von fünf Tagen fahre ich mit einem Glücksgefühl zur Arbeit. Das ist ein sehr guter Schnitt, der sich vermutlich nicht halten lässt. Die Anfangseuphorie vergeht immer, doch noch genieße ich sie. Ich kann das Fahrrad benutzen. Innerhalb der zehn Minuten, die ich brauche, bis ich an meinem Arbeitsplatz an der Uni bin, überkommt es mich dann plötzlich. Das Glück. Es springt mich an und lässt mich schaudern. Die beiden wichtigsten und liebsten Menschen in meinem Leben haben mich gerade verabschiedet. Sie werden auf mich warten und von mir erzählen, bis ich nach Hause komme. Ab halb fünf werden sie unruhig werden und immer mal aus dem Fenster schauen. Wegen mir. Ich weiß das, weil ich das Gleiche getan habe, als ich mit Ronja zu Hause war. Nun passt Matthias auf sie auf. Ich habe noch den Geruch von Baby in der Nase und das Gefühl, wie sie sich an mich gekuschelt hat beim morgendlichen Stillen. Damit fahre ich nun zu den Erwachsenen. Ich darf Erwachsenengespräche führen. Ich darf Dinge lesen, diskutieren und mich weiterbilden. Darf schreiben und Projekte koordinieren. Und bei all dem weiß ich mein Kind gut versorgt. Bin super flexibel. Kann auch mal länger machen und werde dann von Mann und Kind begrüßt. Ich werde gebraucht, geliebt und gefordert in all meinen Facetten. Intellektuell und emotional. Ich habe alles, was ich will.

Ich habe das, was sonst die Männer haben. Das, was der Grund ist, warum es nur für die Karriere von Frauen ein Problem ist, wenn sie Kinder bekommen, während Männer beruflich sogar davon profitieren, Vater zu werden: jemand, der einem den Rücken frei hält. Die meisten Mütter, die arbeiten, haben das nicht. Väter eben schon. Dass ich alles habe, das hat sich so ergeben. Ich habe auch einiges dazu beigetragen. Genau wie Ronja. Und natürlich Matthias. Aber es hätte auch anders kommen können.

Es ist alles andere als selbstverständlich, dass Männer mehr als die üblichen beiden Monate in Elternzeit gehen, auch wenn alle gern so tun, als sei es das. Es ist alles andere als selbstverständlich, dass man einer jungen Mutter einen anspruchsvollen Vollzeitjob zutraut, ohne ihr die Fähigkeit hierzu abzusprechen, weil sie sich kürzlich fortgepflanzt hat.

Es war weder geplant noch absehbar, dass ich so schnell wieder arbeiten würde. Es gab Stimmen, die mir ein völliges Ende meiner Berufstätigkeit vorausgesagt haben. »Mit einem behinderten Kind … das schafft man nicht.« Doch, man schafft es. Wenn man will. Und wenn die Rahmenbedingungen passen.

Solange ich keine Mutter war, habe ich mich jederzeit voll gleichberechtigt gefühlt. Habe nicht verstanden, worüber eigentlich so viel geredet wird. Wofür man kämpfen sollte. Was überhaupt gemeint ist, wenn es um Gleichberechtigung geht. Es ist nicht immer alles leicht, aber das ist es für niemanden, habe ich gedacht. Man muss sich manchmal durchsetzen, aber Leistung zählt. Im Großen und Ganzen. Davon bin ich ausgegangen.

Dann habe ich erstens ein Kind bekommen und zweitens ein Kind mit einer Behinderung. Und fühlte mich von jetzt auf gleich 70 Jahre in die Vergangenheit zurückkatapultiert. Über zwei Jahrzehnte war ich selbst für mein Leben zuständig, und Menschen haben das akzeptiert. Über zwei Jahrzehnte hat man mir zugetraut, eigene, richtige Entscheidungen zu treffen. Wer für falsch hielt, wie ich lebte, hat respektvoll geschwiegen. Dann war da plötzlich ein Baby. Und niemand schweigt mehr. Alle wissen, was ich tun muss, denken muss, lassen sollte. Alte Frauen, mir völlig unbekannt, bemängeln, dass mein Kind keine Mütze trägt. Im Hochsommer. Sorgen sich, das Baby könnte einen Sonnenbrand bekommen, wenn ein Lichtstrahl in die Babyschale fällt. Mütter erzählen mir, wie mein Leben verlaufen wird (Mit der Behinderung!). Berufstätigkeit könne ich aufgeben. Hat gar keinen Sinn. Pädagoginnen wissen ganz genau, wie ich mich fühle (Downsyndrom!) und was ich dagegen tun muss (Selbsthilfegruppe!).

Es gab auch viele gute Kontakte, das muss ich sagen. Viele tolle Menschen. Die besten Begegnungen waren immer mit solchen Menschen, die nicht von vornherein wussten, was für ein Baby, für eine Mutter, für einen Vater, für das Downsyndrom oder auch für eine Familie das Richtige ist.

Wenige Ratschläge habe ich angenommen. Ich wollte raus aus der reinen Mutterrolle, da war Ronja noch kein Jahr alt. Wollte ganz Mutter sein, aber nicht nur das. Zu arbeiten ist mir wichtig. Der Versuch, dem Klischee zu entkommen, hat mir einmal mehr gezeigt, dass Gleichberechtigung genau bis zum ersten Kind gilt. Anschließend ändert sich der Wertekatalog fundamental. Ich hatte drei Bewerbungsgespräche, bis es geklappt hat. Und in allen Bewerbungsgesprächen war die Frage nach Ronja unter den Top 3: »Wer betreut denn Ihre doch noch sehr kleine Tochter?« Einmal, zweimal, dreimal.

Nettes Interesse, könnte man sagen. Kann man doch fragen. Kann man auch, ja. Aber nur dann, wenn man Männer, die sich bewerben, das Gleiche fragen würde. »Sehr qualifiziert, ja. Aber wer betreut denn Ihre doch sehr zahlreichen fünf Kinder aus den drei Ehen? Solche Verhältnisse können ja auch sehr aufreibend sein. Wir sehen da Probleme für Sie.« Würde so etwas jemals irgendjemand zu einem Mann sagen? Ist es nicht eine maßlose Bevormundung anzunehmen, man müsse mich davor schützen, meiner Mutterrolle möglicherweise nicht gerecht werden zu können?

Die Aussichten mit einem kleinen Kind sind schlecht. Denkbar schlecht und noch mal schlechter, möchte man Teilzeit arbeiten. Das ist bekannt. Und dennoch: Es am eigenen Leibe zu erleben hat mich schockiert. Möglicherweise haben die Ressentiments auch etwas mit Ronjas Behinderung zu tun gehabt. Ich wurde nie danach gefragt, habe es aber auch nie verschwiegen. In jeder Bewerbung habe ich auf meinen Blog verwiesen. Da stand ja alles drin. Sollte man wegen Ronjas Behinderung tatsächlich zusätzlich Sorge gehabt haben, macht es das Ganze allerdings auch nicht besser. Es verschlimmert die Ungleichheit der Chancen.

Ich selbst war und bin in einer Luxussituation. Matthias stand bereit, in Elternzeit zu gehen, und ich war auch nicht auf den erstbesten Job angewiesen. Aber was bitte tut jemand, der alleinerziehend ist? Der Geld verdienen muss? Dessen Kind vielleicht auch das eine oder andere Handicap oder besondere Bedürfnisse mitbringt, die es schlicht erforderlich machen, ein gewisses Einkommen zur Verfügung zu haben? Das ist nicht fair. Ganz und gar nicht.

Ich finde nicht, dass Menschen mit Kindern oder Menschen mit Kindern mit Handicap eine Sonderbehandlung brauchen, wenn es um Leistung geht. Ich bin aber sehr für gleiche Chancen. Und die gibt es nicht.

Es sind nicht nur die Frauen, die einseitige Chancen haben. Es geht den Männern genauso. Nur anders. Auch hier bestimmt die Art, wie unsere Welt funktioniert, wohin Männer gehören und wohin definitiv nicht. Beispielsweise gehören sie offenbar nicht ins Babyschwimmen. Was man ja bereits der Ankündigung entnehmen könnte, zugegeben. Da nämlich wird das Babyschwimmen als »Mutter-Kind-Kurs« rubriziert – Mutter, nicht Vater. Mein mutiger Mann hat das ignoriert, ist mit Ronja zum Schwimmen gegangen und sah sich mit einer Sammelumkleide voller nackter, stillender Mamis samt schreiender Säuglinge konfrontiert. Ein Vater: nicht vorgesehen. Die Alternative: eine weitere Gruppenumkleide. Diesmal bevölkert von einer Schulklasse. Jungen, noch vor der Pubertät, die sich dort umziehen. Auch da fühlt man sich als fremder, nackter Mann nur mäßig wohl.

Ich möchte nicht anklagen. Es gibt ja auch bestehende Strukturen. Das Babyschwimmen war toll, die Leiterin großartig, es hat Vater und Kind durchaus Spaß gemacht. Aber die Umstände, die muss man erst einmal verkraften.

Große Umstände für Väter macht es übrigens auch, wenn sie ihr Kind wickeln wollen. Das scheint ebenfalls nicht vorgesehen. Wickelplätze außerhalb von Damentoiletten sind äußerste Mangelware. Es gäbe noch viele weitere Beispiele, die Vätern ihren Platz zeigen (der anscheinend nicht beim Kind ist). Etwa dieses, dass es fast ein Jahr (!) gedauert hat, bis Kinder- und Fachärzte, Frühförderstätten und so weiter nicht mehr mich, sondern endlich Matthias anriefen, wenn es um Termine und sonstige Absprachen ging. Als wäre mein Mann ebenso unfähig, einen Kinderarzttermin zu vereinbaren und einen wunden Babypopo zu versorgen, wie man es mir nicht zutraut, einen ganz normalen Job zu haben. Nur wegen eines Babys.

Es liegt heute an den Männern, etwas zu tun. Für ihre eigenen Möglichkeiten und damit auch für die Chancen der Frauen. Es liegt an den Männern, »Eltern-Kind-Kurse« zu verlangen, die auch Väter besuchen können, Umkleidekabinen, in denen sie nicht Gefahr laufen, als Pädophile abgestempelt zu werden, und Wickelplätze außerhalb von Damentoiletten. Es liegt an den Männern, Elternzeit zu nehmen, Teilzeit und wenn nötig Zeit für Pflege. Wenn es Normalität wird, dass auch ein Mann ein paar Monate oder Jahre kürzertritt, nachdem er Vater geworden ist, kann man Frauen für das Gleiche nicht mehr abstrafen. Diskriminierung, die alle gleichermaßen trifft, ist keine mehr.

Emanzipation kann nicht bedeuten, die Frauen mit Kursen für Zeitmanagement und Resilienz, mit Yoga, Psychotherapie und Medikamenten irgendwie fit zu machen für eine Arbeitswelt, die funktioniert wie in den 1950er-Jahren. Sie kann nicht bedeuten, dass die Väter weiter Vollzeit arbeiten und der Vorteil der Mütter nun...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte anders normal • Behinderte Kinder • Behinderte Menschen • behindertengerechtes Leben • Behindertes Kind annehmen • Behinderung • Behinderung erkennen • besondere familie • Down Syndrom • Down Syndrom Baby • Down Syndrom bei Kindern • eBooks • Familienleben • Inklusion • Inklusion behinderter Menschen • Inklusion Integration Behinderung • inklusionsdebatte • Leben mit Trisomie 21 • Menschen mit Behinderungen • PraenaTest • PraenaTest ab wann • Pränataldiagnostik • Pränataldiagnostik München Köln Berlin • Schwangerschaft • Trisomie 21
ISBN-10 3-641-25648-8 / 3641256488
ISBN-13 978-3-641-25648-7 / 9783641256487
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