Fair gehandelt? (eBook)

Wie unser Konsumverhalten die Gesellschaft spaltet
eBook Download: EPUB
2021
368 Seiten
btb Verlag
978-3-641-23216-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fair gehandelt? - Elizabeth Currid-Halkett
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»Das klügste Buch des Jahres« - The Economist
In den letzten Jahren hat sich eine neue kulturelle Elite gebildet, die sich anders als die Spaß- und Erlebnisgesellschaft der 1990er- und 2000er-Jahre durch »bewussten Konsum« bzw. betonten Konsum-Verzicht vom Rest der Gesellschaft abzuheben versucht. Es geht der sogenannten »aspirational class« dabei um die richtige Entscheidung, nicht um die günstigste oder teuerste Entscheidung.

Die promovierte Soziologin und Stadtplanerin Elizabeth Currid-Halkett zeichnet in ihrem vielbeachteten Buch ein eindrucksvolles Bild dieser neuen Elite und argumentiert, dass die ethisch und ökologisch wohlinformierten Lifestyle-Entscheidungen der vermeintlich moralisch Überlegenen die Spaltung der Gesellschaft jedoch nicht verringert oder gar überwinden hilft. Im Gegenteil: Die Konsumgewohnheiten der neuen Elite reproduzieren und verstärken sogar noch die Kluft zwischen den mobilen, weltoffenen und gebildeten Schichten und den ohnehin schon Abgehängten, den weniger Entscheidungsfreien.

Prof. Dr. Elizabeth Currid-Halkett ist Soziologin und Stadtplanerin und lehrt an der renommierten University of Southern California. Über ihre Arbeit berichteten u.a. die »L.A. Times«, die »New York Times«, der »New Yorker« und das »Wall Street Journal«. Sie gilt als eine der einflussreichsten Vordenkerinnen der Ökonomie und Soziologie von Kunst, Kultur und Konsum. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Los Angeles.

KAPITEL 1

Die »feinen« Leute des 21. Jahrhunderts


»Ein handgeschmiedeter Silberlöffel, der einen Handelswert von zehn bis zwanzig Dollar besitzt, taugt im Allgemeinen nicht mehr – im üblichen Sinne des Wortes – als ein maschinell hergestellter Löffel desselben Materials, ja, er taugt wahrscheinlich nicht einmal mehr … Der naheliegende Einwand lautet natürlich, daß dieser Gesichtspunkt den wesentlichsten Sinn des teuren Löffels außer acht lässt. Der handgeschmiedete Löffel befriedigt nämlich unseren Geschmack und Schönheitssinn …, ohne daß es darum das Letztere an Schönheit der Körnung und Farbe oder an Tauglichkeit übertrifft …«

Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute (1899)

An einem Sommernachmittag in den 1920er-Jahren war Muriel Bristol Teil einer Gesellschaft, die sich in Cambridge zum Tee traf. Unter den Gästen befanden sich auch einige Professoren nebst Gattinnen. Ihr Gastgeber schenkte Muriel erst Tee und dann Milch in ihre Teetasse ein. Sie protestierte und erklärte, dass sie die umgekehrte Reihenfolge, also »erst Milch« bevorzugen würde, weil der Tee dann besser schmecke. Den Einwänden der Gäste zum Trotz bestand sie darauf, dass sie die Reihenfolge geschmacklich unterscheiden könne. Da hatte Ronald Aylmer Fisher, welcher später mit seinem Buch The Design of Experiments zum Paten der modernen empirischen Statistik und als »Sir Fisher« bekannt wurde, eine Idee: Wenn man acht Tassen Tee einschenken und in vier davon »zuerst Milch« und in die restlichen vier »zuerst Tee« geben würde und die Dame anschließend in der Lage wäre, die Tassen korrekt zuzuordnen, müsse ihre Behauptung wohl stimmen (die Wahrscheinlichkeit, dass sie die Reihenfolge nur zufällig erraten würde, läge bei 1 zu 70). Wie alle anderen Anwesenden glaubte auch Fisher nicht daran, dass Miss Bristol den Test bestehen würde. Mit anderen Worten, die Anwesenden nahmen an, ihre Behauptung, die Art der Darreichung geschmacklich unterscheiden zu können, sei eher auf mangelndes Gespür für Ästhetik und Stilbewusstsein zurückzuführen als auf wirkliche Geschmacksunterschiede. Tatsächlich aber gab Muriel Bristol für jede der acht Tassen die korrekte Reihenfolge von Milch und Tee an.

Fishers Experiment, welches die Statistik und damit die moderne Wissenschaft veränderte (darauf aufbauend wurde der Test der »Nullhypothese« entwickelt),1 wäre ohne das dahinterstehende Statusdenken der Anwesenden – und die daran geknüpfte, ganz genaue Vorstellung, wie man seinen Tee zu trinken habe –, nicht möglich gewesen. Ob man zuerst Milch oder zuerst Tee in die Tasse gibt, ist seit dem Viktorianischen Zeitalter eine symbolträchtige Statusfrage, weil die Entscheidung für das eine oder das andere darüber Aufschluss geben konnte, welcher gesellschaftlichen Klasse man angehörte.

Ausschlaggebend dafür war letztlich die unterschiedliche Qualität des jeweils verwendeten Geschirrs. Im Viktorianischen Zeitalter zersprangen Tassen aus weniger hochwertigem Material, sobald man kochend heißen Tee hineingoss. Goss man hingegen die kalte Milch zuerst ein, hatte man bessere Chancen, dass die Tasse am Ende heil blieb. Wohlhabende Leute konnten sich edles Porzellan leisten, dem heißer Tee nichts ausmachte. Es war also ein Zeichen wirtschaftlichen Wohlstands, wenn man sich die Milch zuletzt eingoss.2 Selbst als die Entscheidung noch eine rein praktische war, offenbarte die gewählte Reihenfolge also eher den sozialen Stand als eine geschmackliche Vorliebe. Denn indem sie die Milch zuletzt eingossen, demonstrierten diejenigen, die feines Porzellan besaßen, diesen Luxus. So stellt der Butler in der britischen Fernsehserie »Upstairs, Downstairs«, welche in jener Zeit spielt, fest: »Those of us downstairs put the milk in first, while those upstairs put the milk in last.«

Selbst später, als fast jedes Geschirr heißen Tee verkraftete, blieb es dabei, dass »erst Milch« die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse signalisierte. Die englische Autorin Nancy Mitford (1904–1973) benutzte im 20. Jahrhundert in ihren Romanen die Abkürzung »M. I. F.« (englisch »milk in first« für »erst Milch«), um die unteren Klassen zu beschreiben, und in den Massenmedien wird dieser Begriff heute immer noch als satirische Umschreibung für die unteren Bevölkerungsschichten oder Leute ohne formvollendete Umgangsformen verwendet. Selbst der traditionsreiche englische Teelieferant Fortnum & Mason bezeichnet die Entscheidung für eine der beiden Varianten auf seiner Website noch heute als »heikle Angelegenheit«.

Wie aber wurde aus einer einfachen, so unwichtigen und scheinbar harmlosen Tätigkeit eine für die Klassenzugehörigkeit so symbolträchtige Handlung? Vordergründig zweckmäßige Gepflogenheiten, die derart symbolisch aufgeladen wurden, gab es in jeder Epoche. Im viktorianischen England bedeuteten etwa die im Salon zur Schau gestellten Medikamente, dass man es sich leisten konnte, zum Arzt zu gehen und Medikamente zu kaufen. Und in Paris waren Kerzen vor der Französischen Revolution rar und teuer. Doch auch als Licht (und später Elektrizität) allmählich allgemein verfügbar war, blieb Kerzenschein beim Abendessen ein Zeichen von gutem Geschmack und guter Herkunft.3 Das Gleiche gilt für die Verwendung von Stoffservietten, wenn man doch ebenso gut auch Papierservietten nutzen (und damit das leidige Waschen umgehen) könnte.

Alles, was wir tun, hat eine soziale Bedeutung. Unsere Kindheit, unser Familienleben, unsere Einkommensklasse und, damit zusammenhängend, unser gesellschaftliches Umfeld prägen unsere Lebensweise und die Art, wie wir mit der Welt im Großen und Kleinen interagieren. Ob wir wollen oder nicht – sowohl durch Verhaltensweisen als auch durch materielle Güter offenbaren wir unsere sozioökonomische Stellung. Der große Soziologe Pierre Bourdieu hat das in seinem Werk Die feinen Unterschiede herausgearbeitet: Status ergibt sich aus den »normalen« kulturellen und symbolischen Ausdrucksformen und ganz grundsätzlich aus der Art und Weise, wie wir leben.

Wir haben uns schon immer nach Status verzehrt. Das haben schon viele vor mir festgestellt. Die großartige britische Anthropologin Dame Mary Douglas hat dieses Phänomen vielleicht am besten beschrieben. In jüngerer Zeit hat sich zudem Daniel Miller in seinem Buch Consumption and Its Consequences diesem Thema gewidmet. Durch die Dinge, die wir kaufen, und durch die Art, wie wir sie benutzen, zeigen wir der Welt häufig, wo wir stehen. Da wären zum einen die ganz offensichtlich teuren Anschaffungen: große Häuser im richtigen Postleitzahlgebiet, Sportwagen, feines Porzellan und teure Uhren. Doch sogar durch unser Benehmen teilen wir mit, dass wir eine bestimmte Erziehung genossen haben oder eine gewisse Art zu leben pflegen. So auch, wenn wir zum Beispiel anstelle einer E-Mail einen handschriftlichen Gruß schicken oder unseren Lieben frische Blumen senden, oder auch dadurch, wie wir unser Besteck nach dem Essen hinlegen und so weiter. Fast all diese Verhaltensweisen deuten auf die gesellschaftliche Position hin und beruhen auf der Nutzung von sichtbaren Gütern und dem Wissen darüber, wie man diese auf eine bestimmte Art und Weise benutzt. Oder, wie es Douglas in ihrem Buch The World of Goods beschrieben hat: »Gegenstände sind sozusagen sowohl die Hardware als auch die Software eines Informationssystems … Gütern zur Befriedigung von körperlichen Bedürfnissen – Speis und Trank – haftet nicht weniger Bedeutung an als Ballett oder Poesie.«4

Gleichermaßen sollte unser Konsum von Gütern zu Prestigezwecken nicht auf die leichte Schulter genommen oder als bloßes Getue abgetan werden. Über unseren Konsum definieren wir uns zum Teil als Individuen und positionieren uns gegenüber gesellschaftlichen Gruppen (als Mitglieder dieser Gruppen oder als Außenseiter und manchmal beides gleichzeitig). Wir müssen unseren Güterkonsum als etwas betrachten, das im sozialen Gefüge zwischen uns Menschen eine komplexe Rolle spielt. Genauso wie unsere Arbeit oder die Struktur unserer Familie dazu beitragen, wer wir sind, so tragen auch unser Konsum und die Umgangsformen, die wir erlernen, dazu bei. Wir müssen Konsum als Mittel begreifen, welches wir benutzen, um Dinge zu signalisieren, die weit über das bloße Sichtbare hinausgehen.5

Unter Umständen hat keiner die gesellschaftliche Bedeutung von Konsum besser eingefangen und in Worte gefasst als der Gesellschaftskritiker und Ökonom Thorstein Veblen. In Veblens richtungsweisender polemischer Abhandlung Theorie der feinen Leute, die er zum Ende des 18. Jahrhunderts verfasst hat, geht es um genau diesen Zusammenhang zwischen materiellen Gütern und Status. Zum Höhepunkt des »Vergoldeten Zeitalters« und im Zuge der Erfolge der industriellen Revolution stand Veblens Werk symbolisch ganz und gar für die Zeit, in der er lebte. Er wurde zu einem der führenden Denker und populären Kritiker im Zeitalter des Fortschritts, der die Gewinne, den Konsum und die Verschwendung, die mit dem Wohlstand des Kapitalismus einhergingen, verspottete. Veblen ist vor allem für sein Konzept des »demonstrativen Geltungskonsums« bekannt, also der Idee, dass durch die Verwendung von bestimmten Gütern gesellschaftlicher Status offenbart wird. Veblens Kritik richtete sich vor allem gegen die »feinen Leute« beziehungsweise »die müßige Klasse« – die reichen Nichtstuer, die fortwährend unnötigerweise ihren gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stand durch materielle Güter, bei denen es sich vielfach um nutzlose Dinge ohne...

Erscheint lt. Verlag 14.6.2021
Übersetzer Judith Wenk
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel The Sum of Small Things
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte aspirational class • bewusster Konsum • Debattenbuch • eBooks • Hipster • Kaufverhalten • Konsumforschung • Konsumgesellschaft • Konsumgewohnheiten • Konsumkritik • konsum nachhaltig • Konsumverzicht • lifestyle • Marc Greif • neue Elite • Soziologie • Spaltung der Gesellschaft
ISBN-10 3-641-23216-3 / 3641232163
ISBN-13 978-3-641-23216-0 / 9783641232160
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