Undercover (eBook)
320 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-26290-7 (ISBN)
Er nannte sich Murat Cem. Doch in den Akten heißt er nur VP01. Unter welchem Namen er heute lebt, ist ebenso geheim wie sein Aufenthaltsort. Der Mann, der lange Zeit der wohl beste und wichtigste V-Mann Deutschlands war, blieb stets ein Phantom. Bis es den SPIEGEL-Reportern Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid gelungen ist, ihn zu treffen, fast ein Jahr lang zu begleiten und seine unfassbare Lebensgeschichte aufzuschreiben. Im verdeckten Einsatz für die Polizei überführte Murat Cem nicht nur Drogen- und Waffenhändler. Er klärte Morde auf und wurde zur wichtigsten Polizei-Quelle in der deutschen Islamistenszene. Seine Warnungen vor Anis Amri jedoch verhallten ungehört: Dessen Terroranschlag am Berliner Breitscheidplatz konnte er nicht verhindern. Die Polizei wollte ihren Zuträger kaltstellen, doch jetzt packt Murat Cem aus. Die Welt soll endlich erfahren, was er wirklich gesehen hat.
Jörg Diehl, geboren 1977, studierte Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft. Nach Stationen bei der »Rheinischen Post«, der Deutschen Presse-Agentur, dem Westdeutschen Rundfunk, Norddeutschen Rundfunk, »Bild« und »Bild am Sonntag« arbeitet er seit 2007 für den SPIEGEL, unter anderem als NRW-Korrespondent, Chefreporter und Leiter eines Investigativ-Teams. Seit Juni 2019 leitet er das Ressort Deutschland/Panorama. Zusammen mit Roman Lehberger und Fidelius Schmid veröffentlichte er »Undercover. Ein V-Mann packt aus«.
VORWORT
»Hallo ich bin die vp01 Murat.«
So beginnt es. Mit einer Mail, die keinen Text hat, sondern nur aus einer Betreffzeile besteht.
Es ist der 22. Januar 2018, es ist Mittag, genau 12.10 Uhr – und SPIEGEL-Redakteur Jörg Diehl steht in einem Café in der Friedrichstraße in Berlin und starrt auf sein Handy.
Die Mail wurde von einem merkwürdig klingenden Gmail-Account verschickt. Ist er das wirklich?
»VP01« ist der Codename eines Phantoms. Der Mann, der sich in seinen Einsätzen »Murat Cem« nannte, ist der wohl wichtigste Polizeispitzel der deutschen Kriminalgeschichte.
Murat Cem war eine sogenannte Vertrauensperson (VP) der Polizei, dessen Arbeit fast zwei Jahrzehnte lang im Verborgenen stattfand. Er hat in Dutzenden Einsätzen unzählige Verbrecher hinter Gitter gebracht. Und: Er ist der Undercover-Ermittler, der Anis Amri, dem mörderischsten Islamisten Deutschlands, nähergekommen ist als jeder andere Informant.
VP01 ist ein Politikum. Weil er schon früh vor Amri warnte und man ihm nicht glaubte. Weil er Wege ersann, wie Amri aus dem Verkehr hätte gezogen werden können. Und weil die Behörden ihn am Ende fallen ließen.
VP01 alias Murat Cem ist ein Vertreter jener schlecht beleumundeten Kaste von Informanten, auf die Polizei und Geheimdienste gerne als Quellen zurückgreifen. Oft sind es Kriminelle oder Mitglieder extremistischer Zirkel. Viele von ihnen sind unzuverlässig.
Die Bundesrepublik hat schon so manches Debakel mit ihren V-Männern erlebt: Der erste Verbotsantrag gegen die NPD scheiterte etwa, weil die Partei von Informanten durchsetzt war. Auch im Umfeld der rechtsterroristischen Mörderbande »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) trieben unzählige V-Leute ihr Unwesen – und keiner von ihnen wollte etwas bemerkt haben.
VP01 dagegen war schon damals, zum Zeitpunkt der ersten E-Mail im Januar 2018, eine Legende. Zahllose Artikel versuchten aus der Distanz sein Verhältnis zu Amri zu beschreiben – und fielen mehr oder minder gelungen aus. Viele Journalisten wollten den V-Mann aufspüren. Gerichte und parlamentarische Untersuchungsausschüsse drängten darauf, ihn vernehmen zu dürfen. Doch das nordrhein-westfälische Innenministerium blockte alle Anfragen ab. Öffentliche Auftritte seien für VP01 zu gefährlich, hieß es. Er befinde sich in einem Zeugenschutzprogramm und lebe an einem geheim gehaltenen Ort.
Und jetzt, an diesem Montagmittag, tippt VP01 eine Mail in sein Handy, in seiner Küche stehend, in einem rot geklinkerten Mehrfamilienhaus, in einem kleinen Ort irgendwo in Deutschland.
Aber das weiß von uns drei Autoren in diesem Augenblick noch niemand. Diehl ist misstrauisch, muss misstrauisch sein. Ist die Mail echt? Oder stammt sie von einem Spinner?
Wir beraten uns: Jörg Diehl, Roman Lehberger und Fidelius Schmid. Seit Jahren befassen wir uns mit innerer Sicherheit, wir arbeiten lange und eng zusammen. Häufig melden sich Menschen bei uns, die vorgeben, sie hätten tolle Informationen. Am Ende kosten viele von ihnen Zeit und Nerven, ohne dass etwas dabei herauskommt. Wir müssen ständig entscheiden, ob es sich überhaupt lohnen könnte, eine Story weiterzuverfolgen.
Im Fall von VP01 sind wir uns sofort einig, dass es sich lohnt. Wir müssen allerdings sichergehen, dass wir es wirklich mit dem legendären V-Mann zu tun haben.
Diehl antwortet auf die erste Mail mit einer Frage, die außer VP01 nur sehr wenige Menschen beantworten können. Wir kennen die Antwort aus vertraulichen Ermittlungsakten. Ein x-beliebiger Hochstapler dürfte darauf keinen Zugriff haben und würde die Frage nicht beantworten können.
Der Hinweisgeber ziert sich. Man solle ihn etwas anderes fragen, er habe Bauchschmerzen dabei, so etwas zu verraten. Diehl gibt einen Teil der Antwort vor, um zu zeigen, dass er sie schon kennt. Der zweite Teil der Antwort kommt prompt per Mail.
Die Antwort stimmt.
Es ist VP01 – und VP01 will reden.
Zwei Tage später. Das erste Telefonat: »Ja, hallo, hier Murat. Ich hatte Sie kontaktiert. Ich würde gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen wollen.« Er denke darüber nach, alles zu erzählen, sein ganzes irres Leben, er habe fast 20 Jahre lang undercover für die Polizei gearbeitet und wisse so viel über Anis Amri, über Hassprediger wie Hasan C. und Abu Walaa, über Mörder, Dealer, Waffenhändler.
Er denke an ein Buch. Ob man sich einmal treffen könne? Nur eines sei absolute Bedingung: Sein Gesicht dürfe niemals fotografiert werden! Wirklich niemals. Diehl sagt zu.
Doch einen Tag vor dem vereinbarten Treffen ruft VP01 erneut an: Die Sache sei ihm doch zu heiß, er brauche Zeit, er werde sich wieder melden.
Es vergeht mehr als ein Jahr – und nichts passiert. VP01 schweigt.
Dann kommt wieder eine Mail. Nur Text in der Betreffzeile, abgeschickt von einer anderen E-Mail-Adresse: »Hallo Herr Diehl haben Sie Interesse an einem Interview mit vp01 Murat?« Wieder ruft er an und kommt schnell zur Sache: »Was wir besprochen haben vor längerer Zeit. Können wir das machen?« Es sei jetzt an der Zeit. VP01 will reden, zum allerersten Mal. Aber er müsse eine Warnung aussprechen. »Das ist ein bisschen aufwändig, ganz ehrlich.«
Ein »bisschen aufwändig« wird für uns die Untertreibung des Jahres werden. Gemeinsam werden wir über Monate mit Murat reden, Dutzende Tage, Hunderte Stunden, in angemieteten Wohnungen, in Hotels, Cafés, auf Raststätten, in Autos, tagsüber und manchmal auch nachts. Wir werden Weggefährten von Murat treffen, seine Familie kennenlernen, Kriminelle und Polizisten, Verteidiger, Staatsanwälte und Ministerialbeamte befragen. Wir wühlen uns durch Zehntausende Seiten Akten, vor allem aus den Fällen gegen prominente Islamisten, aber auch aus älteren Kriminalfällen, in denen Murat Cem eingesetzt war. Und wir werden gemeinsam mit ihm die Orte seiner wichtigsten Einsätze besuchen.
Schließlich tauchen wir in ein Leben ein, das so voller »Action« ist, wie Murat selbst sagt, dass man zehn Leben damit füllen könnte und immer noch keine Langeweile aufkäme.
Murat Cem wurde geboren als Sohn türkischer Gastarbeiter, wuchs in einem Problemviertel auf, rutschte in die Kriminalität hinein, wurde von der Polizei erwischt, packte aus und stieg auf zum besten V-Mann, den die Ermittler in Nordrhein-Westfalen nach eigenem Bekunden je hatten. Er kaufte Drogen und Waffen, er überführte Mörder, er infiltrierte die Islamistenszene und schlief Kopf an Kopf mit Anis Amri in einer Moschee.
Einmal wäre er beinahe aufgeflogen und umgebracht worden, einmal wurde er ausgetrickst und um viel Geld betrogen, ständig wurde er mit dem Tod bedroht. Einmal raste er mit einer Handgranate im Kofferraum über die Autobahn, einmal verlor er seine falschen Ausweise, einmal brannte seine Wohnung aus, einmal … Aus Murats Erinnerungen könnte man eine Fernsehserie machen.
Als V-Mann war Murat Cem alias VP01 ein Star, ein Vollprofi in einem Beruf, den es eigentlich gar nicht gibt. Etwa 60 Einsätze, so sagte ein Beamter später, absolvierte Murat in all den Jahren für die Polizei. Er sei der Allerbeste in der ganzen Republik gewesen, priesen ihn Staatsschützer. Und dann, auf dem Zenit seines Schaffens, traf VP01 auf Anis Amri. Murat freundete sich vorgeblich mit ihm an und erkannte die Gefahr, die von dem Tunesier ausging. Er warnte die Polizei vor Amri, doch die zog ihn schließlich trotzdem von ihm ab.
Schlimmer noch: Das BKA glaubte, Murat sei ein Märchenerzähler, ein Wichtigtuer und Lügner. Den Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz sah Murat im Fernsehen, weinend. Das Attentat ist auch die große Tragödie seines Lebens. Die Frage, ob er die Tat hätte verhindern können, quält ihn bis heute. Amri ist sein Verhängnis geworden, so sieht Murat das.
Seit dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz ermittelt Murat Cem nicht mehr. Er weiß nicht, was aus ihm werden soll. Irgendein Job in einer Fabrik, schlecht bezahlt und tödlich langweilig, muss das sein? Wahrscheinlich weiß Murat, der heute Anfang 40 ist und sich knapp 20 Jahre lang verstellen musste, nicht einmal genau, wer er überhaupt ist. Dieses Buch sei für ihn auch eine Form der Therapie, sagt er.
Sein Leben ist eine Geschichte, in der Täuschung und Verrat alltäglich sind. In der es darum geht, das Vertrauen von Menschen zu gewinnen, ihnen nahezukommen, sich mit ihnen anzufreunden, um sie auszuhorchen und hinter Gitter zu bringen. Das ist Murats Job gewesen, seine Berufung – ein Mann in streng geheimer Mission. Über viele Jahre erzählte er nicht einmal seiner Ehefrau, was er genau mit der Polizei zu tun hatte.
»Ich habe es geliebt«, sagt Murat. Der Moment, wenn das SEK bei der Festnahme alle Beteiligten umgebrettert habe, sei das Beste gewesen. »Ein Rausch, einfach geil.«
Auch deswegen machte Murat weiter, immer weiter, bis sein Kopf glühte. Trotz zu vieler Aufträge und zu wenig Fürsorge. Murats Geschichte beleuchtet deswegen auch die dunklen Ecken der Strafverfolgung in Deutschland. Sein Fall offenbart Mängel im System und gesetzliche Lücken. An seinem Beispiel wird deutlich, wie V-Personen der Polizei in den toten Winkeln der Strafprozessordnung agieren – kaum kontrolliert und dadurch hocheffektiv. Fast zwei Jahrzehnte lang riskierte Murat sein Leben für den Staat. Und zahlte am Ende einen hohen Preis...
Erscheint lt. Verlag | 11.5.2020 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Maße | 140 x 140 mm |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Anis Amri • Breitscheidplatz • Drogen • Drogenhandel • eBooks • Islamismus • Terroranschlag • Verdeckte Ermittler • VP01 • Waffenhandel • Zeugenschutzprogramm |
ISBN-10 | 3-641-26290-9 / 3641262909 |
ISBN-13 | 978-3-641-26290-7 / 9783641262907 |
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Größe: 7,9 MB
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