Behinderung und Sexualität -  Barbara Ortland

Behinderung und Sexualität (eBook)

Grundlagen einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik
eBook Download: EPUB
2020 | 2. Auflage
268 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-031993-6 (ISBN)
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Wie entwickelt sich Sexualität unter der Lebensbedingung von Behinderungen? Welchen Einfluss haben verschiedene körperlich/motorische oder kognitive Beeinträchtigungen oder Formen von Autismus in Kindheit und Jugend? Wie kann sexuelle Entwicklung auch nach traumatischen Erfahrungen gelingen? Die Autorin gibt in diesem Buch einen umfassenden Überblick über aktuelle Erkenntnisse und fachliche Diskussionen (z.B. Einfluss Neuer Medien, die Queer-Debatte) sowie entsprechende sexualpädagogische Konsequenzen. Dafür wird ihr Konzept einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik praxisnah erläutert. Individuelle Erkenntnisse, Anregungen für den pädagogischen Alltag sowie Entwicklungsmöglichkeiten für die Organisation erwarten den /die pädagogisch interessierte/n Leser/in.

Dr. Barbara Ortland ist Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster.

Dr. Barbara Ortland ist Professorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster.

2          Verstehenszugänge zu Sexualität


 

 

 

Den Ausführungen in diesem Buch liegt ein weites Verständnis von Sexualität zugrunde, welches im Folgenden erläutert werden soll. In dieses Sexualitätsverständnis fließen theoretische Grundannahmen sowie Erkenntnisse ausgewählter wissenschaftlicher Disziplinen ein. Sie bestimmen sowohl das Verständnis von sexueller Entwicklung als auch die daraus resultierenden Konsequenzen für die Sexualpädagogik.

Für Menschen mit Behinderung können für die Gestaltung ihrer sexuellen Biografie analog zu den drei Ebenen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (vgl. Grampp 2018) folgende Aspekte relevant sein:

a)   Es kann von Bedeutung sein, inwiefern eine Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen auch die Funktionsfähigkeit der Sexualorgane betrifft. Diese Betroffenheit der ›Genital- und reproduktiven Funktionen‹, wie sie in der ICF genannt werden, kann ursächlich durch manche Schädigungsbilder bzw. Syndrome gegeben sein (z. B. Hypogonadismus beim Klinefelter-Syndrom). Dies ist aber eher selten der Fall. Störungen der sexuellen Funktionen können allerdings auch durch psychische Belastung, ungelöste innere Konflikte oder ungünstige biografische Erfahrungen ausgelöst werden bzw. bedingt sein (vgl. Aigner 2013, Beier/Loewit 2011). Damit soll nicht angenommen werden, dass sich monokausal belastende Behinderungserfahrungen in sexuellen Funktionsstörungen zeigen. Diese Möglichkeit sollte aber neben anderen Erklärungsmöglichkeiten im Blick behalten werden. Traumafolgestörungen ( Kap. 7) können sich bspw. im sexuellen Bereich manifestieren. Gemäß der drei Ebenen der ICF ist noch zu betrachten, wie sich eine Behinderung

b)   auf sexuelle Handlungsmöglichkeiten (Ebene der Aktivität) und damit auch sexuelle Erfahrungen, die für die Lernprozesse hochbedeutsam sind, auswirkt. Schließlich ist

c)   zu beschreiben, inwiefern und durch welche gesellschaftlichen Faktoren die sexuelle Selbstverwirklichung (Ebene der Teilhabe) beeinträchtigt sein könnte.

Abb. 4: Verstehenszugänge zu sexuellen Biografien vor dem Hintergrund der ICF

2.1       Definition von Sexualität


Der Begriff der Sexualität wurde erstmals 1820 von dem Botaniker August Henschel in seinem Buch »Von der Sexualität der Pflanzen« verwendet und bezeichnete die Aufteilung der Pflanzen in solche mit männlicher und solche mit weiblicher Ausprägung (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung Hamburg 2000). Aufgrund dieses Ursprungs ist es nicht verwunderlich, dass eine biologisch-medizinische Betonung der Sexualität zunächst vorherrschend war.

Freud hat dann dem damals vorherrschenden Triebmodell der Sexualität eine sehr differenzierte Beschreibung und Ausformung des Modells gegeben: Er »beschrieb damit vermutlich recht präzise das Erleben und Empfinden der Menschen, vor allem der Männer, um 1900« (Matthiesen/Schmidt 2013, 13). Aus der damaligen gesellschaftlichen Situation heraus schien dieses Modell für den Alltag und die Wissenschaft passend und das Erleben der Menschen erklärend. In dieser vorliberalen Zeit war Sexualität geprägt von Verzicht und Mangel und auch gefährlich in Bezug auf sexuell übertragbare Krankheiten und ungewollte Schwangerschaften. Im Zuge der sexuellen Liberalisierung konnte ein neues Konzept von Sexualität entstehen und auch akzeptiert werden:

»Heute verstehen und erleben wir Sexualität nicht mehr als Trieb, der wie ein Kessel auf dem Feuer funktioniert, sondern als Ressource, als eine (biologisch vorgegebene) Möglichkeit für Erregungs-, Lust-, Erlebnis- und Beziehungssuche« (ebd. 13).

In der sexualwissenschaftlichen und -pädagogischen Literatur finden sich durch die Jahrzehnte hinweg zahlreiche Versuche, Sexualität zu definieren. Die Autoren sind sich jedoch weitestgehend einig, dass sich die Vielfältigkeit menschlicher Sexualität kaum in einer Definition erfassen lässt (vgl. Aigner 2013, Lautmann 2002, Sielert 1993/2015). Aigner (2013, 11) umschreibt diese Herausforderung im Vorwort seines Buches folgendermaßen:

»Es (das Buch, Anm. B.O.) soll deutlich machen, dass Sexualität so vielfältig in unser Leben verstrickt ist, dass wir bei ihrer Erforschung immer ein breites Spektrum von Äußerungsformen im Auge haben müssen, um nicht der Gefahr zu erliegen, Sexualität tatsächlich in entfremdeter Form aus den großen Lebenszusammenhängen herauszureißen und zu isolieren« (ebd., Hervorhebung im Original).

Die gelebte Individualität und Intimität der verschiedenen subjektiven »Sexualitäten« (Sigusch 2007) sind einer starken (versuchten) gesellschaftlichen Beeinflussung dieses Lebensbereichs durch entsprechende Normen und Werte oder Gesetze ausgesetzt. Diese gesellschaftlichen Tendenzen sind aber ebenso wenig eindeutig oder klar beschreibbar bzw. wissenschaftlich fassbar und befinden sich in einem ständigen Wandel. Gesellschaftliche Veränderungsprozesse lassen sich am Beispiel der Gesetze zur Homosexualität in Deutschland kurz verdeutlichen: Waren homosexuelle Handlungen bis 1969 noch eine Straftat, ab 1994 erst durch die Abschaffung des §175 des Strafgesetzbuchs komplett straffrei, so ist seit Oktober 2017 das Gesetz der Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare in Kraft. Innerhalb von knapp 50 Jahren ist aus einer als strafbar bewertete sexuellen Handlung eine (mehr oder weniger) gesellschaftlich anerkannte Lebensform geworden (mit sicherlich regionalen Unterschieden).

Die eigene Sexualität im Rahmen gesellschaftlicher Veränderungsprozesse weiterzuentwickeln, ist somit als lebenslange Entwicklungsaufgabe eines jeden Menschen zu verstehen, in der er/sie in der Auseinandersetzung mit diesen gesellschaftlichen Anforderungen und den eigenen Wünschen, die sich durch sexuelle Erfahrungen ausdifferenzieren, zu einer eigenen, entwicklungsoffenen, sexuellen Identität finden sollte.

Trotz der deutlich gewordenen Komplexität von Sexualität soll nun der Schritt zu einer Arbeitsdefinition erfolgen. Dazu wird auf die Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurückgegriffen. Die WHO hat zwei Definitionen publiziert – sowohl eine kurze als auch eine umfangreichere Definition –, auf die (bzw. deren Übersetzung durch die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung BZgA 2011) an dieser Stelle als Arbeitsdefinitionen für die Ausführungen in diesem Buch zurückgegriffen wird:

Die kurze Definition lautet:

»Die menschliche Sexualität ist ein natürlicher Teil der menschlichen Entwicklung in jeder Lebensphase und umfasst physische, psychische und soziale Komponenten« (BZgA 2011, 18).

Diese drei Aspekte (physisch, psychisch, sozial) werden in den nächsten Teilen dieses Kapitels durch Ausführungen zur sexualmedizinischen, zur psychologischen als auch zur soziologischen Perspektive aufgegriffen, um die in dieser Definition deutlich werdende interdisziplinäre Betrachtung von Sexualität (ansatzweise) zu realisieren.

Die differenziertere Definition von Sexualität lautet:

»Sexualität bezieht sich auf einen zentralen Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechterrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen. Während Sexualität all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren« (ebd. 18).

Die 2008 von der Autorin publizierte Definition kann nun auf der Grundlage von Sielert (2015,40) als weiterhin gültig benannt werden: Sexualität kann begriffen werden als allgemeine auf Lust bezogene, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv oder...

Erscheint lt. Verlag 26.2.2020
Zusatzinfo 22 Abb., 4 Tab.
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Pädagogik Schulpädagogik / Grundschule
Schlagworte Aufklärung • Autonomie • Selbstbestimmung • Sexualerziehung • Sexualpädagogik
ISBN-10 3-17-031993-0 / 3170319930
ISBN-13 978-3-17-031993-6 / 9783170319936
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