Von den Deutschen lernen (eBook)

Wie Gesellschaften mit dem Bösen in ihrer Geschichte umgehen können

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020
592 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26690-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von den Deutschen lernen - Susan Neiman
Systemvoraussetzungen
8,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Deutschland als Vorbild? Susan Neiman vergleicht den deutschen und den amerikanischen Umgang mit dem Erbe der eigenen Geschichte.
Wie können Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen? Lässt sich - politisch gesehen - etwas von den Deutschen lernen? Als Susan Neiman, eine junge jüdische Amerikanerin, in den achtziger Jahren ausgerechnet nach Berlin zog, war das für viele in ihrem Umfeld nicht nachvollziehbar. Doch sie blieb in Berlin und erlebte hier, wie die Deutschen sich ernsthaft mit den eigenen Verbrechen auseinandersetzten: im Westen wie im Osten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Als dann mit Donald Trump ein Mann Präsident der USA wurde, der dem Rassismus neuen Aufschwung verschaffte, beschloss sie, dorthin zurückzukehren, wo sie aufgewachsen war: in die amerikanischen Südstaaten, wo das Erbe der Sklaverei noch immer die Gegenwart bestimmt. Susan Neiman verknüpft persönliche Porträts mit philosophischer Reflexion und fragt: Wie sollten Gesellschaften mit dem Bösen der eigenen Geschichte umgehen?

Susan Neiman,1955 in Atlanta, Georgia, geboren, war Professorin für Philosophie an den Universitäten Yale und Tel Aviv, bevor sie im Jahr 2000 die Leitung des Einstein Forums in Potsdam übernahm. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt Warum erwachsen werden. Sie lebt in Berlin.

1

Über Gebrauch und Missbrauch historischer Vergleiche


Böses tun immer nur die anderen. Unsere Leute sind stets sehr anständige Leute.1 In der Antike konnte eine unbeabsichtigte Missetat eine ganze Stadt unrein machen, wie uns die Geschichte von Ödipus lehrt. Selbst diejenigen, die die Lehre von der Erbsünde als abstraktes Konzept unterschreiben, neigen dazu, sie zu ignorieren, wenn es konkret wird. Wir verfügen über einen natürlichen Drang zu glauben, wir und unser Stamm machten durchaus Fehler, aber keiner davon sei so schlimm, dass er die Bezeichnung böse verdiene. Dieser Drang ist früheren Verbrechen gegenüber ebenso ausgeprägt wie gegenüber gegenwärtigen. Wir wünschen uns ehrbare und geehrte Vorfahren. Mein Großvater starb für seine geliebte Heimat, warum sollte das ein Verbrechen sein? Mein Großonkel war kein Rassist, er hat einfach sein Volk verteidigt. Wer die Debatten im Anschluss an das Entfernen von Flaggen und Denkmälern der Konföderation verfolgt hat, die 2015 laut wurden, nach dem Anschlag auf eine Kirche in Charleston, bei dem neun Menschen starben, wird solche Bemerkungen wiedererkennen. Einige kamen aus dem Mund weißer Rassisten, die in ihrer Wut über eine schwarze Familie im Weißen Haus ganz genau wussten, warum sie die Konföderationsflaggen wehen lassen wollten. Wer weniger böswillig war, wenngleich auch weniger ehrlich, berief sich vage auf die Familientradition. Variationen zu dem Thema sind von Richmond bis New Orleans zu hören.

Deutschen wird diese Rhetorik vertraut sein. Nichtdeutschen fällt es schwer zu begreifen, dass dergleichen Bemerkungen gemeinhin über die Wehrmacht gefallen sind, und das nicht in den düsteren, noch unter Schock stehenden Tagen unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation 1945, sondern am Ende des 20. Jahrhunderts, als die Wehrmachtsausstellung mit Westdeutschlands letztem Tabu brach. Das Hamburger Institut für Sozialforschung, das die Ausstellung zum Gedenken an den 50. Jahrestag des Kriegsendes organisiert hatte, war erstaunt, welche Reaktionen es damit auslöste. Bei ausländischen Beobachtern und selbst bei den meisten deutschen Historikern schien schließlich die These, die Wehrmacht habe systematisch Kriegsverbrechen begangen, in etwa so umstritten zu sein wie die, dass die Erde rund ist. Aber die Kluft zwischen historischer Forschung und öffentlicher Erinnerung stellte sich als riesig heraus. Mit etwa 18 Millionen Soldaten schloss die Wehrmacht ein größeres Spektrum der deutschen Gesellschaft ein als jede andere Naziorganisation. Reaktionen auf die Ausstellung zeigten, wie viele immer noch an den Mythos von der sauberen, ja tapferen Wehrmacht glaubten. Diese mutigen Männer, die ihre Heimat gegen die bolschewistische Gefahr verteidigt haben, waren nicht besser oder schlechter als Millionen von Soldaten vor oder nach ihnen.

Ursprünglich war eine begrenzte Laufzeit vorgesehen, doch am Ende besuchte fast eine Million Menschen die Ausstellung in 33 Städten. An ihr entzündeten sich Diskussionen in den verschiedensten Medien, sie füllte Talkshows und löste schließlich eine Debatte im Bundestag aus. In München marschierten fünftausend Neonazis hinter Transparenten her, auf denen Parolen wie DEUTSCHE SOLDATEN — HELDENTATEN zu lesen waren. Die gute Nachricht dabei: Selbst in München, der Hauptstadt der Bewegung, hatten sich zehntausend Gegendemonstranten versammelt.

Die Wut machte deutlich, wie viel Hindernisse überwunden werden müssen, bis Forschungsergebnisse in die persönliche Erinnerung eindringen. Jahrzehnte hatten deutsche Historiker daran gearbeitet, eine detaillierte Bilanz der Nazizeit zu ziehen, aber bestimmte Bewusstseinsschichten der Bevölkerung hatten sie damit nicht erreicht. Die Auswirkung der Wehrmachtsausstellung war erheblich; wie ihr Initiator, Jan Philipp Reemtsma, mir sagte, gilt die damals so umstrittene These von der Wehrmacht als einer verbrecherischen Organisation heute als selbstverständlich. Die Ausstellung wurde selbst zu einem Teil der Geschichte Nachkriegsdeutschlands. Kein Deutscher, der damals die Medien verfolgt oder sich seitdem mit der Nachkriegsgeschichte Deutschlands beschäftigt hat, kann sie ignoriert haben. Wenn jemand auf Deutschlands Versuche hinweist, sich mit seiner verbrecherischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, dann ist die Wehrmachtsausstellung Beweisstück A.

»Aber sicherlich …«, meinte ein gutmütiger älterer Herr aus Mississippi, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass die erste Nachkriegsgeneration von Deutschen sich in etwa so anhörte wie diejenigen, die die Geschichte der Konföderation damit verteidigen, dass man für eine verlorene Sache gekämpft habe. »Sicherlich war ihnen spätestens seit die Lager geöffnet worden waren klar, dass das, was sie getan hatten, das Böse in Reinkultur war.«

Sicherlich nicht.

Der Holocaust ist so sehr zum Paradigma des Bösen geworden, dass wenige sich heute eine Zeit vorstellen können, in der dies nicht selbstverständlich war. Die Deutschen wissen, dass sie einen langen, holprigen Weg haben zurücklegen müssen, bevor ihr Land dazu stehen konnte. Mein Interesse gilt vor allem der Frage, was andere von Deutschland lernen können, nachdem die Katastrophe vorbei war. Die Geschichte gibt uns Hoffnung, vor allem den Amerikanern, die sich gegenwärtig darum bemühen, mit ihrer eigenen zwiespältigen Geschichte zurechtzukommen. Hier ist ein Schlüssel zum Verständnis des heutigen Deutschland: Nahezu jeder Deutsche, den ich kenne, vom Politiker bis zum Popstar, brach in Gelächter aus, wenn er hörte, ich schreibe ein Buch mit diesem Titel. Die Ausnahme bildete ein früherer Kulturminister, der das alles andere als lustig fand, und mir in einem Berliner Restaurant aufgeregt erklärte, ich solle unter gar keinen Umständen ein Buch schreiben, das verkündet, man könne etwas von den Deutschen lernen. So wie es für anständige Deutsche zu einem unerschütterlichen Grundsatz geworden ist, dass der Holocaust das schlimmste Verbrechen in der Menschheitsgeschichte gewesen ist und niemals durch irgendwelche Vergleiche relativiert werden darf, so ist es auch zu einem Grundsatz geworden, dass diese Einsicht selbst sich viel zu langsam durchgesetzt hat. Die Vergangenheitsaufarbeitung der Deutschen ist, wie die abwehrenden Reaktionen zur Wehrmachtsausstellung gezeigt hatten, zu bruchstückhaft, zu langsam und vor allem zu unvollständig erfolgt. Ob ich denn nicht wisse, wie lange die Deutschen gebraucht hätten, um sich statt als größte Opfer als größte Übeltäter zu betrachten? Ob ich denn nicht wisse, dass viele immer noch dieser Ansicht huldigten? Ob ich denn nicht wisse, dass es immer noch Rassismus in Deutschland gebe, wofür gegenwärtig die AfD stehe, die erste rechtsradikale Partei, die nach dem Krieg genug Wählerstimmen auf sich vereinigt hat, um in den Bundestag einzuziehen?

Da ich die letzten vier Jahrzehnte hauptsächlich in Berlin verbracht habe, weiß ich das alles. Ich bin Philosophin, keine Historikerin und auch keine Soziologin: Aber aus Gründen, die tiefgreifend und bedrängend sind, habe ich mich bemüht, die Temperatur dieser einst fiebrigen Nation seit 1982 immer wieder zu messen — in erster Linie um zu entscheiden, ob es ein Ort ist, an dem ich jüdische Kinder großziehen könnte. 1988 kam ich zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei. Doch im Jahr 2000 änderte ich meine Meinung, weil die zaghaften Veränderungen, die in den 80er Jahren angestoßen worden sind, Wurzeln geschlagen hatten.

Tatsächlich sind es gerade die Fehlschläge der Vergangenheitsaufarbeitung, die den Bürgern anderer Nationen, die sich mit vergleichbaren Problemen auseinandersetzen müssen, Zuversicht spenden, und das ist nur scheinbar ein Paradox. Diejenigen, die sich beispielsweise im Süden der Vereinigten Staaten für soziale Gerechtigkeit einsetzen und darum kämpfen, dass ihre Mitbürger sich fragen, wie ihre rassistische Geschichte die rassistische Gegenwart beeinflusst, wissen vor allem, wie schwer das ist. Die Eingeständnisse sind zu defensiv, der Rassismus ist zu hartnäckig und der Drang zu stark, auf seiner eigenen Opferrolle zu bestehen. Zu erfahren, dass es Jahrzehnte harter Arbeit bedurfte, bevor diejenigen, die, wie man wohl behaupten darf, die schlimmsten Verbrechen in der Geschichte begangen hatten, diese anerkannten und darangingen, Sühne zu leisten, verschafft denjenigen enorme Erleichterung, die sich für eine ähnliche Anerkennung in den Vereinigten Staaten einsetzen. Wenn es selbst für die, die im Herzen der Finsternis aufgewachsen sind, Zeit und Mühsal bedeutete, bis sie das Licht sehen konnten, warum sollte es dann nicht Zeit und Mühsal brauchen, um Amerikaner — die jahrelang nur zu hören bekommen hatten, wie...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Übersetzer Christiana Goldmann
Sprache deutsch
Original-Titel Learning from the Germans. Race and the Memory of Evil
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Aufarbeitung • Autorin • Deutsche • Erinnerung • Erwachsen • Geschichte • Holocaust • jüdische • Memoir • Memoria • Nachgeborenengeneration • Nazideutschland • #ohnefolie • ohnefolie • Philosophie • philosophische • Politische • Rassismus • Reflexion • Sklaverei • Vergangenheitsbewältigung • Warum • Werden
ISBN-10 3-446-26690-9 / 3446266909
ISBN-13 978-3-446-26690-2 / 9783446266902
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99
Wie aktivistische Wissenschaft Race, Gender und Identität über alles …

von Helen Pluckrose; James Lindsay

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
16,99
Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens

von Carlo Masala

eBook Download (2022)
C.H.Beck (Verlag)
12,99