Autoritarismus (eBook)

Verfassungstheoretische Perspektiven
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2020 | 1., Originalausgabe
373 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76176-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Autoritarismus - Günter Frankenberg
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Warum geben sich autoritäre Regime Verfassungen? Reicht es, diese als bloße Fassaden oder »Verfassungen ohne Verfassungskultur« abzutun? Nein, sagt Günter Frankenberg, und zeigt in seinem neuen Buch, dass man sie als für ein Publikum geschriebene Texte, mit denen Zwecke verfolgt werden, ernst nehmen und kritisieren muss. Partizipation als Komplizenschaft, Macht als Privateigentum und der Kult der Unmittelbarkeit leisten als wesentliche Merkmale des autoritären Konstitutionalismus der imaginären Gemeinschaft von Herrschern und Beherrschten Vorschub und prägen die unterschiedlichen Varianten autoritärer Verfassungspraxis - vom Faschismus über kleptokratische und patrimoniale Systeme bis hin zum Populismus.

<p>Günter Frankenberg ist Professor für Öffentliches Recht, Rechtsphilosophie und Rechtsvergleichung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.</p>

9Einleitung


»Eine Regierungsherrschaft nähert sich der Vollkommenheit, je mehr sie durch die Kraft ihrer Verfassung die Untertanen, und selbst die am wenigsten tugendhaften, dazu bestimmt, freiwillig zu tun, was das Gemeinwohl erfordert …«[1] 

Alle weltgeschichtlichen Ereignisse von Bedeutung geschehen zweimal, heißt es. Ebenso treten alle historischen Personen ebenfalls zweimal auf. In diesem Punkt waren sich Hegel und Marx weitgehend einig. Marx fügte präzisierend, wie er meinte, hinzu: »das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce«.[2]  Vorsicht legt nahe, zwei Geistesgrößen nicht gleich am Anfang zu widersprechen. Also soll es zunächst bei einigen Fragen bleiben: Wäre demnach die rechtspopulistische Ehe von Cinque Stelle und Lega[3]  in Italien die Farce zur Tragödie des italienischen Faschismus, die Benito Mussolini und seine Schwarzhemden schrieben? Erlebt Ungarn derzeit mit Viktor Orbán, ebenfalls als Farce, den Wiedergänger der stalinistischen Tragödie unter Mátyás Rákosi?[4]  Geradeso wie 10Donald Trump Erinnerungen an Richard M. Nixons Tragödie der Demokratie wachruft? – Nicht wirklich. Oder genauer: nicht in jeder Hinsicht.

Der strenggläubige Sunnit Sultan Selim I. regierte das Osmanische Reich von 1512 bis 1520.[5]  In seiner Regierungszeit verdiente er sich allemal das Prädikat »der Gestrenge und Grausame«: Er entmachtete seinen Vater, ließ nach der Übernahme der Macht seine Brüder und Neffen hinrichten, bekämpfte die Schiiten und Alewiten, führte Krieg gegen Persien und ließ es, auch in Friedenszeiten, an weiteren Grausamkeiten nicht fehlen. Würde Marx dies als die Tragödie bezeichnen, zu der Recep Tayyip Erdoğans autoritäres Regime heute die Farce als Nachspiel gibt? Vermutlich sähe der türkische Präsident sich nicht ungern als zeitgemäße Version jenes strenggläubigen osmanischen Herrschers. Nachdem die türkische Gesellschaft sich selbst unter Kemal Atatürk einen neuen Inhalt erobert hatte, scheint nun »der Staat zu seiner ältesten Form zurückgekehrt, zur unverschämt einfachen Herrschaft von Säbel und von Kutte«.[6] 

Dennoch mag man der verführerischen Metapher von Farce und Tragödie, erst recht ihrer Abfolge nicht trauen. Und selbst wenn die Sequenz sich umkehren ließe – beim Wechsel von Hugo Chávez zu seinem Nachfolger Nicholás Maduro in Venezuela wäre das wohl angezeigt –: die Opfer einer Farce werden gegen die Marx’sche Umdeutung von Hegel Widerspruch einlegen. Das wohl zu Recht.

Autoritarismus: Apocalypse now?


Bliebe das 20. Jahrhundert als Epoche der Menschenrechte in Erinnerung, ließe sich dem nachfolgenden Jahrhundert ohne weiteres der Durchbruch der liberalen Demokratie gutschreiben. Freilich werden beide von tiefen Schatten verfinstert. Staatlich organisierte Vernichtung, Gewalt, Massaker, Folter und Vertreibungen haben sich in die Bilanz des vergangenen Jahrhunderts eingetragen.[7]  Und 11es fehlt nicht an Hinweisen, dass autoritäre Regime seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch sind, wenn sie nicht bereits seit langem im Hintergrund oder im Mantel der Normalität auf ihre Stunde gelauert haben.

Die Renaissance des politischen Autoritarismus,[8]  ja des »Aufstiegs einer neuen autoritären Internationalen« oder der Globalisierung des Autoritarismus,[9]  von der allenthalben die Rede ist, lässt sich beziffern. Nach dem Transformationsindex BTI der Bertelsmann-Stiftung wuchs die Bevölkerung in Autokratien von 2003 bis 2017 von 2,3 auf 3,3 Milliarden, und derzeit 58 von 128 Staaten werden als Autokratien geführt.[10]  Demokratien verzeichnen dagegen nur einen bescheidenen Bevölkerungszuwachs von 4,0 auf 4,2 Milliarden. Andernorts zählt die quantitative Forschung dieser Tage sogar mehr autokratische als demokratische Regime und Verfassungen.[11]  Nach den meisten vorliegenden Untersuchungen wird die Mehrheit der Gesellschaften wohl (noch) demokratisch regiert. Ein eher schwacher Trost.

Kein Wunder also, dass neuerlich ein apokalyptischer Ton zu vernehmen ist. Seine Träger begnügen sich nicht damit, die ohnehin erschreckenden Zahlen zu nennen, sondern folgern aus dem autoritären Immer-Mehr – nach Art einer Nullsummenrech12nung – ein Immer-Weniger an Demokratie: die »Umkehrung von 1989«, Gefährdungen der Freiheit, der Zerfall, die »Entleerung«, das »Schwinden« oder gar der »Tod« der Demokratie.[12] 

In Europa, das sich als Union auf gutem Weg zu Wohlstand, Demokratie und einem langen, fast schon »ewigen Frieden« wähnte, an dem Kant[13]  seine Freude gehabt hätte, zeigen sich – in seinem Zentrum und an der Peripherie – neue Phänomene des autoritären Konstitutionalismus und der Missachtung von Demokratie und Menschenrechten. Präsidialkabinette, Übergänge zu autoritären Entscheidungsverfahren[14]  in Finanzkrisen, nationalradikale, sich dem »wahren Volk« andienende Regierungsparteien treten als Gespenster einer Vergangenheit auf, die längst gebannt schien, aber nicht vergehen will. Sie werden begleitet von außerparlamentarischen Bewegungen und von noch nicht organisierten Mentalitäten, 13die die Flucht ins Autoritäre angetreten haben oder der autoritären Versuchung bereits erlegen sind.[15] 

Im Bermuda-Dreieck von Rasse, Ethnie und Nation verbündet sich das organisierte Ressentiment gegen Fremde und Eliten mit Intoleranz gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, die als »Minderheiten« geführt werden.[16]  Autokraten greifen nach der Macht und der Verfassung. Selbst in Gesellschaften, die es besser wissen sollten und den Anschein erweckten, auf dem Weg zu einer nachhaltigen Demokratisierung zu sein, wie Polen und Ungarn, fahren antidemokratische Rhetorik und offen propagierte Illiberalität erhebliche Wahlerfolge ein. In Italien stellte eine bizarre, als rechtspopulistisch bezeichnete Koalition, vereint im Affekt gegen Eliten, Fremde und Brüssel, bis Mitte 2019 die Regierung. Frankreichs nationalistischer Rassemblement National, vor 2018 Front National, hofft in einer durch die Wahlniederlage gekränkten Opposition, die Proteste der »Gelben Westen« könnten zum Sturz der Regierung Macron führen und dann ihnen selbst die Macht in den autoritären Schoß legen.

Unter Hilfestellung eines antiquierten Wahlsystems erlagen die USA 2016 »mehrheitlich« der autoritären Versuchung. Präsident Donald Trump demonstriert seitdem, wie zügig es gelingt, in einer Demokratie, von der es hieß, sie sei gefestigt, das rhetorische Arsenal des Autoritarismus zu öffnen und sich dessen Waffen zu bedienen. Er demonstriert seit seinem Wahlsieg, wie leicht sich eine (vielleicht hierfür ohnehin anfällige) politische Kultur durch die Normalisierung rassistischer, sexistischer und xenophober Ausfälle regierungsamtlich vergiften und die Stimmung eines Belagerungszustandes herstellen lässt.

Wenn man von bizarren Trägern und Versionen des politischen Autoritarismus absieht, wie (bis vor wenigen Jahren) Robert Mugabes postkolonialer Diktatur der Grausamkeit in Zimbabwe, dem postsowjetischen Despotismus eines Gurbanguly Berdymuhamedow in Turkmenistan oder dem absolutistischen Zentrum des islamisch-wahhabitischen Fundamentalismus in Saudi-Arabien, fällt der Blick auf Regime, die den weniger auffälligen und deshalb nicht 14weniger gefährlichen Standard des Autoritarismus markieren. Zu denken ist etwa an Russland, Weißrussland, Thailand, Kambodscha, Iran, Bangladesch, Burundi, Ruanda, Pakistan, Libanon, Türkei, Uganda, Mosambik, Malaysia, Ägypten, Polen, Ungarn, Indien (Modi) und viele mehr. Einzurechnen in diese Gruppe wären geschickt taktierende Militärregime (in Myanmar) oder auch der eben gewählte brasilianische Präsident und Oberst der Reserve Jair Bolsonaro, der aus seiner Bewunderung für Militär, Folter und sonstige Gewalt keinen Hehl macht. Gewählt von der...

Erscheint lt. Verlag 20.1.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte Autokraten • Faschismus • Populismus • STW 2286 • STW2286 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2286 • Verfassung • Verfassungsrecht
ISBN-10 3-518-76176-5 / 3518761765
ISBN-13 978-3-518-76176-2 / 9783518761762
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