Kursbuch 200 -

Kursbuch 200 (eBook)

Revolte 2020
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
200 Seiten
Kursbuch Kulturstiftung gGmbH (Verlag)
978-3-96196-100-9 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Als das Kursbuch vor 200 Ausgaben antrat, zog es mit seinen Themen und Autoren in die Schlacht: Intellektuell mit Schwert und Schild ausgerüstet, bereit, den Kampf gegen das Schweigen auszufechten. Das Kursbuch etablierte einen Ort für Gemengelagen, die nach Diskussion lechzten, für die es aber kein Forum gab. Das Kursbuch war eine Stimme einer Generation, die darum bemüht war, ihre Fragen gegen die Tabuisierung durchzusetzen. Es war ein Vehikel von Kritik und Gegenkritik, einer linksliberalen Denkungsart, die sich jeder stumpfen Vereinnahmung entzog. Demgegenüber vereint unsere heutige Gesellschaft so viele - gleichzeitig nebeneinanderstehende - Perspektiven, dass kein Fluchtpunkt mehr als gemeinsam und legitim zu erkennen ist. Jede Kritik verhallt im Gebrabbel sich gegenseitig verstärkender Protestchen, jeder Protest - auch physisch in Form von Märschen, Demonstrationen, Happenings - entzündet allenfalls ein Glimmen einer Veränderungsdebatte. Die 200. Ausgabe des Kursbuchs kehrt kurzfristig wieder zu seinen Wurzeln zurück. Wie werden Protest und Revolte heute legitimiert? Gibt es ein Früher im Heute? Wo ist der jakobinische Tugendterror noch zu finden? Welche Verbindungslinien gibt es zwischen Frühsozialismus und Postmaterialismus? Was haben Popkultur und Klimaprotest gemeinsam? Gegen was kann man überhaupt noch sein?

PETER FELIXBERGER (*1960) ist Herausgeber des Kursbuchs und Programmgeschäftsführer der Murmann Publishers. Als Buch- und Medienentwickler ist er immer dort zur Stelle, wo ein Argument ans helle Licht der Aufklärung will. Seine Bücher erschienen bei Hanser, Campus, Passagen und Murmann. Dort auch sein letztes: 'Wie gerecht ist die Gerechtigkeit?' ARMIN NASSEHI (*1960) ist Soziologieprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Herausgeber des Kursbuchs und einer der wichtigsten Public Intellectuals in diesem Land. Im Murmann Verlag veröffentlichte er unter anderem 'Mit dem Taxi durch die Gesellschaft', in der kursbuch.edition erschien 'Gab es 1968? Eine Spurensuche'.

Jasmin Siri
SPD: Revoluzzer, Lampenputzer
Über das Dilemma, eine ordentliche Revolution zu veranstalten

Die Entstehungsgeschichte der Arbeiterbewegung liest sich als eine wilde Geschichte des Lernens und des Scheiterns, der Erfolge und der Rückschläge. Sie ist chaotisch, voll der Mühe, Ordnung und Aktivität gleichermaßen herzustellen, gezeichnet von Kämpfen um Deutungsmacht und politische Ziele. Ein Ergebnis dieser Konstellation ist die Gründung der ältesten deutschen Partei, der SPD. Die Entstehung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands resultiert aus einem Amalgam kontingenter historischer Ereignisse und organisatorischer Lernerfahrungen. Sie ist ein paradigmatisches empirisches Beispiel für das Werden politischer Organisation und – in jüngster Vergangenheit – nicht zuletzt für deren Scheitern an moderner Gesellschaft. Im Folgenden soll diese Entwicklung knapp rekapituliert werden, um einige Motive herauszuarbeiten, die bis heute etwas über die Politik der Sozialen Demokratie erzählen. Diese Motive finden sich bis heute im kulturellen Gedächtnis der sozialdemokratischen Parteiorganisation. Und so, wie sie einst ihre Erfolge begründeten, erzeugen sie heute Anpassungsprobleme.

Revoluzzen lernen, oder: Die junge Arbeiterbewegung scheitert voran

In der jungen Arbeiterbewegung, deren Entstehung mit der schweren Wirtschaftskrise im Jahre 1847 und der Gründung des Deutschen Arbeitervereins im selben Jahr datiert werden kann, ging es zunächst darum, das Diskutieren und das Organisieren zu erlernen, eine kritische Masse an politischem Personal zu rekrutieren und eine gewisse Resilienz psychischer wie auch organisatorischer Art gegen Verfolgung herzustellen. Ideen für Kongresse und Termine für Treffen scheiterten an Geld, Ort, Zeit oder Schikanen. Die politisch Tätigen der jungen Bewegung wurden verfolgt, verhaftet und wieder freigelassen (und wieder verhaftet und wieder freigelassen). Zeitungen und Vereine wurden gegründet, verboten und wieder erlaubt, Organisationen entstanden, spalteten sich, wurden zusammengelegt. Manche gingen auch am mangelnden Interesse der Arbeiterschaft wieder ein. Der Streik als politisches Mittel wurde entdeckt und durch die Organisation von Arbeitervereinen gegen heftige Widerstände kontinuiert. Das alles fand statt – es ist sehr wichtig, das zu betonen – unter der Prämisse, dass es keine Vorbilder für demokratische politische Organisationen in Deutschland gab.1

Die SPD ist die älteste Partei Deutschlands. Aus dem von Ferdinand Lassalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV, 1863) und der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (1869) August Bebels wurde 1875 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands, welche, wiederum nach einem Parteiverbot, als SPD 1890 neu gegründet wurde. Trotz der Sozialistengesetze und anderer Bemühungen, die Partei zu verhindern, wurde sie immer erfolgreicher und erlangte bei den Wahlen zum Reichstag 1912 schließlich knapp 35 Prozent der Stimmen. Diese Erfolgsgeschichte konnte aber nicht darüber hinwegretten, dass sich inhaltlich wie auch habituell unterschiedliche Faktionen zu einer sehr heterogenen Mitgliedschaft vereinten.

Als Pole des programmatischen Kontinuums der jungen SPD können im Sinne einer Hilfskonstruktion die sozialrevolutionäre Position Rosa Luxemburgs und die revolutionskritisch-autoritäre Position Gustav Noskes angenommen werden. Die Frage nach einer internationalistischen oder nationalen Ausrichtung der Politik spielte dabei eine erhebliche Rolle, ebenso wie die (zunächst noch theoretische) Differenz von Reform und Revolution. Die junge Sozialdemokratie vor 1871 hatte folgende Ziele: allgemeines Wahlrecht, Recht zur Gründung von Gewerkschaften, nationale Einheit (»Durch Einheit zur Freiheit«), eine einheitliche Arbeiterpartei und die Forderung nach der Durchsetzung des Parlamentarismus.2 Deutlich wurde aber dann, dass über die Mittel zur Erreichung dieser Ziele wie auch über die Frage, wie schnell sie zu erreichen wären, unter den verschiedenen Gruppen, die sich in der Sozialdemokratie vereinten, keine Einigung bestand.

Die Politik des Ausschlusses, oder: Ein Schisma und die Geburt der Fraktionsdisziplin

Und so findet, nicht allzu überraschend, im Zuge des Ersten Weltkriegs ein erstes Schisma der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratischen Partei statt. Aufgrund von heftigen Differenzen über die Frage von Krieg und Frieden zerbricht die ohnehin labile innerparteiliche Solidarität und es setzen innerhalb der Mitgliedschaft drei Bewegungen ein. Während die Ersten austreten oder sich in Vereins- und Parteineugründung versuchen, argumentiert die zweite Gruppe wie Luxemburg und Liebknecht für eine »Zurückeroberung der Partei« – ein Motiv, das bei der Selbstkritik der Sozialdemokratie bis heute eine Rolle spielt. Diesem Ansinnen machte die Parteiführung, das ist die dritte innerparteiliche Bewegung, durch eine Politik des Ausschlusses ein Ende. Dass sich die USPD gründete beziehungsweise dass ihr so viele ehemalige SPD-Mitglieder beitraten, hatte also gar nicht nur inhaltliche Gründe – auch innerhalb dieser Partei sollten unterschiedliche Positionen zwischen Revolutionsbefürwortern und Revolutionsgegnern bald zu Konflikten führen. Vielmehr war es eine machtpolitische und straff organisierte Strategie des Parteivorstandes, kritische (das waren übrigens keineswegs nur radikal linke, spartakistische) Positionen zum Schweigen zu bringen.

Die Zustimmung zu den Kriegskrediten war ein erster heftiger Schlag für das linke Lager der Sozialdemokratie. Die Abwehr der Revolution ein weiterer. Die Niederschlagung des Spartakusaufstandes durch die Regierung Ebert zementierte einen bis heute vernehmbaren Vorwurf gegen die Sozialdemokratie, der sich im Ruf »Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!« und der Gründung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) manifestierte. Auch die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 durch rechtsradikale Freikorps vertiefte diese Spaltung, da der sozialdemokratische Volksbeauftragte für Heer und Marine, Gustav Noske, die Festsetzung Luxemburgs und Liebknechts veranlasst und nichts dafür getan hatte, deren Leben zu schützen.3 So ranken sich um die Ermordung von Luxemburg und Liebknecht noch bis heute zahlreiche Spekulationen, die der ungenauen Quellenlage und der chaotischen Situation der Revolution geschuldet sind. Auf der Folie von Krieg und alltäglicher politischer Gewalt vollzog sich so eine symbolisch wie weltanschaulich hochwirksame Spaltung, von der sich die Sozialdemokratie nie ganz erholen sollte. Mit der Gründung der KPD war das Schisma der Sozialdemokratie spätestens vollzogen, das sich viele Jahre später an der Frage der Reform des Sozialstaates ein zweites Mal, wenngleich demokratisch pazifiziert, zunächst mit der Gründung der WASG (Arbeit & soziale Gerechtigkeit – die Wahlalternative) und später mit deren Vereinigung mit der Partei Die Linke wiederholen sollte.

Erich Mühsam

Der Revoluzzer 4
(Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet)

War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: »Ich revolüzze!«
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
schrie: »Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt! –
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!«

Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.

Das Lob der »staatspolitischen Verantwortung«: Revoluzzen als Verwaltungsakt?

Mühsams Gedicht »Der Revoluzzer« beschreibt eine Wahrnehmung der Sozialdemokratie als wenig kämpferische und wenig konsequente politische Bewegung. Der Revoluzzer, im Zivilstand Lampenputzer, fühlt sich für sein Leuchtewerk – den jungen Parlamentarismus und die »gute Ordnung« – verantwortlich und tut sich daher schwer, es der revolutionären Wut zu opfern. Zwar teilt er die Ziele der Revolution, und doch, er schleicht sich weg, als die Gaslaternen zu Bruch gehen, und arbeitet sich anschließend an der Frage ab, wie Revolution und der Schutz der Lampen vereinbar wären. Das Spannungsverhältnis von Revolution und Reform ist damit gut beschrieben, und auch die Häme gegenüber der Reform als halber Sache, ein wichtiges Motiv für linke Kritik bis heute, wird mit dem Gedicht exemplarisch vorgeführt. Auf der anderen Seite – und dies wird mittels der Häme und des Konsequenzialismus im Mühsam’schen Sinne invisibilisiert – machten sich Friedrich Ebert und andere Sozialdemokraten Sorge um eine junge und verletzliche Demokratie, deren Schutz nicht die erste (und auch nicht die zweite oder dritte) Sorge spartakistischer Politik war.

Mit der Abwehr revolutionärer Gedanken und der dahinter stehenden Angst vor zu schneller und zu nachhaltiger Veränderung auf der einen, der Sorge um Demokratie auf der anderen Seite...

Erscheint lt. Verlag 2.12.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-96196-100-X / 396196100X
ISBN-13 978-3-96196-100-9 / 9783961961009
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 7,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Die EU auf dem Weg zu einer neuen Identität

von Heinz Handler

eBook Download (2024)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
29,99