Sprache und Sein (eBook)

Spiegel-Bestseller
eBook Download: EPUB
2020
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26689-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sprache und Sein - Kübra Gümüsay
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Kübra Gümüsay beschreibt wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. 'Ein beeindruckendes Buch, poetisch und politisch zugleich.' Margarete Stokowski
Dieses Buch folgt einer Sehnsucht: nach einer Sprache, die Menschen nicht auf Kategorien reduziert. Nach einem Sprechen, das sie in ihrem Facettenreichtum existieren lässt. Nach wirklich gemeinschaftlichem Denken in einer sich polarisierenden Welt. Kübra Gümüsay setzt sich seit langem für Gleichberechtigung und Diskurse auf Augenhöhe ein. In ihrem ersten Buch geht sie der Frage nach, wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt. Sie zeigt, wie Menschen als Individuen unsichtbar werden, wenn sie immer als Teil einer Gruppe gesehen werden - und sich nur als solche äußern dürfen. Doch wie können Menschen wirklich als Menschen sprechen? Und wie können wir alle - in einer Zeit der immer härteren, hasserfüllten Diskurse -­ anders miteinander kommunizieren?

Kübra Gümüsay, geboren 1988 in Hamburg, ist eine der einflussreichsten Journalistinnen und politischen Aktivistinnen unseres Landes. Sie studierte Politikwissenschaften in Hamburg und an der Londoner School of Oriental and African Studies. 2011 wurde ihr Blog Ein Fremdwörterbuch für den Grimme Online Award nominiert. Sie war Kolumnistin der tageszeitung und stand mehrfach auf der TEDx-Bühne. Die von ihr mitbegründete Kampagne #ausnahmslos wurde 2016 mit dem Clara-Zetkin-Frauenpreis ausgezeichnet. Nach Jahren in Oxford lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn wieder in Hamburg.

 

 

Die Macht der Sprache

 

Ich führe die Gestalt hinüber – in die Welt des Es.

Martin Buber

 

 

Was war zuerst da: unsere Sprache oder unsere Wahrnehmung?

Es ist viele Jahre her. In einer warmen Sommernacht am Hafen einer Kleinstadt im Südwesten der Türkei tranken wir Schwarztee und entkernten gesalzene Sonnenblumenkerne in entspanntem Schnelltempo. Meine Tante schaute aufs Meer, in die tiefe, ruhige Dunkelheit, und sagte zu mir: »Sieh nur, wie stark dieser yakamoz leuchtet!« Ich folgte ihrem Blick, konnte aber nirgendwo ein starkes Leuchten entdecken. »Wo denn?«, fragte ich sie. Sie deutete erneut auf das Meer, doch ich wusste nicht, was sie meinte. Lachend schalteten sich meine Eltern ein und erklärten, was das Wort yakamoz bedeutet: Es beschreibt die Reflexion des Mondes auf dem Wasser. Und jetzt sah auch ich das helle Leuchten vor mir in der Dunkelheit. Yakamoz.

Seither sehe ich es bei jedem nächtlichen Spaziergang am Meer. Und ich frage mich, ob die Menschen um mich herum es auch sehen. Auch jene, die das Wort yakamoz nicht kennen. Denn Sprache verändert unsere Wahrnehmung. Weil ich das Wort kenne, nehme ich wahr, was es benennt.

Wenn Sie eine andere Sprache neben der deutschen sprechen, dann fallen Ihnen mit Sicherheit zahlreiche Begriffe ein, die Phänomene, Situationen oder Gefühle beschreiben, für die es im Deutschen keine exakte Übersetzung gibt.

So beschreibt das japanische Wort komorebi das Sonnenlicht, das durch die Blätter von Bäumen schimmert. Gurfa, ein arabisches Wort, steht für die Menge an Wasser, die sich in einer Hand schöpfen lässt. Das griechische Wort meraki beschreibt die hingebungsvolle Leidenschaft, Liebe und Energie, mit der sich jemand einer Tätigkeit widmet. Und kennen Sie diese Situation: Sie sind unterwegs in einer fremden Stadt, jemand gibt Ihnen eine Wegbeschreibung, Sie hören aufmerksam zu, und kaum, dass Sie loslaufen, haben Sie die Beschreibung wieder vergessen? Es gibt im Hawaiianischen ein Wort dafür: akihi.

Und es gibt das türkische Wort gurbet.

Es war vor Jahren, ich lebte damals in Oxford, Großbritannien. An einem Festtagsmorgen, an Bayram, hörte ich einen Radiobeitrag über das Bayramfest in Deutschland. Der Sprecher erzählte von Vätern, die sich im Morgengrauen auf den Weg in die Moschee machen, von der Aufregung, die in den Häusern herrscht, den letzten Vorbereitungen für das gemeinsame Frühstück und den Kindern, die in ihren neuen Kleidern und mit frisch gekämmtem Haar erwartungsvoll um die Geschenktüten herumtanzen.

Die vertrauten Geräusche aus dem Radio erfüllten unsere Küche – und ich spürte zum ersten Mal, seit ich im Ausland lebte und durch die Weltgeschichte reiste, die Leere, die dabei entstanden war. Ich merkte, dass mir die vertrauten Menschen fehlten: meine Eltern und Geschwister, meine Großeltern, Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins. Die Älteren der Gemeinde, die mich jedes Mal fest an sich drückten und davon erzählten, wie ich als Kind gewesen sei und wie schnell die Zeit doch vergehe. All die Menschen, die mich liebten, einfach so. Ich trauerte um ihre Abwesenheit.

Doch eigentlich waren nicht sie abwesend, sondern ich. Ich war fort, ich lebte im gurbet.

Als ich mich an meinen Schreibtisch setzte und versuchte, meine Gefühle in Worte zu fassen, tanzten meine Finger auf der Tastatur. Ich schrieb fließend, ganz natürlich. Erst viel später bemerkte ich überrascht, dass ich auf Türkisch geschrieben hatte. Dabei sprach und dachte ich in jenen Tagen meist auf Deutsch oder Englisch. Doch mein Gefühl, die große Sehnsucht in der Fremde, hatte am besten das türkische Wort gurbet erfasst. Würde ich es als »das Leben in der Fremde« übersetzen, könnte ich damit meinem Gegenüber nur unzureichend beschreiben, was dieses Wort in mir auslöst.1

Gurbet ist einer der vielen Begriffe, für die ich im Deutschen keine einfache Übersetzung finde. So wie ich umgekehrt manche auf Deutsch formulierte Gedanken in keinen einfachen türkischen Satz fassen kann. Manchmal will ich doch im Türkischen sagen. Ich will mein immer wiederkehrendes Fernweh erklären oder die Schadenfreude. Für jeden dieser Begriffe brauche ich in der Übersetzung ganze Sätze, bis mein Gegenüber ansatzweise versteht, was ich gedacht, gemeint oder gefühlt haben könnte. So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein – im gleichen Moment.

Wilhelm von Humboldt sagte einst, in jeder Sprache liege »eine eigenthümliche Weltsicht«2. Wenn dem so ist, wie sehr unterscheidet sich dann die Weltsicht von einer Sprache zur anderen? Dass unsere Sprache – also nicht nur Worte – unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst, ist nicht mehr strittig. Die Frage, an der sich die Geister scheiden, ist: Wie sehr beeinflusst die Sprache unser Wahrnehmen und Denken?3

Nehmen wir Zahlen. Es gibt Sprachen, die verwenden keine Zahlen. So wie die Sprache der Pirahã, einem Volk im Amazonasgebiet Brasiliens. Mit Ausnahme von »eins«, »zwei« und »viele«4 gibt es keine Begriffe zur Mengenbestimmung.5 Nehmen die Pirahã also die Welt anders wahr als wir? Um das zu untersuchen, unternahmen Wissenschaftler*innen folgenden Versuch: Vor Probanden der Pirahã wurden bis zu zehn Batterien auf den Tisch gestellt, dann wurden sie gebeten, ihrerseits die gleiche Anzahl Batterien aufzustellen. Bis zu zwei oder drei Batterien gelang es ihnen problemlos, doch ab vier Batterien, deren Menge sie exakt nachstellen sollten, wurden die Ergebnisse stetig ungenauer.

Die Pirahã nutzen außerdem keine genauen Bezeichnungen für Farben. Der Linguist Daniel Everett, der ihre Sprache über viele Jahre studierte, berichtete, sie hätten den Forschenden irgendwann einfach wahllose Begriffe für Farben genannt, um diese zufriedenzustellen. Was sie ebenfalls nicht nutzen: Vergangenheitsformen. Everett zufolge leben sie deshalb tatsächlich im Moment, fixiert auf die Gegenwart – das Lebensprinzip carpe diem ist ihnen sozusagen durch die Sprache vorgegeben. Nur wenige Pirahã erinnern sich an die Namen ihrer Großeltern. Und während andere Völker unter ähnlichen Lebensumständen beispielsweise Mehlvorräte für mehrere Monate produzieren, sorgen die Pirahã höchstens für einige Tage vor. Außerdem haben sie wie andere Amazonas-Völker keinen Schöpfungsmythos. Werden sie gefragt, was vorher war – vor den Pirahã, bevor der Wald existierte –, antworten sie, es sei alles schon immer so gewesen. Everett beschreibt ein Wort – xibipíío – als Schlüssel zum Verständnis der Vorstellungswelt der Pirahã:

 

Schließlich wurde mir klar, dass dieser Begriff das benennt, was ich als Erfahrungsschwelle bezeichne: den Vorgang, die Wahrnehmung zu betreten oder zu verlassen und sich damit an den Grenzen des Erlebens zu befinden. Eine flackernde Flamme ist eine Flamme, die immer wieder in den Erfahrungs- oder Wahrnehmungsbereich eintritt und ihn verlässt. (…) Deklarative Äußerungen in Pirahã enthalten nur Aussagen, die unmittelbar mit dem Augenblick des Sprechens zu tun haben, weil sie entweder vom Sprecher selbst erlebt wurden oder weil jemand, der zu Lebzeiten des Sprechers gelebt hat, ihr Zeuge war.6

 

Die ersten Jahre verbrachte Everett als evangelikaler Missionar unter den Pirahã. Doch seine Bemühungen, sie zu »bekehren«, schlugen immer wieder fehl. Sie hatten schlicht kein Interesse an den Geschichten aus der Bibel und fanden es merkwürdig, dass Everett immer wieder von einem Jesus erzählte, dessen Handlungen kein Lebender mehr bezeugen konnte. Ihre Kultur kennt nämlich nicht nur keine Schöpfungsmythen, sondern auch sonst keine Folklore oder Überlieferungen. Und so wurde schließlich Everett, der Missionar, unter dem Einfluss des Lebens mit ihnen zum Atheisten.

Sprächen wir eine Sprache, die keine Vergangenheit kennt, würden unsere Gedanken dann so sehr um das längst Vergangene kreisen, wie sie das tun? Könnten wir überhaupt in historischen Erzählungen schwelgen, in fremden Erinnerungen? Was würde das für Religionen, Bewegungen und Staaten bedeuten? Gäbe es keine kollektive Geschichte, könnte es dann überhaupt Nationalstaaten geben?

 

A nation that keeps one eye on the past is wise.

A nation that keeps two eyes on the past is blind.

Inschrift auf einer Wand in Belfast, Nordirland

 

Sprache beeinflusst auch unsere Wahrnehmung in der Gegenwart. In manchen Sprachen – etwa im Deutschen oder Spanischen – werden Substantiven grammatische Geschlechter zugeschrieben. So ist das Wort Brücke im Deutschen weiblich, im Spanischen männlich. Dies wiederum prägt die Beschreibungen von tatsächlichen Brücken jeweils »geschlechtstypisch«: Im Deutschen werden Brücken eher als »schön, elegant, fragil, friedlich, hübsch und schlank« beschrieben, im Spanischen eher als »groß, gefährlich, lang, stark, stabil und gewaltig«.7

In vielen anderen Sprachen – etwa im Indonesischen, Türkischen, Japanischen, Finnischen oder Persischen – gibt es hingegen gar keine geschlechtsspezifischen Pronomen, also kein er, sie oder es. So beschreibt die Kognitionspsychologin Lera Boroditsky ein Gespräch mit einer Person, deren Muttersprache Indonesisch ist. Sie unterhielten sich auf Indonesisch über eine mit Boroditsky...

Erscheint lt. Verlag 27.1.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aktivismus • Befreiung • Engagement • Faschismus • Feminismus • Gender • Gerechtigkeit • hate • Identität • Intersektionalität • Kategorien • Klischees • Kommunikation • Kopftuch • Liberalismus • Marginalisierung • Migration • Miteinander • Muslima • #ohnefolie • ohnefolie • Politik • Privilegien • Rassismus • Rollen • Sichtbarkeit • Solidarität • Speech • Sprachbarriere • Sprachbewusstsein • Sprechen • Verantwortung • Wissen • Zuschreibungen
ISBN-10 3-446-26689-5 / 3446266895
ISBN-13 978-3-446-26689-6 / 9783446266896
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