Schwere See (eBook)

Eine Reise um das Schwarze Meer
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00220-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Schwere See -  Jens Mühling
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Aus großer Nähe, relevant, poetisch, humorvoll und eindringlich erzählt Jens Mu?hling von einem Meer zwischen den Trennlinien Europas, von seinen Ufer- und Wasserbewohnern, seinen Strömungen und Migrationswegen, seiner Vergangenheit und Zukunft - und fu?hrt uns vor Augen, dass alle Grenzen letztlich fließende sind. « Ich habe das Schwarze Meer von allen Seiten gesehen, und von keiner Seite war es schwarz. Es war silbrig, als ich im Fru?hling die noch menschenleeren Strände der russischen Kaukasusku?ste entlangfuhr. Es wurde blau, als ich im Mai Georgien erreichte. In der Tu?rkei schien es dem Gru?n der Teeplantagen und Haselnussfelder an seinen Ufern ähnlicher zu werden, und gru?n blieb es, bis ich im Spätsommer den Bosporus erreichte. Die ersten Herbststu?rme färbten es braun, als u?ber der Ku?ste Bulgariens die Vögel su?dwärts und die Touristen heimwärts zogen. Im rumänischen Donaudelta schien der Himmel so tief u?ber dem Meer zu hängen, dass sein bleierner Ton auf das Wasser abfärbte. Als ich die Ukraine erreichte, schoben die Wellen schmutzgraue Eisschollen u?ber die Strände. Erst auf der Krim hellte die Wintersonne das Meer wieder auf, und hier nahm es den Ton an, den es in meiner Erinnerung immer haben wird: ein tru?bes, milchiges Gru?n, wie ein Sud aus Algen und Sonnencreme. »

Jens Mühling, geboren 1976 in Siegen, war Redakteur der «Moskauer Deutschen Zeitung» und des Berliner «Tagesspiegels». Heute ist er Reporter beim «Stern». Seine Reportagen und Essays über Osteuropa wurden mehrfach ausgezeichnet, sein erstes Buch «Mein russisches Abenteuer» war für den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis und in Großbritannien für den renommierten Dolman Travel Book Award nominiert. Es folgten die Reportagebücher «Schwarze Erde. Eine Reise durch die Ukraine» und «Schwere See. Eine Reise um das Schwarze Meer».

Jens Mühling, geboren 1976 in Siegen, studierte Literatur bei W.G. Sebald und arbeitete zwei Jahre lang für die «Moskauer Deutsche Zeitung», bevor er Redakteur des «Tagesspiegels» wurde. Seine Reportagen und Essays über Osteuropa wurden mehrfach ausgezeichnet, sein erstes Buch Mein russisches Abenteuer (engl. A Journey into Russia) war in Großbritannien für den renommierten Dolman Travel Book Award nominiert. Zuletzt erschien Schwarze Erde – Eine Reise durch die Ukraine.

Die Flut


Prolog

Ihm war, als sei das Schwarze Meer zum Himmel aufgestiegen und werde sich vierzig Tage und vierzig Nächte lang auf die Erde ergießen.

Konstantin Paustowskij, «Die Kolchis», 1934

Sie kamen uns entgegen, als wir die letzten Kilometer auf dem Weg zum Ararat zurücklegten, im Bergland Ostanatoliens, wo zwischen endlosen Geröllfeldern die Türkei an Armenien und den Iran grenzt. In kleinen Gruppen liefen sie am Straßenrand entlang, Männer, die meisten jung, mit dunklen Bärten und nichts in den Händen, nur wenige trugen kleine Plastiktüten. Es war März, an den gewundenen Passstraßen lag noch Schnee, und ich fragte mich, wie schnell man wohl marschieren musste, um in den leichten Jacken der Männer nicht zu frieren.

Mustafa, der Fahrer, in dessen Taxi ich in Ağrı eingestiegen war, weil der nächste Bus nach Doğubeyazıt erst einen Tag später gefahren wäre, deutete mit dem Kinn auf die Wanderer hinter der Windschutzscheibe.

«Pasaport yok, para yok.»

Kein Pass, kein Geld.

Fragend sah ich ihn an.

«Syrians?»

Er schüttelte den Kopf.

«Afganlar.»

Sie mussten durch den Iran in die Türkei gekommen sein, dachte ich. Mustafa nickte, als habe er meine Gedanken erraten.

«Afghanistan – Iran – Istanbul.»

Einen Moment lang schwieg er, dann spreizte ein Grinsen seinen Schnauzbart.

«Istanbul – Almanya!»

Der Schnauzbart erstarrte zu einer harten Linie, als ich versuchte, Mustafa zum Anhalten zu überreden. Ich wollte mit den Flüchtlingen sprechen, sie fragen, was sie brauchten, auch wenn ich es ihnen vermutlich nicht geben konnte. Vergiss es, sagte Mustafas versteinerter Schnauzbart, nicht für alle Lira der Welt.

Wir fuhren weiter, dem Berg Ararat entgegen, den ein altes Rätsel mit dem Schwarzen Meer verbindet. Immer wieder tauchten Männer hinter den Wegbiegungen auf, zu zweit, zu fünft, dann lange niemand, dann plötzlich ein Dutzend, gefolgt von einem zweiten – und einen Moment lang war ich sicher, dass die Straße hinter der nächsten Biegung schwarz vor Menschen sein würde. Doch dann kam wieder lange niemand.

Jedes Mal, wenn sich eine der Männergruppen aus der Ferne näherte, löste Mustafa kurz die Hände vom Lenkrad, kehrte sie gen Himmel und schüttelte in stummer Ratlosigkeit den Kopf, als frage er sich, und mich, und vielleicht Gott, was man bloß anfangen soll mit all diesen Menschen, die nicht bleiben können, wo sie sind.

***

Ich habe das Schwarze Meer von allen Seiten gesehen, und von keiner Seite war es schwarz.

Es war silbrig, als ich im Frühling die noch menschenleeren Strände der russischen Kaukasusküste entlangfuhr, silbrig wie die Haut der Delfine, die dicht am Ufer den nordwärts ziehenden Fischschwärmen folgten.

Es wurde blau, als ich im Mai Georgien erreichte, das alte Kolchis der griechischen Sagen, wo die Strände schwarz sind, aber nicht das Wasser.

In der Türkei schien es dem Grün der Teeplantagen und Haselnussfelder an seinen Ufern ähnlicher zu werden, und grün blieb es, bis ich im Spätsommer den Bosporus erreichte.

Die ersten Herbststürme färbten es braun, als über der Küste Bulgariens die Vögel südwärts und die Touristen heimwärts zogen.

Im rumänischen Donaudelta schien der Himmel so tief über dem Meer zu hängen, dass sein bleierner Ton auf das Wasser abfärbte.

Als ich die Ukraine erreichte, schoben die Wellen schmutzgraues Eis über die Strände.

Erst auf der Krim hellte die Wintersonne das Meer wieder auf, und hier nahm es den Ton an, den es in meiner Erinnerung immer haben wird: ein trübes, milchiges Grün, wie ein Sud aus Algen und Sonnencreme.

***

Reisen beginnen selten da, wo sie in unserer Erinnerung beginnen. Diese hier nahm ihren Anfang vielleicht unter dem Esstisch meiner blinden Großmutter.

Manchmal, wenn die Erwachsenen ihre Erwachsenengeschichten austauschten, krochen meine Schwester und ich zwischen ihren Füßen hindurch ans Kopfende, wo Oma saß. Still stahlen wir uns hinter ihren Stuhl. Die Rückenlehne war aus Korbgeflecht, dessen Zwischenräume gerade so groß waren, dass wir unsere Fingerspitzen durch die Löcher stecken konnten. Wir pieksten in Omas knochigen Rücken, und Oma, die uns zwar nicht kommen sehen, aber kommen hören hatte, tat uns bei diesem eingeübten Spiel jedes Mal den Gefallen, entsetzt aufzuschreien.

«Ja, sind denn hier etwa Mäuse?»

Piepsend zogen wir unsere Mäusefinger aus der Rückenlehne und krochen zurück unter den Tisch.

In Neunkirchen, der siegerländischen Kleinstadt, in der meine Großmutter bis zu ihrem Tod lebte, erinnert ein Gedenkstein an:

JOH. HEINRICH VON KINSBERGEN

LEUTN.-ADMIRAL

EIN WOHLTÄTER DER ARMEN

*1.5.1735 †22.5.1819

Der Name des Admirals, oder eigentlich nicht sein Name, sondern die Bezeichnung «der Admiral», tauchte gelegentlich in den Erwachsenengesprächen auf, die meine Schwester und ich unter dem Esstisch belauschten. Als halb mythische Figur setzte sich «der Admiral» in meiner kindlichen Erinnerung fest. Er war, so verstand ich es jedenfalls, weitläufig mit uns verwandt, ein Urururururahn, den es in ferner Vergangenheit nach Holland verschlagen hatte, wo er als Seefahrer zu großem Ruhm und Reichtum gelangt war. Einen Teil seines immensen Vermögens hatte er in Form eines Notfonds hinterlassen, um verarmte Verwandte in seiner siegerländischen Heimat zu unterstützen, denen auf Antrag Hilfszahlungen bewilligt wurden. Dieses «Admiralsgeld», von dem die Erwachsenen in Neunkirchen manchmal sprachen, wuchs sich in meiner Vorstellung zu einer Art Piratenschatz aus, einem funkelnden Haufen Goldmünzen, der darauf wartete, eines Tages von mir, dem legitimen Erben des Admirals, geborgen zu werden.

Wie ich Jahre später bei einer Familienweihnachtsfeier von meiner Tante Gertraude und ihren Neunkirchener Freundinnen Elfriede und Ingeborg erfuhr, war ich nicht der Einzige, der nach dem Admiralsgeld schielte. In der Heimat meiner Großmutter erinnert außer dem Gedenkstein auch eine Straße an den Seefahrer: der Van-Kinsbergen-Ring. Im Volksmund wird er «Kartoffelkäferring» genannt, weil sich nach dem Tod des Namensgebers erstaunlich viele hilfsbedürftige Neunkirchener gefunden haben, die mit dem spendablen Admiral verwandt gewesen sein wollen – seine angeblichen Nachfahren haben sich vermehrt wie die Kartoffelkäfer.

Gertraude, Elfriede und Ingeborg erzählten mir bei jener Weihnachtsfeier auch, dass die Nachlasszahlungen aus Holland schon lange nicht mehr flossen. Mein Piratenschatz war nach dem Zweiten Weltkrieg offenbar als Reparationsleistung einkassiert worden.

Um meine Enttäuschung zu verarbeiten, glich ich damals zum ersten Mal meine kindlichen Erinnerungen an den Admiral mit seiner tatsächlichen Lebensgeschichte ab. Ich erfuhr, dass nicht van Kinsbergen selbst, sondern sein Vater im frühen 18. Jahrhundert aus dem ärmlichen Siegerland ausgewandert war, um in Holland Soldat zu werden. Seinen deutschen Nachnamen Ginsberg hatte er gegen die ortsüblichere Variante Kinsbergen eingetauscht, als er eine Niederländerin heiratete, mit der er einen Sohn zeugte: Jan Hendrik.

Der Einwanderersprössling war 15, als er bei der Marine anheuerte. Verblüfft stellte ich fest, dass der spätere Admiral nicht nur für die holländische, sondern auch für die russische Krone zur See gefahren war. Mit Mitte dreißig hatte sich Kinsbergen von Katharina der Großen anwerben lassen, um im Krieg der Zarin gegen die Türken einen Teil der russischen Flotte zu kommandieren, deren Schiffe damals zum ersten Mal ins Schwarze Meer vordrangen. Vor der Küste der Krim begegnete Kinsbergen im Kriegsjahr 1773 mit zwei Kanonenbooten einem deutlich überlegenen türkischen Geschwader, das er nach mehrstündigem Kampf in die Flucht schlug. Das Gefecht von Balaklawa war Russlands erste Seeschlacht im Schwarzen Meer, und dank meines mutmaßlichen Urururururahns endete sie mit einem triumphalen Sieg.

Ich war nicht sicher, ob mich das stolz machen sollte. Katharinas Feldzug gegen die Türken, den Kinsbergen in den folgenden Jahren weiter unterstützte, endete 1774 mit einer Niederlage des Osmanischen Reichs. Russland tat, was das größte Land der Welt schon immer am liebsten tat: Es wuchs. Katharina verleibte ihrem Reich weite Teile der nördlichen Schwarzmeerküste ein, die zuvor von den Krimtataren kontrolliert worden waren, Verbündeten der Türken. Ein paar Jahre später, als Kinsbergen bereits mit russischen Orden behängt zurück nach Holland gesegelt war, ging die Zarin einen Schritt weiter: Sie unterwarf die Tataren und annektierte deren Heimat, die Krim. «Von jetzt an und für alle Zeiten», erklärte Katharina 1783, sollte die Halbinsel russisch sein.

Um vergessen zu machen, dass sie einmal unrussisch gewesen war, verwischte Katharina die Spuren der Tataren. Moscheen und Medresen, Karawansereien und Khanspaläste wurden in Schutt und Asche gelegt, während sich die erste von mehreren tatarischen Flüchtlingswellen in Richtung der osmanischen Küsten in Bewegung setzte.

Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass sich rund um das Schwarze Meer die Straßen schwarz vor Menschen färbten, weil Potentaten Völker verpflanzten und ihre Spuren aus der Geschichte tilgten. Dutzende von Schwarzmeerminderheiten wechselten im Lauf der Jahrhunderte teils mehrmals unfreiwillig den Küstenabschnitt, weil sie dem Wachstum der Imperien im Weg standen oder dem Schicksal der Nationen, der kommunistischen Zukunft, dem Tausendjährigen...

Erscheint lt. Verlag 10.3.2020
Zusatzinfo Mit 1 s/w Karte
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Annexion der Krim • Bulgarien • Expedition • Georgien • Krimbrücke • Moldawien • Odyssee • Putin • Reise • Reisebericht • Reise, Expedition, Odyssee, Georgien, Ukraine, Türkei, Bulgarien, Rumänien, Russland, Moldawien • Rumänien • Russland • Schwarzes Meer • Türkei • Ukraine • Ukrainekrieg
ISBN-10 3-644-00220-7 / 3644002207
ISBN-13 978-3-644-00220-3 / 9783644002203
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