Mythos Bildung (eBook)

Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
320 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32053-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mythos Bildung -  Aladin El-Mafaalani
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Wer die Krise des Bildungssystems verstehen will, muss dieses Buch lesen.  In diesem grundlegenden Buch analysiert Aladin El-Mafaalani die Probleme und paradoxen Effekte des Bildungssystems, seine Dynamik und seine Trägheit. Eine umfassende Diagnose, ein Plädoyer dafür, soziale Ungleichheit im Bildungswesen endlich in den Fokus der Bildungspolitik und -praxis zu rücken. »Es geht um eine Verringerung von Chancenungleichheit, um die Erweiterung von Erfahrungshorizonten und Zukunftsperspektiven für alle Kinder und um die Vorbereitung der nächsten Generationen auf die unbekannten Herausforderungen einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft. Nur darum geht es. Nicht mehr und nicht weniger.« Aladin El-Mafaalani Da die Schere durch die Coronakrise weiter aufgegangen ist, darf keine Zeit mehr verloren werden. Jetzt muss gehandelt werden. Wie, das sagt dieses Buch. Erweiterte Neuausgabe mit einem Zusatzkapitel zur Coronakrise.

Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dormund. Nach dem Studium war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, dann Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und später Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Pädagogik und Arbeitswissenschaft und wurde dort in Soziologie promoviert. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2020 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.

Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Professor für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Nach dem Studium war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, dann Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und später Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Pädagogik und Arbeitswissenschaft und wurde dort in Soziologie promoviert. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2020 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.

2. Humankapitalismus: Bildung als Ware und Währung


Bildung als Ware und Währung zu betrachten – das würden viele Menschen intuitiv ablehnen. Aber bereits Anfang der 1980er-Jahre hat der Soziologe Pierre Bourdieu genau hierzu eine Theorie entwickelt.[3] Es handelt sich also keineswegs um eine neue Sichtweise oder einen aktuellen Trend.

Das Kapital als rein ökonomische Ressource (Einkommen und Vermögen) zu begreifen, wie es noch bei Karl Marx definiert war, wird laut Bourdieu den vielfältigen wechselseitigen Austauschprozessen innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr gerecht. Entsprechend definiert er Kapital als gesellschaftlich relevante Ressourcen, die imstande sind, die Stellung eines Menschen innerhalb der Hierarchie einer Gesellschaft zu bestimmen, zu erhalten oder zu verändern. Neben dem ökonomischen Kapital nennt er zwei weitere Sorten von Kapital, die vom Prinzip her gleichwertig sind: kulturelles Kapital (Bildung) und soziales Kapital (Netzwerke). Sie sind deshalb Kapital, weil sie gleichermaßen nützlich sein können. Und sie sind grundsätzlich gleichwertig, weil sie austauschbar sind, also die Funktion einer Währung haben können. Aber der Reihe nach …

Das klassische ökonomische Kapital garantiert nach wie vor die Sicherung des Lebensstandards und eine gewisse Unabhängigkeit. Allerdings reicht es allein nicht mehr aus, um gesellschaftliche Macht auszuüben oder bestimmte Positionen einzunehmen. So öffnet beispielsweise ein großer Lottogewinn keineswegs die Türen in die gehobenen Kreise oder in bestimmte Machtsphären. Zudem wissen wir heute, dass ein Lottogewinn bei zuvor ärmeren Menschen häufig nicht nachhaltig zu Wohlstand führt. Vielmehr sind es auch neue beziehungsweise wichtiger gewordene immaterielle Ressourcen, die die soziale Stellung mitbestimmen.

Das kulturelle Kapital könnte auch als Bildungskapital bezeichnet werden. Es drückt sich nach Bourdieu in Objekten (objektiviertes kulturelles Kapital), in Körper und Geist (inkorporiertes kulturelles Kapital) sowie in institutionalisierter Form (institutionelles kulturelles Kapital) aus. Objektiviertes kulturelles Kapital ist dabei am engsten an Geld gebunden. Hierzu zählt insbesondere der Besitz von Kunstgegenständen (beispielsweise ein Gemälde), Kulturgütern (beispielsweise Bücher) und Kulturwerkzeugen (beispielsweise ein Klavier), die zwar materielle Objekte sind, aber deren Wert vordergründig immaterieller Natur ist – die also auf gewisse Weise Bildung beziehungsweise Gebildetsein vorführen. Und mal ehrlich: Wenn wir jemanden zu Hause besuchen und im Wohnzimmer ein wohlplatziertes Kunstgemälde, Hunderte Bücher im Regal und einen Flügel sehen, steht für uns schon (fast) fest: Dieser Mensch ist gebildet.

Die Verinnerlichung dieser Objekte erfordert, dass ich sie mir einverleibe. Inkorporiertes kulturelles Kapital meint die sich stetig vollziehende Aneignung, also die geistige, körperliche und emotionale Verinnerlichung des Kulturellen. Es geht um Wissen und Fähigkeiten, heute würde man von Kompetenzen sprechen, wobei nicht nur kognitive, sondern auch soziale, emotionale und methodische Fähigkeiten gemeint sind. Wenn nun unser Gastgeber auch noch kunstinteressiert und belesen wirkt, vielleicht sogar auf dem Flügel etwas vorspielt und dabei zwischendurch einen Schluck Rotwein trinkt – dann ist die bildungsbürgerliche Aura vollkommen.

Die Verinnerlichung des Kulturellen ist die zeitintensivste Ausprägung der kulturellen Kapitalformen und findet insbesondere, aber nicht nur im Bildungssystem statt. Klavier spielen etwa hat unser Gastgeber sicherlich nicht auf dem städtischen Gymnasium gelernt.

Das Hoheitsgebiet des Bildungssystems liegt im institutionellen kulturellen Kapital. Die Institutionalisierung kulturellen Kapitals findet ihren Ausdruck vor allem in (hoch)schulischen Abschlüssen und Titeln. Diese Papiere sind im tiefsten Wortsinn »Zeugnisse« kultureller Kompetenz und garantieren ihren Inhabern einen dauerhaften Wert. Und dies relativ unabhängig vom tatsächlichen Besitz von Kompetenzen. Wenn also unser Gastgeber einen Doktortitel hat, ist das Bild vollends rund: Er ist sehr gebildet.

Die Wirksamkeit dieser Zeugnisse ist herausragend. Ähnlich wie bei einem Geldschein hängt der Wert dieser Papiere von ihrem Urkundenstatus ab. Daher ist institutionalisiertes Bildungskapital die gesellschaftlich legitimste Form kulturellen Kapitals. Bildungstitel sind das Produkt einer Bildungsinvestition, einer Umwandlung von ökonomischem in kulturelles Kapital: Die Bildungsphase bis zum Abschluss hat nicht nur Mühen, sondern auch Geld gekostet. Wer viele Jahre dafür aufbringt, einen Bildungstitel zu erlangen, der hatte direkte, aber durch entgangene Einkünfte auch indirekte Kosten. Die Investition ergibt nur dann Sinn, wenn ihre Rekonvertierbarkeit (zumindest teilweise) garantiert ist, mit anderen Worten: Das muss sich auszahlen. Der Abschluss muss einen Wert haben, der auf dem Arbeitsmarkt Einkünfte generiert.

Der Zusammenhang zwischen den drei Formen kulturellen Kapitals gilt mittlerweile als derart gesichert, dass es in internationalen Studien üblich geworden ist, die Anzahl von Büchern im Haushalt oder das Beherrschen eines Musikinstruments als Indikator für die Bildungsnähe und die Schichtzugehörigkeit zu verwenden und daraus Hypothesen für die Forschung zu generieren (bspw. IGLU-Studien). Es ist also tatsächlich so, dass Gegenstände, Kompetenzen und Zeugnisse miteinander in Zusammenhang stehen. Inwiefern im Zeitalter der Digitalisierung diese historisch gewachsenen Formen von kulturellem Kapital Bestand haben werden, ist durchaus fraglich. Bereits die Materialität von gebundenen Büchern verliert dramatisch an Bedeutung (E-Books), aber auch das Lesen an sich: Selbst in intellektuellen Kreisen konkurrieren Bücher, egal ob gedruckt, digital oder als Hörbuch, zunehmend mit Serien und Social-Media-Angeboten.

Damit kommen wir zur letzten Kapitalsorte: dem sozialen Kapital. Es lässt sich auch als Vitamin B(eziehungen) oder Vitamin C(onnections) bezeichnen. Soziale Beziehungen entstehen durch fortwährende Aufnahme und Pflege sozialer Kontakte. Nicht umsonst wird dem ›Netzwerken‹ – wie man dies umgangssprachlich formuliert – in der analogen und in der digitalen Welt eine zunehmend wichtige Rolle beigemessen. Aber auch Nachbarschaftshilfe, Familienzusammenhalt oder andere solidarische Formen gehören dazu. Dabei hängt das Ausmaß des sozialen Kapitals, über das eine Person verfügt, sowohl von der Größe des sozialen Netzwerks als auch von der Kapitalausstattung der anderen Personen im Netzwerk ab.

In der digitalen Welt lässt sich die besondere Rolle sozialen Kapitals in eindrucksvoller Weise erkennen und sie ist quantifizierbar und quasi öffentlich: Welche und wie viele Freunde und Follower habe ich auf Facebook, Twitter, YouTube oder Instagram? Ab einer kritischen Masse an »Freunden« lässt sich damit sogar Geld verdienen. Mittlerweile werden die persönlichen Profile und Netzwerke im digitalen Netz auch bei Bewerbungsverfahren mitberücksichtigt. Umfang und Qualität des sozialen Kapitals bestimmen also in gewisser Weise mit, wie ein Mensch wahrgenommen und bewertet wird.

In zweifacher Hinsicht besteht dennoch prinzipiell eine Gleichwertigkeit zwischen allen Kapitalsorten: Zum einen dienen sie dazu, eine bestimmte Stellung in der Sozialstruktur der Gesellschaft einzunehmen. Zum anderen lassen sich alle Kapitalsorten ineinander umwandeln, um wiederum die Positionen zu erhalten oder zu verbessern: Durch Investitionen in Bildung kann ökonomisches Kapital in kulturelles Kapital umgewandelt werden; das daraus entstandene Bildungskapital kann zu einem beruflichen Aufstieg führen und damit wiederum in ökonomisches Kapital transformiert werden; dadurch, dass soziale Beziehungen bei der beruflichen Etablierung enorm hilfreich sein können, lässt sich auch soziales Kapital in ökonomisches umwandeln und so weiter. Dem Kapital, in welcher Form auch immer, wohnt also eine gewisse Tauschfunktion inne.

Bildung hat insofern schon lange eine gewisse kapitalistische gesellschaftliche Funktion. Bildung wird zunehmend als Humankapital verstanden. Damit ist die Gesamtheit der wirtschaftlich und gesellschaftlich verwertbaren Fähigkeiten und Kenntnisse von Personen gemeint. Bereits der Ökonom und Philosoph Adam Smith und nach ihm eine ganze Reihe von Wirtschaftsnobelpreisträgern beschäftigten sich mit dem ökonomischen Nutzen (insbesondere im Verhältnis zu den Kosten) von Bildung. Bildung ist eindeutig eine wichtige Ressource – für den Einzelnen und für die Gesellschaft insgesamt. Das kann man alleine daran festmachen, dass im Zusammenhang mit Bildung neue, ökonomisch geprägte Begriffe alltagstauglich werden: Bildungsnachfrager und Bildungsanbieter, Bildungsgüter und Bildungsmärkte, Bildungsrendite und Bildungsinflation. Bildungsdienstleister müssen sich in Bildungsmanagement üben und so weiter. Bildung ist also auch ein wirtschaftliches Gut. Entsprechend interessiert sich die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) derart stark für das Bildungswesen, dass die deutsche Bildungsforschung mittlerweile in beträchtlichem Maße durch die OECD finanziert wird – PISA ist hierfür nur ein prominentes Beispiel.[4] Der Fokus auf die gesellschaftliche und individuelle Verwertung von Bildung rechtfertigt es, von einem Humankapitalismus zu sprechen. Im Humankapitalismus kennzeichnet sich der dominante Bildungsbegriff...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bildungsexpansion • Bildungspolitik • Bildungssystem • Chancengleichheit • Das Integrationsparadox • Gerechtigkeit • Kinderarmut • Schule • Sozialer Aufstieg • Spiegel-Bestseller-Autor
ISBN-10 3-462-32053-X / 346232053X
ISBN-13 978-3-462-32053-4 / 9783462320534
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