Unter den Stollen der Strand (eBook)

Fußball und Politik - mein Leben
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31929-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Unter den Stollen der Strand -  Daniel Cohn-Bendit
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Mit Leidenschaft - im Fußball wie im Leben. Im Frühsommer 2020 beginnt die Fußball-Europameisterschaft, die dieses Mal auf dem ganzen Kontinent ausgespielt wird. Wie Millionen Europäer wird Daniel Cohn-Bendit sie mit Leidenschaft verfolgen: In seiner Autobiografie erzählt er, wie Europa und Fußball sein ganzes Leben geprägt haben. Finale der Fußballweltmeisterschaft 1954, Deutschland gegen Ungarn: Für wen sollte ein neunjähriges sportbegeistertes Kind sein, dessen jüdische Eltern Deutschland in den Dreißigerjahren verlassen mussten? Kurze Zeit später zieht die Familie aus Paris zurück nach Deutschland und lässt sich in Frankfurt nieder; wo seine Leidenschaft für Eintracht Frankfurt geweckt wird - und, während der WM 1958, für Brasilien. Er beginnt in Paris zu studieren und steht mit auf den Barrikaden im Mai 1968 - Dany le rouge, der rote Dany. Es folgen wilde Jahre in der Politik und im Privaten, in Deutschland und Frankreich - und immer geht es dabei auch um Fußball: Fußball in Europa, Fußball in Südamerika, Fußball in aller Welt. Daniel Cohn-Bendit erzählt mit Verve und Humor von seiner Leidenschaft für ein großzügiges, offensives Spiel. Fußball ist für Daniel Cohn-Bendit mehr als Sport, es ist ein Spiegel der Gesellschaft, ein Spiegel der Politik, ein Spiegel des Lebens - auch seines eigenen.

Daniel Cohn-Bendit, geboren am 4. April 1945 in Frankreich, war Buchhändler, Stadtmagazin-Gründer und Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt. Er saß für die deutschen und die französischen Grünen im Europaparlament.

Daniel Cohn-Bendit, geboren am 4. April 1945 in Frankreich, war Buchhändler, Stadtmagazin-Gründer und Dezernent für multikulturelle Angelegenheiten in Frankfurt. Er saß für die deutschen und die französischen Grünen im Europaparlament.

Probetraining


Ich bin jetzt fünfundsiebzig. Und mein Leben war eine einzige lange Reise zwischen Frankreich und Deutschland. Das hat mit meinen Eltern zu tun, die 1933 Berlin verlassen mussten und nach Paris flüchteten, um dann zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Südwestfrankreich Unterschlupf zu suchen, in Montauban in der Nähe von Toulouse. Dort wurde ich im April 1945 geboren, gezeugt in den Wochen nach der Landung der Alliierten in der Normandie. Ich bin also ein Kind der Befreiung und der Freiheit.

Angefangen zu sprechen habe ich schon auf der Entbindungsstation, wo ich zu meinem Vater und meiner Mutter gesagt habe: »In fünfzig Jahren gibt es keine Grenze mehr zwischen Frankreich und Deutschland und auch keine Soldaten, und der Rhein wird ein ruhiger Fluss sein, der beiden Ländern zugleich gehört, ohne sie voneinander zu trennen.« Da wussten meine Eltern, sie haben ein Problem: »Der Junge redet viel zu früh, und vor allem, er redet Quatsch.« Das ist meine Geschichte: der innige Wunsch, das historische Drama der deutsch-französischen Kriege und die Unbilden der europäischen Vergangenheit zu überwinden, in denen Faschismus, Nationalsozialismus, Stalinismus, Kolonialismus, Imperialismus, Antisemitismus und Rassismus grassierten, Begriffe, die mir allesamt das Blut gefrieren lassen. Ausgehend von diesem Wunsch, war der Motor meines politischen Handelns seit jeher das Bedürfnis, zu versöhnen.

Nur im Sport im Allgemeinen und im Fußball im Besonderen verhalte ich mich unberechenbar und irrational, wenn es um Deutschland geht – was ich auf eine innere Verletzung zurückführe, die mir natürlich nicht im Mutterleib zugefügt wurde, die aber ganz gewiss vom Leid der Flucht vor der Vernichtung und von der verdrängten Angst herrührte, als Jude immer noch verfolgt werden zu können. So bleibt im Grunde meines Herzens bis heute ein Rest dessen, was in mir die besagte Irrationalität ausgelöst hat und manchmal immer noch auslöst, sobald die Rede von der Mannschaft ist. Nobody is perfect. Aber deshalb ist es jetzt auch wirklich an der Zeit, mit alledem abzuschließen und meine bornierte Haltung gegenüber dem deutschen Fußball abzulegen. Ja, ich kann Ihnen versichern, ich bin auf dem Weg der Besserung. Und ich kann es sogar beweisen!

Als Kind war ich heißblütiger Fan von Stade Reims, das übrigens zweimal gegen Real Madrid im Finale des Europapokals stand. Mit 20, 25 Jahren wechselte ich zu AS Saint-Étienne. Und mit Anfang 30 wurde schließlich die französische Nationalmannschaft unter Platini für mich zum Nonplusultra der Fußballkunst. Nicht Bayern, nicht Deutschland. Heute ist mein Verein, meine Sippe – und nicht erst seit gestern, um ehrlich zu sein –, die Frankfurter Eintracht! Tatsache! Und ich rümpfe auch nicht mehr die Nase, wenn ich das Team von Jogi Löw spielen sehe … Meine Einstellung zur deutschen Elf begann sich zu verändern, als das Staatsbürgerschaftsrecht reformiert wurde. Damit konnten auch Einwanderer oder Einwandererkinder in der Nationalmannschaft spielen, was zwar nicht deren Spielweise von heute auf morgen veränderte, aber doch zu einer grundlegenden Wandlung führte. Denn plötzlich war die Nationalelf ein Spiegelbild der Gesellschaft. Und das war schon mal ein großer Schritt, um mich mit dem deutschen Fußball zu versöhnen.

Es gab aber auch noch andere Dinge, die mich dazu bewegten, meine Meinung zu ändern. Wenn man sich etwa die Position des DFB bei den Skandalen in dieser Sportart ansieht, so erkenne ich eine viel klarere Haltung als bei den Verbänden anderer Länder. Hier kommt keiner ungeschoren davon, der einen echten Fehltritt begangen hat. Jeder bekommt die Konsequenzen zu spüren, selbst wenn der DFB manchmal ein bisschen braucht, bis er in die Puschen kommt. Immerhin mussten bis jetzt schon drei Präsidenten abdanken. Und als ans Licht kam, dass Beckenbauer gemauschelt hat, um die Weltmeisterschaft 2006 nach Deutschland zu holen, wurde der über alles erhabene Kaiser in der Öffentlichkeit aufs Härteste attackiert und infrage gestellt. Wenn etwas Ähnliches in Frankreich passierte, hielten alle die Füße still – zum Glück ändert sich auch hier langsam etwas. Ich will damit aber nicht sagen, dass Fußballdeutschland besser ist als Frankreich. Fehler und Missstände gibt es überall. Welche Hierarchien und Machtstrukturen hier herrschen, ist genauso undurchsichtig wie in anderen Ländern. Aber die rechtliche und gesellschaftliche Handhabe dagegen ist größer.

Noch ein anderer Punkt lässt mich den deutschen Fußball heute mit anderen Augen sehen. Journalisten der Süddeutschen Zeitung haben in den Panama Papers enthüllt, dass Messi einige Dollar an Einnahmen »vergessen« hat, dem spanischen Fiskus zu melden. Dann kam der Spiegel mit seinen Football Leaks und offenbarte, dass Cristiano Ronaldo, Di María, Falcao, Mourinho, Özil und Pogba, um nur einige zu nennen, sehr viel Geld in Steuerparadiesen geparkt hatten. Ich will damit nicht die deutsche Presse in den Himmel loben, ich will damit nur sagen, dass sie ihre Arbeit macht, sprich: uns informiert. Aus all diesen Gründen kann ich heute guten Gewissens anerkennen, dass der deutsche Fußball seine Qualitäten hat und auch ich ihn respektabel finden darf. Ich verspüre nur noch einen kleinen Rest Skepsis, wenn ich so katastrophale Spiele mit ansehen muss wie zuletzt beim kläglichen Ausscheiden bei der WM 2018 in Russland. So soll dieses Buch auch dazu beitragen, endgültig meine doch leicht kindische Haltung abzulegen, für die es heute wirklich keinen Grund mehr gibt.

Mein verbales Probetraining bietet mir aber auch die Gelegenheit, nicht nur über meine Beziehung zu Deutschland und zu Frankreich zu sprechen, sondern auch über den Einfluss, den der Fußball auf die Gesellschaft haben kann – und umgekehrt. Als Kind galt meine erste »internationale Leidenschaft« der großartigen Goldenen Elf unter Ferenc Puskás, die vier Jahre lang ganz Europa verzauberte und trotz ihrer verpassten historischen Gelegenheit 1954 in Bern noch zweieinhalb Jahre lang die Alte Welt mit ihrer Schönheit beglückte – dank der Spieler von Honved Budapest. Als ich drei, vier Jahre später, mitten in der Pubertät, begriff, was für einen Mut die Ungarn an den Tag legten, als sie sich gegen den Kreml auflehnten, bevor sie blutig niedergeschlagen wurden, verspürte ich große Bewunderung. Obwohl mir klar ist, dass beides im Grunde nichts miteinander zu tun hatte, gefiel mir die Idee, dass der himmlische Fußball, den Puskás und seine Mannen spielten, gut zu diesem wunderbaren Volk passte.

Die gleiche Geschichte wiederholte sich bei der Weltmeisterschaft 1974 mit den herausragenden Polen unter Kazimierz Deyna und Grzegorz Lato, wovon ich noch ausführlicher berichten werde, da ich das erstaunliche Halbfinale im überschwemmten Frankfurter Waldstadion miterlebt habe. Diese begeisternden Polen, die vor Leben, Schwung und Hoffnung strotzten, lehnten sich sechs Jahre später in den Fabriken gegen die eiserne Faust Moskaus auf, die sich über Warschau gesenkt hatte. Wieder war ich voller Bewunderung und sah einen gewissen Zusammenhang zwischen Deyna und Konsorten und den Danziger Hafenarbeitern im August 1980. Aber sehen Sie sich an, wo der ungarische Fußball heute steht – und wie es mit dem polnischen Fußball aussieht, auch wenn sich die Nationalelf mal für eine Welt- oder Europameisterschaft qualifizieren mag. Markante Spuren hinterlässt sie dort jedenfalls nicht mehr. Außer Lewandowski – und das auch nur, weil er seit zig Jahren in Deutschland spielt – wüsste ich keinen Spieler dieses Landes beim Namen zu nennen. Es fällt mir schwer, keinen Zusammenhang herzustellen zwischen der politischen Lage in den beiden Ländern, die mit Orbán und Kaczyński zwei autoritäre Politiker an die Macht gebracht haben, und der Bedeutungslosigkeit, in die ihr Fußball abgeglitten ist. Schlimmer ist es nur noch in Brasilien, auch wenn es um die Seleçao noch ein bisschen besser steht. Die wunderbaren Menschen haben sich von Typen wie Neymar um den Finger wickeln lassen und sich dann einem Bolsonaro in die Arme geworfen, der noch übler ist als die beiden europäischen illiberalen Staatsmänner. Aber auch davon später mehr.

Ich war mein Leben lang hin- und hergerissen zwischen Frankreich und Deutschland. Will heißen: In Deutschland fühle ich mich verpflichtet, die Franzosen zu erklären, in Paris will ich Berlin erklären. Wäre der europäische Integrationsprozess weiter fortgeschritten, hätte ich mir das sicher sparen können. Aber ich mache mir nichts vor: Was das betrifft, stehen wir noch ganz am Anfang. Wir müssen Geduld haben. Nehmen wir nur Frankreich: Nach der Revolution von 1789 brauchte es über hundert Jahre, bis ein demokratischer Nationalstaat entstand. Auch die Deutschen sind durch schlimme historische Phasen gegangen, die sie selbst verschuldet haben, ehe sie mehr oder weniger freiwillig die Schutzimpfung der Demokratie schluckten – der Besatzung der Alliierten sei Dank. Oder: Die Französinnen mussten hundertsechsundfünfzig Jahre warten, um wählen zu dürfen, bis 1945, während die deutschen Frauen schon 1918 das Wahlrecht erlangten. Sieht man sich nun alle die verschiedenen Aspekte an, in denen sich die europäischen Staaten zum Teil stark unterscheiden, versteht man vielleicht, warum es so lange dauert, ein neues demokratisches Modell für eine neue Europäische Union auszuarbeiten.

Hin- und hergerissen war ich auch, weil es mir lange sehr viel leichterfiel, von dem begeistert...

Erscheint lt. Verlag 13.2.2020
Übersetzer Frank Sievers
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 68er • 75. Geburtstag Daniel Cohn-Bendit • Autobiografie • Die Grünen • Europa-Meisterschaft • Europaparlament • Frankfurt • Frankreich-Deutschland • Fußball-Fan • Paris 60er Jahre • Studentenbewegung • UEFA Euro 2020
ISBN-10 3-462-31929-9 / 3462319299
ISBN-13 978-3-462-31929-3 / 9783462319293
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