Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens (eBook)

Spiegel-Bestseller
Ein Essay
eBook Download: EPUB
2020
256 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-14191-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Künstliche Intelligenz und der Sinn des Lebens - Richard David Precht
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Richard David Precht beschäftigt sich mit den wichtigsten Fragen rund um das Thema »Künstliche Intelligenz« - und bezieht dabei auch die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen durch die aktuelle Krise mit ein.
Während die drohende Klimakatastrophe und der enorme Ressourcenverbrauch der Menschheit den Planeten zerstört, machen sich Informatiker und Ingenieure daran, die Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz voranzutreiben, die alles das können soll, was wir Menschen auch können - nur vielfach »optimierter«. Ausgehend von völlig falschen Annahmen soll den Maschinen sogar eine menschenähnliche Moral einprogrammiert werden. Richard David Precht macht uns eindringlich klar, dass das nicht möglich ist. Denn unser Leben besteht nicht aus der Abfolge vorausberechneter Schritte. Wir sind viel mehr als das.

Richard David Precht, geboren 1964, ist Philosoph, Publizist und Autor und einer der profiliertesten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Er ist Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Seit seinem sensationellen Erfolg mit »Wer bin ich - und wenn ja, wie viele?« waren alle seine Bücher zu philosophischen oder gesellschaftspolitischen Themen große Bestseller und wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt. Seit 2012 moderiert er die Philosophiesendung »Precht« im ZDF und diskutiert zusammen mit Markus Lanz im Nr.1-Podcast »LANZ & PRECHT« im wöchentlichen Rhythmus gesellschaftliche, politische und philosophische Entwicklungen.


Zwei Linien


Der Redebeitrag sorgte zunächst für Unverständnis. Das Publikum auf der lit.Cologne 2019 wirkte genauso irritiert wie meine Gesprächspartner Hans Joachim Schellnhuber und Robert Habeck. Auf die Frage »Ist die Erde noch zu retten?« hatte ich geantwortet, ich sähe zwei große übergeordnete Tendenzen, ja, man könne sagen evolutionäre Bewegungen. Die eine sei der Versuch, aus dem gnadenlosen Prozess des Wachstums auszubrechen und die belebte Natur wiederzuentdecken, statt sie allein als Ressource zu betrachten. Diese Bewegung dränge über kurz oder lang auf die Überwindung des Kapitalismus. Wer dies nicht wolle, der müsse sich wohl oder übel auf die Alternative, die Überwindung des Menschen, einlassen; dass sich Homo sapiens von den Fesseln seiner Biologie löst, »posthuman« wird und seine persönliche wie seine Gattungszukunft »postbiotisch« auf alternativen Datenträgern sucht; verbunden mit dem Versprechen von Unsterblichkeit.

Das Publikum wurde unruhig. Mochte der eine oder andere sein Herz nicht an den Kapitalismus hängen, den Menschen wollte auf der lit.Cologne keiner überwinden; der Kölner ist halt gern Mensch. Doch die Lage ist ernst. Sollte es in hundert Jahren noch Historiker geben, werden sie über die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts wohl vor allem eines sagen: dass wir versuchten, wie Götter zu werden, während wir gleichzeitig den Planeten so zerstörten, dass tatsächlich nur noch Götter auf ihm hätten leben können.

Die Gefahr bleibt groß, dass das jetzige das letzte, äußerst kurze Zeitalter wird, von dem Menschen noch etwas wissen, weil es für alle späteren keine menschlichen Chronisten mehr geben wird. Nicht »Ist die Erde noch zu retten?« hätte es auf der lit.Cologne heißen müssen, sondern »Ist die Menschheit noch zu retten?«. Während wir die dunkle Intimität unseres Gehirns durchleuchten und als bunte Bilder grell veröffentlichen, während wir unser so lange sicher verstecktes Erbgut in Millionen Teile zerlegen, um es neu zusammenzubasteln im Blick auf eine freudestrahlende Zukunft, vollführen wir doch nur die letzten aller Menschheitsstreiche – nicht auf dem Weg zum »Übermenschen«, den Nietzsche im späten 19. Jahrhundert aus seiner Lektüre sozialrassistischer Autoren fertigte, sondern auf dem Weg zum Verschwinden.

Der Stolz, dass im Bonuspack der Evolution das Menschentier zu der Fähigkeit kam, sein gelerntes Wissen anders und umfassender zu speichern als andere Tiere (und sein stummes Wissen um das, was ihm guttut, im gleichen Prozess zu verlieren); dieser Stolz auf ein Vermögen, das Homo sapiens die Gravitationskraft und den Elektromagnetismus enträtseln, Atomwaffen, Artensterben und All-you-can-eat-Tarife hervorbringen ließ, Diäten und Denkmalschutz, Fußball und Fernbedienungen, glutenfreie Nudeln und Gummibärchen, Iglus und die Inquisition, Kola und den Koran, Makramé-Eulen und Mindestlohn, Nominalzinsen und Nofretete, Pyramiden und PayPal, Röntgengeräte und das Rote Kreuz, Schönheitschirurgie und Sportwetten, die Vereinten Nationen und Vielfliegerrabatte – dieser Stolz lässt noch immer viel zu viele Angehörige der Spezies Homo sapiens nicht sehen, was jeder, der Augen hat zu sehen, täglich sieht: dass unser Erdzeitalter, das Anthropozän, ein Monetozän ist, ein Zeitalter des Geldes, in dem nicht »der Mensch« biotisch, sedimentär und geochemisch die Erde umpflügt, sondern die Verwertungsinteressen des Kapitals. Je mehr davon angehäuft oder im Umlauf ist, desto größer die naturgeschichtlichen Folgen. Noch einige Jahrzehnte unerschrocken so weiter, und Homo sapiens bleibt im großen Weltenschauspiel keine weitere Rolle mehr zu spielen, als neugierigen Aliens irgendwann als Leitfossil unseres Erdzeitalters zu dienen: als letztes Glied in einer Kette von Trilobiten, Graptolithen, Ammoniten und Foraminiferen.

Wer wünschte sich da nicht, den Art-Namen ernster zu nehmen und tatsächlich mehr Homo sapiens in der Welt zu sehen, mit der Weisheit, der sapientia, gesegnet, nicht nur sich selbst, sondern die eigenen Grenzen zu erkennen? Je mehr wir über den Zustand unseres Planeten wissen, je mehr wir erahnen können, wie das Menschenwerk des technischen Fortschritts ausfallen könnte, umso klarer sehen wir, dass die scientia die Sapientia nicht ersetzen kann. Wer wir sein werden, wird weniger damit zu tun haben, wie wir uns den Maschinen anverwandeln, die wir erschaffen, als damit, die biologische Welt besser zu verstehen, die wir heute so leichtfertig aufs Spiel setzen, obwohl wir sie niemals ersetzen können. Doch ist das Bewusstsein der Gesellschaften schon auf der Höhe der Zeit? Lässt sich das Alltagsverständnis dessen, wer wir sind, derzeit nicht leichter von futuristischen Szenarien über hochintelligente Maschinen verunsichern als durch die Einsicht in den ökologischen Gefahrenindustrialismus, mit dem wir uns alle Lebensgrundlagen rauben? Sollten unsere intelligenten Maschinen uns in künftigen Jahrzehnten die Existenz streitig machen (was zutiefst unwahrscheinlich ist), es bleibt ihnen, wirtschaften wir so weiter wie bisher, nicht viel zu vernichten übrig.

In Zeiten der fortschreitenden Klimakatastrophe und des rasant anschwellenden ökologischen Desasters haben sich viele Vorzeichen geändert. Man kann nicht mehr über die Zukunft reden wie in der Vergangenheit. Das betrifft auch und vor allem die Rolle der Technologie. Die Geschichte der Technik ist eine Erfolgsgeschichte des Homo sapiens, um sich in einer Natur zu behaupten, die auf ihn keine Rücksicht nimmt. Dass er seinerseits nun mehr und mehr gezwungen ist, auf die Natur Rücksicht zu nehmen, ist eine sehr moderne Erfahrung. Sie fehlt noch völlig in den ungetrübt optimistischen Erzählungen der Techno-Euphoriker aus den Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern. Überraschend schnell sind sie uns heute altmodisch geworden und auf verstörende Weise weltfremd. Mochten der Austrokanadier Hans Moravec und die US-Amerikaner Marvin Minsky, Frank J. Tipler und Vernor Vinge von beseelten Maschinen, artifizieller Superintelligenz, siliziumbasierten Gehirnen, menschlicher Unsterblichkeit und der raschen Besiedlung des Kosmos fabulieren – ihre im Gewand von Sehern verkündeten Visionen waren ebenso blind für die Janusköpfigkeit des neuen Maschinenzeitalters, wie sie es für das alte waren.

Futuristische Naivität ist im 21. Jahrhundert unverzeihlich geworden als Mangel an Umsicht, Einsicht und Information. Dass die Industrieproduktion, so wie wir sie bislang kennen, die Ressourcen des Planeten bis zur Erschöpfung ausbeutet, bis sie keine mehr findet, hatten der französische Gesellschaftsvisionär Charles Fourier schon zu Anfang, der britische Philosoph John Stuart Mill in der Mitte des 19. Jahrhunderts erkannt – die Futuristen der digitalen Welt aber kennen bislang weder Rohstoffmangel noch Müllberge, keine Umweltzerstörung und keine als CO2-Deponie missbrauchte Atmosphäre. Kein arktisches Eis schmilzt in ihrer perfekten Zukunft, keine Dürren schicken Abermillionen Menschen auf die Reise, keine Millionenstädte am Äquator versinken in den Fluten.

Die Fähigkeit, diese einander so stark entgegenlaufenden Entwicklungen so in ihrem Bewusstsein zu speichern, dass sie dort bis heute nicht zusammentreffen, ist eine erstaunliche Kunst unserer Kultur. Die beiden Linien, jene vom unbegrenzten technischen Fortschritt und jene der ungebremsten Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen, scheinen Geraden zu sein, die sich erst im Unendlichen schneiden. Zwischen dem Kampf um die Erhaltung der ökologischen Lebensgrundlagen und der Produktion immer leistungsfähigerer Rechen- und Mustererkennungsmaschinen fehlt jede echte Brücke. Die Menschheit gleicht einem Verrückten, der weiß, dass sein Keller brennt und dass die Flammen sich immer schneller nach oben ausbreiten. Umso fiebriger baut er seinen Dachstuhl aus, um dem Himmel näher zu kommen. Warum hält er nicht inne, um zu löschen?

Es fällt nicht schwer, die Geschichte des informationstechnischen Fortschritts synchron zu erzählen zur Geschichte des Umweltbewusstseins in den westlichen Industriestaaten. Es ist eine Erzählung aus der gleichen Zeit, der gleichen Kultur und einander nicht unähnlicher Menschen. Initial wurde die Zündung zur Erforschung und Produktion einer zum ersten Mal so benannten »künstlichen Intelligenz« (artificial intelligence) im Sommer 1956. Zehn Wissenschaftler und ein sechswöchiger Workshop genügten, um die frische Brise einer aufregenden Zukunft durch die ehrwürdigen Hallen des Dartmouth College in Hanover, New Hampshire, wehen zu lassen: »Wir schlagen vor, im Laufe des Sommers 1956 über zwei Monate ein Seminar zur künstlichen Intelligenz mit zehn Teilnehmern am Dartmouth College durchzuführen. Die Studie soll von der Annahme ausgehen, dass grundsätzlich alle Aspekte des Lernens und anderer Merkmale der Intelligenz so genau beschrieben werden können, dass eine Maschine zur Simulation dieser Vorgänge gebaut werden kann. Es soll versucht werden herauszufinden, wie Maschinen dazu gebracht werden können, Sprache zu benutzen, Abstraktionen vorzunehmen und Konzepte zu entwickeln, Probleme von der Art, die zurzeit dem Menschen vorbehalten sind, zu lösen und sich selbst weiter zu verbessern. Wir glauben, dass in dem einen oder anderen dieser Problemfelder bedeutsame Fortschritte erzielt werden können, wenn eine sorgfältig zusammengestellte Gruppe von Wissenschaftlern einen Sommer lang gemeinsam daran arbeitet.«[1]

Dem kurzen Sommer von 1956 folgten seitdem mehr als sechs Jahrzehnte; vierundsechzig Jahre, in denen Maschinen lange und mühevoll lernten, »sich selbst weiter zu verbessern«. Zunächst fand man Regelkreise, in denen sich das menschliche Denken in einigen Teilbereichen...

Erscheint lt. Verlag 15.6.2020
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte AI • Algorithmen • Artificial Intelligence • Computer • eBooks • Ethik • Immunsystem • KI • Künstliche Intelligenz • Maschinen • Moral • Philosophie • Virus
ISBN-10 3-641-14191-5 / 3641141915
ISBN-13 978-3-641-14191-2 / 9783641141912
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