Taktiken der Entnetzung (eBook)

Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019 | 1., Originalausgabe
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76388-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Taktiken der Entnetzung - Guido Zurstiege
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In einer Zeit, in der jeder permanent sendet und auf Empfang ist, stellt die Fähigkeit zur Entnetzung eine der wichtigsten Bedingungen für die Selbstbehauptung und Selbstbestimmung des Individuums dar. Die allseits gesteigerte Kommunikation und Konnektivität erzeugt ein ebenfalls gesteigertes Bedürfnis nach kommunikativem Rückzug und Verzicht. Ob aus Verdruss über den Verfall des politischen Diskurses oder als Reaktion auf den Zwang zur permanenten Entblößung, ob aus Angst vor den auf Dauerüberwachung programmierten Medien des technologischen Habitats oder als Versuch der Rückgewinnung von Kontrolle über das aus den Fugen geratene eigene Mediennutzungsverhalten: Jeder braucht heute Taktiken der Entnetzung, um den Herausforderungen des digitalen Zeitalters erfolgreich zu begegnen.



<p>Guido Zurstiege, geboren 1968, ist Professor für Medienwissenschaft an der Eberhard Karls Universität Tübingen.</p>

Apostel der Entnetzung


Der Zwang zur Selbstoffenbarung in den sozialen Medien, die gestiegenen Möglichkeiten der Überwachung, die Erfahrung von digitalem Hass und politischer Propaganda, der Übergang von einem Paradigma der ritualisierten Mediennutzung hin zu einem der habituellen, manchmal geradezu zwanghaften Mediennutzung, all dies ist heute Gegenstand öffentlicher Debatten. Ein auffälliges Merkmal dieser Diskussionen ist die Tatsache, dass sich viele ihrer Protagonisten durch eine besondere Nähe zu genau den Medien auszeichnen, die im Zentrum der Kritik stehen. Freilich kommen die verschiedenen Beiträge aus sehr unterschiedlichen Ecken des digitalen Universums und propagieren daher sehr verschiedene Taktiken der digitalen Dissidenz. Dies reicht von der Empfehlung eines punktuellen Verzichts über das Plädoyer für einen achtsamen Umgang mit den neuen Medientechnologien bis hin zu der Forderung nach einem radikalen Schnitt mit den sozialen Medien. Persönlich ist der Ton, mit dem die meisten dieser Apostel der Entnetzung ihre Leser ansprechen, metaphorisch ist ihre Sprache, die Bilder einer Zeitenwende evoziert und historische Parallelen aufweist zu einer ganzen Reihe von Industrien, die im Zuge der Gesellschafts- und Konsumkritik der vergangenen Jahrzehnte nacheinander in Ungnade gefallen sind. Allen Aposteln der Entnetzung ist gemeinsam, dass sie vor allem dem Individuum die Verantwortung zuschreiben, an den Verhältnissen des herrschenden Kommunikationsklimas etwas zu ändern, an den Herausforderungen, die die heutige Medienlandschaft mit sich bringt, nicht zu verzweifeln, sondern zu wachsen, fit zu werden, mental einzuschalten oder technisch abzuschalten. Das Mittel der Wahl besteht in der produktiven Entsagung auf all das, was einen ablenken könnte, und das sind besonders die digitalen Medien.

Oft sind es Praktiker, die mit dem ganzen Pathos eines Branchenkenners den temporären Ausstieg fordern und sich für Rituale der digitalen Reinigung und des Verzichts einsetzen. Man kann das als den öffentlich sichtbaren Ausdruck einer der wohl größten medientheoretischen Rückrufaktionen aller Zeiten bezeichnen. Die meisten der einstigen Netzeuphoriker haben bereits in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends ihre Thesen widerrufen: Ob Jaron Lanier, Evgeny Morozov, Sherry Turkle, Eli Pariser oder Howard Rheingold1 – nur wenige Jahre nachdem sie ihre euphorischen Zukunftsvisionen verkündet haben, sind aus all diesen Propheten der schönen neuen digitalen Medienwelt Zögerer und Zweifler geworden. Einst glühende Verfechter einer neuen digitalen Ordnung, bewerten sie die Potenziale der digitalen Medien heute ganz und gar anders, als sie es noch in der Sturm- und Drangphase der gesellschaftlichen Computerfizierung getan haben. Während sich immer mehr Menschen in den Foren und auf den Plätzen der digitalen Öffentlichkeit versammeln und in den neuen Möglichkeiten der gesteigerten Vernetzung schwelgen, in einer Zeit, in der immer mehr Menschen geradezu massenhaft ihre eigenen Grundrechte auf informationelle Selbstbestimmung mit einem kurzen Click leichthändig abgeben und in medienethischer Hinsicht »disconnected« digitale Medien nutzen,2 häufen sich bei all jenen Bedenken, die die berauschenden Möglichkeiten des vernetzten Computers bereits von Anfang an in vollen Zügen ausgekostet haben.

Viele Apostel der Entnetzung haben also ihren beruflichen Erfolg ausgerechnet jenen Technologien zu verdanken, auf die produktiv verzichten zu können sie öffentlich propagieren. Anfang 2019 gestand der Bundesvorsitzende der Grünen, Robert Habeck, dass er nach vielen Jahren des Twitterns nun entschieden habe, seinen Twitter-Account zu löschen. Am Anfang sei er fasziniert davon gewesen, wie Barack Obama 2008 den Präsidentschaftswahlkampf mit Hilfe der sozialen Medien gewonnen habe. Inzwischen wolle er aber eben mehr als nur ein cooles twittertaugliches Statement formulieren. Mehr gute Interviews wolle er geben und, genügend Zeit und Kraft vorausgesetzt, Bücher schreiben. Bei Twitter setzten sich ohnehin oft nur »die Lautesten und Aggressivsten« durch.3 Möglicherweise hatte aber auch etwas anderes den Ausschlag gegeben. Kurz vor seinem Rückzug aus den sozialen Medien war Habeck das Opfer eines massiven digitalen Datenklaus geworden und hatte überdies für seine missverständliche Äußerung im Thüringer Wahlkampf, Thüringen solle ein offenes, liberales, demokratisches Land werden, einen digitalen Sturm der Entrüstung auf sich gezogen. Habeck zog die Reißleine: Raus aus der Netzöffentlichkeit.

Es sind nicht nur diejenigen, die wie Robert Habeck mittelbar von den sozialen Medien profitiert haben, sondern auch und vor allem diejenigen, die ganz unmittelbar ihren beruflichen Erfolg und ihren persönlichen Wohlstand digitalen Medientechnologien zu verdanken haben, die ihre Fähigkeit zum Verzicht öffentlich demonstrieren. Microsoft-Gründer Bill Gates zieht sich immerhin zwei Mal im Jahr für seine »Think Week« in eine Hütte am See zurück, um ausschließlich zu lesen und große Gedanken zu denken. Apple-Chef Tim Cook möchte nicht, dass sein Neffe soziale Medien verwendet.4 Googles langjähriger CEO Eric Schmidt hat öffentlich zu bedenken gegeben, wie wichtig es sei, deutlicher zwischen Online- und Offlinezeiten zu unterscheiden, weswegen er die Zeiten seiner Essensaufnahme strikt als Offlinezeit definiert habe.5

»Tech-Entwickler bereuen ihre Schöpfungen«, meldete Simon Hurtz Anfang 2018 für die Süddeutsche Zeitung vor dem Hintergrund einer anschwellenden internationalen Berichterstattung über den Fahrt aufnehmenden »Techlash«, mit der die Öffentlichkeit staunend zur Kenntnis nimmt, dass immer mehr ehemalige Chefentwickler, Programmierer, Designer und CEOs aus dem Silicon Valley widerrufen: »Es tut uns leid, wir haben uns geirrt.«6 »Tablets out, imagination in«, schrieb Matthew Jenkin im britischen Guardian. Nach einer ersten euphorischen Begeisterungswelle für den voll vernetzten Kindergarten und das personalisierte Lernen bereits im Kleinkindalter schicken inzwischen immer mehr Mitarbeiter von Google, Apple und Yahoo ihre Kinder wieder ganz bewusst auf Schulen, an denen dezidiert auf elektronisches Lehrmaterial und personalisiertes Lernen verzichtet wird.7 In der New York Times war zu lesen, dass immer mehr Eltern im Silicon Valley darauf bestehen, dass die Nannys ihrer Kinder zum Schutz der Kleinen auf die Verwendung von Smartphones und Tablets bei der Arbeit verzichten. Wo eine Nanny auf dem Spielplatz gesichtet wird, die zwar mit einer Hand für den richtigen Schwung der Schaukel sorgt, aber mit der anderen auf dem Smartphone Nachrichten checkt, gibt es inzwischen Initiativen, die diese Fotobeweise umgehend ins Netz stellen und Nanny-Outing betreiben: »Ist das Ihre Nanny?«8 Die Herausforderungen an die Kindermädchen sind freilich widersprüchlich. Denn nicht selten sind es dieselben Eltern, die sich eine Detox-Nanny wünschen und zugleich am liebsten im Halbstundentakt über die Befindlichkeit ihrer Kinder informiert sein wollen.

Sean Parker, Mitbegründer der Musiktauschbörse Napster und lange Zeit ein wichtiger Berater bei Facebook, bekannte 2018 öffentlich, die sozialen Medien seien süchtig machende Technologien, eine Gefahr für Kinder und Jugendliche und Antipode der Produktivität am Arbeitsplatz.9 Ähnlich äußerte sich im selben Jahr Chamath Palihapitiya, der ebenfalls lange Zeit für Facebook tätig war und dabei gemeinsam mit Leah Pearlman und Justin Rosenstein, die übrigens ebenfalls beide heute tief bereuen, was sie getan haben, an der Entwicklung des Like-Buttons von Facebook mitgewirkt hat. Er fühle sich inzwischen unendlich schuldig für die freilich großartige Arbeit, die er bei Facebook seinerzeit geleistet habe.10 Tony Fadell, ehemals bei Apple, bricht nach eigenem Bekunden der kalte Schweiß aus, wenn er nur daran denkt, was er und seine Kollegen mit ihrer Arbeit verursacht hätten.11 Brian Acton, Mitgründer des mittlerweile zu Facebook gehörenden Kurznachrichtendienstes WhatsApp, hat per Hashtag #DeleteFacebook dazu aufgerufen, das soziale Netzwerk nach dem Datenskandal im Fall Cambridge Analytica zu verlassen.12 Einer der ersten Finanziers Facebooks, der Investor Roger McNamee, warnt vor dem ungeheuren Datenhunger des sozialen Netzwerks.13 Kein Zweifel, immer mehr Protagonisten der Tech-Industrie positionieren sich...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Technik
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Technik
Schlagworte digital detox • Digitale Abstinenz • edition suhrkamp 2745 • ES 2745 • ES2745 • Facebook • Instagram • Jaron Lanier • Me-Time • Offline • Social Media
ISBN-10 3-518-76388-1 / 3518763881
ISBN-13 978-3-518-76388-9 / 9783518763889
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