Junge Wilde (eBook)

Was uns der Blick in die Tierwelt über das Erwachsenwerden lehrt
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
424 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-23158-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Junge Wilde -  Barbara Natterson-Horowitz,  Kathryn Bowers
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Erwachsenwerden: Lernen von der Natur
Ambitionierte Tiger Mom oder gelassene Panda Mom - was können wir wirklich aus dem Tierreich lernen, wenn es um das Thema Erwachsenwerden geht? Vor allem eins: Das Pubertier ist überall! Die 'schwierige Phase' zwischen Kindheit und Erwachsensein hält Pinguineltern, Wale und Wölfe auf Trab. Barbara Natterson-Horowitz und Kathryn Bowers, Spezialistinnen auf dem Gebiet der artenübergreifenden Forschung, schildern erstaunliche Beobachtungen, von aufmüpfigen Hyänen, draufgängerischen Gnus und nesthockenden Adlern. Sie alle brauchen Übung und Erfahrung, um selbständig zu werden und ihr Überleben zu sichern. In Zeiten von überhitzten Erziehungsdebatten hält dieses Buch an zu Gelassenheit, Geduld und Nachsicht mit Heranwachsenden und gibt Eltern und Lehrern Grund zur Entspannung. Nature Writing mal anders!

Barbara Natterson-Horowitz studierte Medizin und Psychiatrie in Harvard und an der University of California, San Francisco, wo sie heute als Professorin für Kardiologie forscht. Sie ist medizinische Beraterin des Zoos von Los Angeles. Kathryn Bowers war Redakteurin bei 'The Atlantic Monthly', schrieb und produzierte für CNN International. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher populärer und akademischer Sachbücher und unterrichtet an der University of California Medical Writing.

Prolog

Unser Plan, dem Wesen der Adoleszenz auf den Grund zu gehen, entstand 2010 an einem kalten kalifornischen Strand. Wir standen auf einer Düne und sahen hinaus auf den Pazifik, genauer: auf eine Stelle, die den seltsamen Spitznamen »Dreieck des Todes« trägt.

Der faszinierende Bericht eines Meeresbiologen hatte uns an diesen Ort gezogen. Das Dreieck des Todes, so erzählte er, habe seinen Namen wegen einer Horde besonders tödlicher Bewohner: Weiße Haie. In dieser Gegend hielten sich Hunderte dieser riesigen Raubfische auf, und sie seien so berüchtigt für ihre Gefräßigkeit, dass selbst andere hier lebende Tiere gelernt hätten, ihnen aus dem Weg zu gehen. Entlang der gesamten Küste Kaliforniens wachsen üppige Wälder aus Seetang oder Kelp, nur nicht im Dreieck des Todes, so dass ein Tier, das sich dummer- oder unglücklicherweise an diesen Ort begibt, nirgends eine Möglichkeit zum Verstecken findet. Das Gewässer ist so heimtückisch, dass selbst die Wissenschaftler, die hier arbeiten, nicht aus ihren Booten steigen.

Aber das, so der Biologe weiter, war nicht einmal das Interessanteste. Gegen jede Intuition und unter großer Gefahr für Leib und Leben begibt sich ein bestimmtes Tier regelmäßig in das Dreieck des Todes: der Kalifornische Seeotter. Allerdings nicht jeder Seeotter. Nur eine ganz bestimmte Gruppe vergnügt sich in der Todeszone, und es sind nicht die erfahrenen ausgewachsenen Tiere. Auch ganz sicher nicht die kleinen Welpen. Nein, die armen Irren, die immer wieder rausschwimmen in das eisige, öde, von Haien bevölkerte Todesdreieck sind die Heranwachsenden. Ein paar von ihnen kommen zwischen krachenden Kiefern und aufwirbelndem Blut zu Tode. Die meisten aber nicht. Diese Heranwachsenden mit dem Hang zum Nervenkitzel tauchen wieder auf, mit hart erkämpfter Erfahrung, mit neu gewonnenem Selbstvertrauen und mit mehr Wissen über die See, als sie als von den Eltern behütete, abhängige Jungtiere besessen hatten.

Zu dieser Zeit schrieben wir an unserem ersten Buch Zoobiquity (deutsch: Wir sind Tier), das die uralten und aufschlussreichen Verbindungen zwischen der Gesundheit von Menschen und Tieren untersucht. (Wir arbeiten als Team: Barbara ist Gastprofessorin am Fachbereich für Evolutionsbiologie des Menschen in Harvard und Professorin für Medizin in der Kardiologischen Abteilung der University of California in Los Angeles, UCLA. Kathryn ist Wissenschaftsautorin mit einem Abschluss als Verhaltensbiologin. Zusammen haben wir für Harvard und UCLA Kurse entwickelt und unterrichtet.) Als wir so dastanden und zum Dreieck des Todes hinausschauten, traf es uns wie ein Schlag: Diese jugendlichen Otter erinnerten uns stark an ein paar Teenager, die wir kannten. Auch sie riskierten eine Menge, brachten sich in Gefahr und taten schreckliche Dinge, denen ihre Eltern entwachsen waren. Nachdem wir eine Weile aufs Meer hinausgesehen hatten, gingen wir den Strand entlang, über eine Düne und dann auf eine Nehrung, wo sich uns eine völlig andere Szenerie darbot.

In einer vor der schaumgekrönten Brandung geschützten Bucht paddelten ein paar Kajakfahrer langsam durch das ruhige Wasser. Diese schmale Bucht in einem Areal namens Moss Landing ist ein Meeresschutzgebiet und ein hervorragender Platz, um Tiere zu beobachten, auch Seeotter. Die Großfamilien der jugendlichen Seeotter, die es ins Dreieck des Todes zieht, kommen hier zum Fressen, zum Entspannen und zur Kontaktpflege zusammen.

An diesem Tag waren ein paar Dutzend dieser schlanken Tiere unterwegs, dümpelten auf dem Rücken vor sich hin oder schraubten sich spritzend durchs Wasser. Es sah aus wie eine offene Schwimmstunde in einem Freibad, Jung und Alt vergnügte sich im Wasser. Ältere Tiere schwammen gemächlich vor sich hin und ließen die in Gruppen herumtobenden Jugendlichen nachsichtig gewähren. Wir sahen, wie Seeotter nach Seeigeln tauchten und lernten, deren Schale zu knacken, wie sie sich paarweise oder in Gruppen Scheinkämpfe lieferten und wie sie probierten, sich an der Nase zu packen, was zum Verhaltensrepertoire bei der Paarung gehört. Obwohl die ganze Situation nach sorgloser Entspannung aussah, sollten wir gleich merken, dass es sich in Wirklichkeit um eine Otterschule reinsten Wassers handelte.

Plötzlich brach vor unseren Augen ein Riesenchaos aus. Das Wasser schien förmlich in Gischt zu explodieren, als einige Seeotter in Höchstgeschwindigkeit vom einen Ende der Bucht zum anderen schossen. Was ist passiert?, fragten wir unseren Biologen. War es ein Hai? War ein Räuber in die flache Bucht geschwommen?

Nein, sagte der Biologe und zeigte auf eines der Kajaks, das Boot ist zu nah rangekommen. Aber schaut, die haben sich nicht alle erschreckt. Und tatsächlich, eine kleine Gruppe von Ottern trieb lässig und völlig ungerührt weiter im Wasser. Wie die grauen Haare auf ihrem Kopf zeigten, handelte es sich um erfahrene Alttiere, die wussten, was gefährlich ist und was nicht. Die Schreckhaften, die die Flucht ergriffen hatten, waren die Heranwachsenden, die den Unterschied zwischen einem Weißen Hai und einem Sea-Ghost-Kajak noch nicht kannten.

Erst nahe an die Haie heranschwimmen und dann vor einem Plastikboot flüchten: Diese unerfahrenen Jugendlichen waren einerseits zu wagemutig, andererseits zu vorsichtig. Aber wir beobachteten auch, dass sie intensiv Kontakt zu ihren Altersgenossen suchten, sexuelle Verhaltensweisen ausprobierten und sich abmühten, sich selbst etwas zu essen zu organisieren. Die Parallelen zu unserer eigenen Spezies und sogar zu unserer eigenen Jugendzeit waren bemerkenswert.

Wie so oft, seitdem wir mit der Erforschung der Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier begonnen haben, dachten wir, dass wir das Verhalten der Otter vielleicht vermenschlichten, dass wir in das possierliche Treiben dieser wilden Säugetiere zu viel hineindeuteten. Vom Anbeginn unserer gemeinsamen Tätigkeit an war es uns wichtig zu vermeiden, menschliche Eigenschaften auf andere Arten zu projizieren, denn das halten wir für eine zentrale Gefahr in der wissenschaftlichen Arbeit. Doch je mehr wir über die Arbeit in anderen Feldern – Neurobiologie, Genomik oder molekulare Phylogenie eingeschlossen – erfuhren, desto klarer wurde uns, dass die Gefahr, die tatsächlichen und nachweisbaren Gemeinsamkeiten zwischen Mensch und Tier (sowohl auf der körperlichen als auch auf der Verhaltensebene) zu leugnen, vielleicht die größere war. Die wahre Gefahr, so erkannten wir, war nicht der Anthropomorphismus, die Vermenschlichung, sondern sein Gegenteil – das, was der Primatologe und Verhaltensforscher Frans de Waal als »Anthropodenial« (das Leugnen menschlicher Eigenschaften) bezeichnet.1

In unserer Arbeit haben wir Behauptungen zur Einzigartigkeit des Menschen vielfach widerlegt. Wilde Tiere können tatsächlich »menschliche Krankheiten« bekommen: Herzversagen, Lungenkrebs, Ess-Störungen und Süchte. Sie können Schlaflosigkeit und Angstzustände entwickeln. Manche essen zu viel, wenn sie unter Stress stehen, anderen verschlägt es den Appetit. Keineswegs alle sind heterosexuell. Manche sind Angsthasen, andere Draufgänger. Fast immer, wenn jemand behauptete, etwas gebe es nur beim Menschen, stellten wir fest, dass das nicht stimmt.

Und hier, in dem Gewässer vor uns, gab es eine weitere frappierende Parallele. Alle Tiere durchlaufen eine Teenagerphase, selbst wenn die von einigen wenigen Tagen bis zu vielen Jahren dauern kann. Jungen und Mädchen werden nicht über Nacht zu Männern und Frauen. Und der Übergang vom Fohlen zum Hengst, vom »Joey«, dem extrem unreifen Beuteltierjungen, zum Känguru, vom Seeotterwelpen zum gestandenen Seeotter geht ebenso allmählich, ebenso bestimmt und ebenso außergewöhnlich vor sich. Alle Tiere brauchen Zeit, Erfahrung, Übung und Niederlagen, um zu reifen Erwachsenen zu werden.

Der Tag am Dreieck des Todes hat uns einen ersten Eindruck von der Adoleszenz im Tierreich gegeben. Und nachdem wir sie dort entdeckt hatten, begannen wir, sie überall zu sehen.

Eine neue Sichtweise

Es war, als hätte man uns – buchstäblich – die Augen geöffnet. An unserem Sehvermögen hatte sich nichts geändert, aber an unserer Wahrnehmung. Vor uns tat sich ein ganz neues Verständnis dafür auf, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Vogelschwärme, Walfamilien, Jugendcliquen, unsere eigenen Kinder, sogar unsere Erinnerungen an uns selbst als Teenager und junge Erwachsene sahen danach ganz anders aus.

In den darauffolgenden Jahren konzentrierten wir unsere Forschungsarbeit auf Tiere in dieser Übergangsphase: körperlich schon zu weit, um noch als »juvenil« bezeichnet zu werden, aber noch nicht erfahren genug, um als »reif« zu gelten.

Als wir eine Gnuherde beim Überqueren eines krokodilverseuchten Flusses beobachteten, bemerkten wir, dass die ersten, die ins Wasser gingen, große, schlaksige Heranwachsende waren.2 Sie waren impulsiv, unerfahren, hatten keine Vorstellung von der Gefahr und sprangen übermütig hinein. Die klügeren Alten dagegen hielten sich zurück und querten den Fluss erst dann, als die Krokodile damit beschäftigt waren, die Jungen zu jagen.

In Manhattan, Kansas, sahen wir mit eigenen Augen, wie eine von zwei jungen erwachsenen Hyänen die andere drangsalierte, obwohl sie gleich alt und gleich groß waren. Um eine klare soziale Hierarchie zu errichten, braucht es nicht mehr als zwei junge Individuen.

Eine Gruppe von kulleräugigen Mongozmakis näherte sich uns, als wir die Dschungelanlage im Duke Lemur Center in Durham (North Carolina) besuchten, und zu unserem Entzücken kam eines der Tiere direkt auf uns zu: Nacho, ein junges...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Übersetzer Susanne Warmuth
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel WILDHOOD. Coming of Age in Humans and other Animals
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Biologie • Das geheime Leben der Bäume • Das Seelenleben der Tiere • Die Weisheit der Wölfe • eBooks • Erziehungsratgeber • Evolutionsforschung • Jan Haft • Medizin • Peter Wohlleben • Pubertät • Tiere denken • Zoobiquity
ISBN-10 3-641-23158-2 / 3641231582
ISBN-13 978-3-641-23158-3 / 9783641231583
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