Der schmale Grat (eBook)

Als Arzt und Abenteurer zwischen Leben und Tod
eBook Download: EPUB
2020
224 Seiten
Ludwig Buchverlag
978-3-641-25127-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der schmale Grat - Hubert Messner, Lenz Koppelstätter
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Er kämpft für die Kleinsten und Zerbrechlichsten - eine Passion, die seine medizinische Laufbahn von Anfang an geprägt hat. Hubert Messner, der Bruder von Reinhold Messner, ist Neonatologe, Neugeborenenmediziner.

Wann beginnt das Leben? Wann ist es lebenswert? Und wann ist es besser, einen kleinen Patienten sanft gehen zu lassen? All diese Fragen bewegten ihn nicht nur als Chefarzt des Klinikums in Bozen, einer der renommiertesten Neugeborenen-Intensivstationen Europas, wo er zahlreiche Frühchen ins Leben geführt hat, sondern auch als Vater, dessen ältester Sohn viel zu früh zur Welt kam.

Oft sind es die Gratwanderungen, die Balanceakte zwischen den Extremen, aus denen man intensiv lernen kann. Das erfährt Hubert Messner auch, wenn er mit seinem Bruder Reinhold den Nanga Parbat in Angriff nimmt, Grönland durchquert oder sich zum Nordpol aufmacht. Immer gilt es, den Wert des Lebens zu spüren und in kritischen Momenten die richtige Entscheidung zu treffen.

Voller Empathie und Leidenschaft erzählt Hubert Messner von seiner Kindheit und Jugend in den Bergen, von seiner beruflichen Tätigkeit als Neonatologe, seinen schwierigsten Fällen und den abenteuerlichen Expeditionen an der Seite seines Bruders Reinhold.

Hubert Messner, geboren 1953, ist in einem Südtiroler Bergdorf im Villnößtal aufgewachsen. Er hat in Innsbruck Medizin studiert, in Modena Kinderheilkunde und wurde in Mailand, Graz, Toronto und London zum Neonatologen ausgebildet, bevor er in Bozen die Neonatologie-Abteilung übernahm und diese als Chefarzt mit großem Erfolg ausbaute. Seinen Bruder, die Bergsteigerlegende Reinhold Messner, begleitete er als Expeditionsarzt mehrere Male in den Himalaja und in Eiswüsten. Er ist seit 2018 pensioniert und engagiert sich für soziale Projekte, unter anderem für Essen auf Rädern und freiwillige Arbeitseinsätze in den Sommermonaten auf steilen Bergbauernhöfen. Er setzt sich für Aufklärung rund um das Thema Impfung ein und arbeitete während der Coronapandemie zeitweise auf einer Covidstation.
Hubert Messner lebt mit seiner Frau und drei Söhnen in Südtirol.

STERBEN

Und dann wird dir zum ersten Mal im Leben klar: Unter deinen Händen stirbt ein Kind.

Ich versuche, mich zurückzuerinnern. Wann war das? Als junger Arzt, auch im Rahmen der Ausbildung, wird man etliche Male mit dem Tod konfrontiert. Du siehst kleine Patienten, die sterben, tote Kinder, aber du fühlst dich für ihren Tod nicht verantwortlich. Sie sterben, aber sie sterben nicht dir. Du arbeitest im Team, du stehst in der zweiten Reihe, und wenn es kritisch wird, kommt der alte, erfahrene Oberarzt und übernimmt. Wenn das Kind stirbt, steht da vorne der Oberarzt.

Du bist zwar dabei, du siehst das Sterben, aber du stehst weiter hinten, du lässt es nicht so nah an dich heran. Kannst du auch gar nicht. Du bist noch viel zu jung dafür. Du würdest es nicht aushalten.

Ein totes Kind, ja. Aber da sind doch noch die anderen, die um dich stehen, die vor dir stehen. Weg! Verdrängen! Weg mit dem Tod! Ein junger Arzt zieht einen Schutzwall um sich herum, er will mit dem Tod nichts zu tun haben. Er sagt sich: Tod, das ist doch nicht das, weshalb ich Mediziner geworden bin. Das ist doch nicht meine Aufgabe. Ich bin schließlich nicht Pathologe geworden. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu heilen, Menschen ins Leben zurückzuholen, Kinder zu retten. Ich bin Arzt. Lebensarzt. Nicht Totenarzt. Ich will Leben retten, weg mit dem Tod.

Der Tod kommt nicht vor.

Ich war 25 Jahre alt. Es war in Bozen. Im Sommer 1978. Ich hatte mein Medizinstudium beendet, auf der Station meine ersten Praktika gemacht. Ich war auf der Kinderinfektionsabteilung, wo wir mit einer schlimmen Epidemie zu kämpfen hatten. Eine Infektionskrankheit grassierte in Südtirol, die mehrere Kinder angesteckt hatte. Die Kinder wurden nach Bozen verlegt. Alles Neugeborene.

Die Situation war außergewöhnlich, schlagartig wurde mir in diesem Sommer bewusst, wie schnell Kinder sterben können. Kinder, die am Abend zuvor zwar krank, aber noch aktiv gewesen waren. Sie hatten Fieber, hingen am Tropf, aber sie lebten.

Am nächsten Tag waren sie tot.

Ich hatte mir einen Schutzmechanismus aufgebaut. Weil ich jung war. Weil ich unerfahren war. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich mir sicher, dass ich es ohne diesen Schutzmechanismus nicht geschafft hätte. Die damalige Oberärztin war eine große Hilfe für mich. Sie hat mich viel gelehrt. Sie hat mich auch gelehrt: Manche Kinder dürfen sterben.

Drei Kinder sind damals innerhalb weniger Wochen gestorben. Wir konnten sie nicht retten, hatten keinerlei Möglichkeit.

Der Tod gehört zu unserer Arbeit.

Sie hatte mich so viel gelehrt, diese Ärztin: wie man sich einem Kind annähert, wie man es beobachtet, ganz anders als einen Erwachsenen. Sie hatte mich oft gefragt: Wie siehst du heute dieses Kind? Sie wollte keine Daten erfahren, keine Auswertungen. Sie fragte einfach, was ich beobachtet hatte. Wie das Kind auf mich wirkte. Als junger Arzt willst du untersuchen: Bauch abtasten, Lunge abhorchen, Herz prüfen. Aber sie fragte: Was hast du beobachtet? Leidet das Kind? Hat es Schmerzen? Welche Bedürfnisse hat es? Und forderte mich auf: Zieh deine Schlussfolgerungen daraus. Sie riss mich aus dem Tunnel der medizinischen Systematik heraus. Die Herangehensweise dieser Frau weckte die Begeisterung für den Arztberuf in mir. Das kann man an der Universität nicht lernen.

Genauso wenig wie den Umgang mit dem Tod.

Ein Kind ist tot.

Schutzmechanismus. Eine Mauer. Vielleicht war auch Zynismus Teil dieser Mauer. Vorgetäuschte Coolness, so tun, als ob einen das alles kaltließe.

Ja, das kann sein.

Vielleicht musste es sein.

Es gab diese drei Kinder, die ich sterben sah. Das war das erste Mal, dass ich mit dem Tod eines Menschen konfrontiert wurde, vom Sterben der Großeltern einmal abgesehen.

Ich erinnere mich an den Tod meiner Großmutter mütterlicherseits und an den Tod des Großvaters väterlicherseits. Ich war noch ein Kind. Grundschüler. Das Sterben der Alten gehörte ins Leben. Der Tod der Großeltern, der Tod alter Menschen im Dorf, davon machte man nicht viel Aufhebens. Ein alter Mann stirbt, eine alte Frau stirbt. Kinder werden geboren. Der Kreislauf des Lebens. Des Seins. Der Gang der Dorfgeschichte.

Der erste Tod überhaupt, an den ich mich erinnern kann, der mich schon als Kind beeindruckt hatte, war der Tod von John F. Kennedy. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Die Nachricht drang zu uns ins Tal. Ins Dorf. Drüben, in Amerika, haben sie den Präsidenten erschossen. Er war noch jung. Er sollte noch nicht sterben. Meinen Vater berührte dieser Tod sehr. Mein Vater war ein politischer Mensch. Dorflehrer, Schulleiter, Vizebürgermeister, Kriegsüberlebender. Kennedy war für ihn eine Hoffnung, weit weg – und doch da. Jetzt war er plötzlich tot.

Erschossen.

Wir hatten keinen Fernseher, die Nachricht des toten Präsidenten erreichte uns wohl mit Verspätung. Mein Vater kam vom Gasthaus nach Hause und erzählte es uns. Mein Vater hat zu Hause viel von Politik gesprochen. Vieles habe ich damals noch nicht verstanden. Einiges aber schon: Da gab es zwei Großmächte. Auf der einen Seite die Sowjetunion, auf der anderen Seite Amerika. Dazwischen Europa, das sich vom Krieg erholte. Wir hatten Angst vor dem Kommunismus in unserem Tal. Angst, dass die Russen über uns herfallen. Amerika war unsere Perspektive. Und nun war dieser junge Kennedy tot.

1963.

Wir Schulkinder mussten in die Kirche. In St. Peter, im Villnößtal, in Südtirols Bergen, wurde für John F. Kennedy eine Messe gehalten. Mein Vater und der Pfarrer hatten das so bestimmt.

Das war der erste Tod in meinem Leben, der nicht sein sollte, der sich nicht richtig anfühlte. Der zu früh kam und eine Lücke hinterließ, weil da noch ein Weg zu gehen gewesen wäre. Weil der noch nicht alt war, der Kennedy, noch nicht am Ende seines Weges angekommen war, so wie meine Großeltern.

Jemand, der nicht hätte sterben dürfen.

Ein Kind tot, dessen Leben gerade erst hätte beginnen sollen. Alte Menschen sterben, das ist so, aber ein Kind sterben zu sehen ist etwas ganz anderes.

Kennedy war vergessen, ich war Medizinstudent, da wirst du mit dem Tod nicht konfrontiert. Mit Leichen, ja. Aber das ist nicht der Tod. Eine Leiche ist etwas, an dem man arbeitet, an dem man lernt. Du siehst diese Hülle nicht als jemanden, der gestorben ist. Das ist eine Leiche, kein Toter.

Obduktionsleichen haben mich nie berührt. Sie haben mich nur als Objekt fasziniert. Wir haben uns auch nicht mit der Geschichte der zu sezierenden menschlichen Überreste beschäftigt.

Vielleicht hätten wir das tun sollen. Vielleicht sollte man Medizinstudenten, bevor sie sich an toten Körpern ausprobieren dürfen, klarmachen, dass in diesen Körpern einmal Leben steckte. Vielleicht sollte man vorab vom Leben dieser Menschen erzählen.

Warum ist dieser Mensch gestorben? Warum hat er sich als Objekt für die Wissenschaft zur Verfügung gestellt?

Vielleicht.

Ich habe in den vergangenen Jahren mit vielen Kollegen über diese Frage gesprochen. Auch sie sagten mir: Nein, wir haben uns nicht mit dem Leben der Leichen beschäftigt. Wir haben Muskeln freigelegt, Sehnen freigelegt, Bänder freigelegt, uns auf das Studium konzentriert. Nicht auf den Menschen. Nicht auf die Person. Pure Abstraktion.

Vielleicht muss das so sein.

Vielleicht.

Ein Kind stirbt, ich stehe in dritter Reihe, weit hinter dem Oberarzt. Der Oberarzt sagt, wir können nichts mehr tun. Ich spüre keine Regung in mir. Keine Trauer, keine Wut. Nur rationales Denken: Das kann nicht sein! Es muss doch noch Möglichkeiten geben! Ich denke nur: Wir müssen weiter forschen, neue Möglichkeiten finden.

Das einzelne Schicksal spielte keine Rolle mehr, sobald ich das Krankenhaus verließ.

Zu Hause erzählte ich: Heute ist ein Kind gestorben. Das war’s. Sieg der Rationalität. Der Oberarzt hatte erklärt, warum das Kind sterben musste. Ich hatte es verstanden. Es gab medizinische Gründe. Es wurde nicht erschossen, wie Kennedy, der Tod war erklärbar. Grausam, aber erklärbar.

Ein totes Kind.

Verdrängen, Rationalität, Selbstschutz, Mauer.

Jahre darauf starben uns Kinder aufgrund solcher Infektionen nicht mehr.

Später bewegte mich der Tod der Kinder viel mehr. Viel, viel mehr.

Mein erstes totes Kind, meins, als ich nicht mehr in der dritten Reihe stand, hieß Anna*. Immer noch in Bozen, zwei Jahre später, 1980. Ich arbeitete auf der Neugeborenenstation, die noch keine Intensivstation war, wie wir sie heute kennen.

Ich war noch ein junger Arzt, arbeitete mit Enthusiasmus. Ich lernte schnell und in kurzer Zeit. Der Oberarzt übergab mir viel Verantwortung, und ich nahm sie gerne an. Ich war 27. Es war Frühling. Ich war begeistert von der Arbeit. Unsere Möglichkeiten, Frühchen zu betreuen, waren begrenzt, die Beatmungsmöglichkeiten einfach. Wir haben die Kinder mit frischer Muttermilch ernährt, künstliche Ernährung kannten wir nicht.

Oft war ich nachmittags allein in der Station. Für Anna fühlte ich mich verantwortlich. Sie hatte leichte Atemprobleme, sich aber planmäßig von der Geburt und den ersten Lebenstagen im Brutkasten erholt. Sie wog über 1 000 Gramm.

Mittags ging es ihr noch gut, nachmittags traten plötzlich und völlig überraschend Komplikationen auf. Eine Kinderkrankenpflegerin rief mich. Sie hatte viel Erfahrung. Als junger Arzt waren erfahrene Pflegerinnen damals eine große Stütze, sie waren Autoritäten, Ansprechpartner.

Sie...

Erscheint lt. Verlag 9.3.2020
Zusatzinfo 16 S. Bildteil
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Arzt für Frühgeborene • Autobiografie • Bergsteigen • Bruder von Reinhold Messner • Chefarzt Neonatologie in Bozen • eBooks • Grenzerfahrungen als Abenteurer • Kampf um das Leben der Kleinsten • Lebensgeschichte • Medizin • Outdoor • spannender Lebensbericht • Sport • Südtiroler Bergsteiger und Abenteurer • Wert des Lebens
ISBN-10 3-641-25127-3 / 3641251273
ISBN-13 978-3-641-25127-7 / 9783641251277
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