Das Licht, das erlosch (eBook)

Eine Abrechnung | Der neue Kalte Krieg hat bereits begonnen
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
309 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2156-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Licht, das erlosch -  Ivan Krastev,  Stephen Holmes
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Nach dem Ende des Kalten Krieges wurde das liberal-demokratische Modell westlicher Prägung alternativlos. Heute zerbrechen weltweit Demokratien vor unseren Augen, zersetzt von Populismus, Nationalismus und der Abkehr von freiheitlichen Werten - gerade auch in Osteuropa. Warum hat der Westen seine Strahlkraft verloren? In ihrer brillanten Analyse zeigen Ivan Krastev und Stephen Holmes, dass das seinerzeit ausgerufene »Ende der Geschichte« in Wahrheit ein Zeitalter der Nachahmung einläutete. Drei Jahrzehnte lang sah sich der Osten gezwungen, den Westen zu imitieren, und versank in Gefühlen der Unzulänglichkeit, Abhängigkeit und des Identitätsverlusts. Inzwischen hat das Vorbild seine moralische Glaubwürdigkeit verloren - und ein gefährliches Wertevakuum geschaffen. »Ein bahnbrechendes Werk über die Politik seit dem Ende des Kalten Kriegs, das uns zwingt, bisherige Überzeugungen infrage zu stellen und die komplexe Dialektik aus Liberalismus und Antiliberalismus neu zu bewerten.« George Soros »Es ist ein Buch, das einen dazu verführt, fast auf jeder Seite etwas zu unterstreichen und sich Anmerkungen zu machen. Mit dem Nachahmungsparadigma haben die Autoren ein anregendes Instrumentarium gefunden, um die massenpsychologischen Prozesse unserer Gegenwart offenzulegen. Die Fülle an überraschenden Einsichten und Beobachtungen ist beträchtlich, der detaillierte Blick auf Mentalitätsverschiebungen nicht durch die immer gleichen antifaschistischen Großbegriffe und Ismen verstellt.« Die Zeit, Adam Soboczynski »Ivan Krastev ist einer dieser Philosophen, die auch Geschichtenerzähler sind; seine Pointen, Witze, Anekdoten sind Wegweiser, während er von einem Gedanken zum nächsten wandert...Zusammen mit dem New Yorker Rechtsphilosophen Stephen Holmes hat er gerade ein Buch veröffentlicht mit dem Titel »Das Licht, das erlosch. Eine Abrechnung«. Und was für eine.« Der Spiegel, Lothar Gorris »Ivan Krastev ist einer der großen europäischen Denker unserer Zeit.« Timothy Snyder »Krastev zu lesen ist ein Genuss, denn in seiner stilistischen Kunst finden die Liebe zur Literatur, die politische Illusionslosigkeit und die Schönheit des Gedankens zusammen.« Die Zeit, Elisabeth von Thadden »Stephen Holmes ist einer der brillantesten politischen Philosophen Amerikas.« Tzvetan Todorov

Ivan Krastev, geboren 1965 in Bulgarien, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er den Schwerpunkt Die Zukunft der Demokratie leitet. Der vielfach preisgekrönte Autor schreibt für die internationale Ausgabe der New York Times. 2020 gewann er den Jean-Améry-Preis für europäische Essayistik.

Ivan Krastev,* 1965 in Bulgarien, ist Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien, wo er den Schwerpunkt Die Zukunft der Demokratie leitet. Er schreibt für die internationale Ausgabe der New York Times. 2017 erschien sein Essay Europadämmerung.

Das Unbehagen
an der Nachahmung


Wir sind alle als Originale geboren – wie kommt es,
dass so viele von uns als Kopien sterben?
Edward Young

Gestern war die Zukunft besser. Wir glaubten, das Jahr 1989 habe »die Vergangenheit fast so klar von der Zukunft geschieden wie die Berliner Mauer den Osten vom Westen«,1 und wir konnten uns »nur schwer eine Welt vorstellen, die von Grund auf besser ist als die, in der wir leben, oder uns eine Zukunft ausmalen, die nicht demokratisch und kapitalistisch geprägt ist«.2 Heute denken wir anders. Die meisten von uns haben jetzt sogar Schwierigkeiten, sich im Westen eine Zukunft vorzustellen, die stabil demokratisch und liberal bleibt.

Nach dem Ende des Kalten Krieges war die Hoffnung groß, dass die liberale kapitalistische Demokratie weltweit Verbreitung finden werde.3 Die geopolitische Bühne schien für ein optimistisches Lehrstück wie George Bernard Shaws Pygmalion bereitet, in dem ein Professor für Sprachwissenschaften einem armen Blumenmädchen innerhalb kurzer Zeit beibringt, wie die Queen zu sprechen und sich in vornehmer Gesellschaft wie zu Hause zu fühlen.

Nachdem sie voreilig die Integration des Ostens in den Westen gefeiert hatten, erkannten interessierte Beobachter irgendwann, dass das Spektakel, dem sie gerade beiwohnten, ganz und gar nicht so ablief wie geplant.4 Statt einer Vorstellung von Pygmalion bekam die Welt eine Bühnenfassung von Mary Shelleys Roman Frankenstein zu sehen, einem pessimistischen Lehrstück über einen Mann, der beschließt, Gott zu spielen, indem er nachgebaute Körperteile zu einem menschenähnlichen Geschöpf zusammensetzt. Das entstellte Ungeheuer, das sich zu Einsamkeit, Unsichtbarkeit und Ablehnung verurteilt sieht, ist neidisch auf das unerreichbare Glück seines Schöpfers. Es wendet sich gewalttätig gegen dessen Freunde und Familienangehörige, legt ihre Welt in Schutt und Asche und hinterlässt als Vermächtnis eines fehlgeleiteten Experiments zur menschlichen Selbstreproduktion nichts als Reue und tiefen Kummer.

Dieses Buch zeigt auf, wie der Liberalismus zum Opfer seines im Kalten Krieg vorausgesagten Erfolgs wurde. Oberflächlich kann man eine Reihe politischer Ereignisse dafür verantwortlich machen, die die Welt in ihren Grundfesten erschütterten: der Angriff vom 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York; der zweite Irakkrieg; die Finanzkrise von 2008; Russlands Annexion der Krim und der Einmarsch in die Ostukraine; die Ohnmacht des Westens, als Syrien einen humanitären Albtraum erlebte; die Flüchtlingskrise 2015 in Europa; das Brexit-Referendum und die Wahl von Donald Trump. Das leuchtende Abendrot der liberalen Demokratie wurde nach dem Kalten Krieg auch vom chinesischen Wirtschaftswunder entzaubert, das einer politischen Führung zu verdanken ist, die sich ganz unmissverständlich weder liberal noch demokratisch gibt. Versuche, den guten Namen der liberalen Demokratie zu retten, indem man sie positiv von der nicht westlichen Autokratie abhebt, untergrub der Westen, indem er sinnlos liberale Normen verletzte, also etwa Gefangene folterte oder zuließ, dass seine demokratischen Institutionen ganz augenfällig versagten. Bezeichnenderweise schlagen sich liberale Wissenschaftler heute vor allem mit der Frage herum, wie Demokratien verkümmern und sterben.5

Selbst das Ideal einer »offenen Gesellschaft« hat seinen einst bejubelten Glanz verloren.6 Bei vielen desillusionierten Bürgern weckt das Stichwort Weltoffenheit heute eher Angst als Hoffnung. Als die Berliner Mauer fiel, gab es nur sechzehn Grenzzäune weltweit. Heute sind fünfundsechzig befestigte Grenzen fertiggestellt oder im Bau. Den Forschungen von Élisabeth Vallet (Quebec University) zufolge errichtet gerade fast ein Drittel aller Länder der Welt Absperrungen entlang ihrer Grenzen.7 Die drei Jahrzehnte nach 1989 erweisen sich im Nachhinein als ein Zwischenspiel, ein kurzes barrierefreies Intervall zwischen dem dramatischen Berliner Mauerfall, aufregenden utopischen Fantasien von einer Welt ohne Grenzen und einem globalen Mauerbau-Fieber, bei dem die Barrieren aus Beton und Stacheldraht existenzielle (wenn auch manchmal nur eingebildete) Ängste verkörpern.

Zudem gehen die meisten Europäer und Amerikaner heute davon aus, dass das Leben ihrer Kinder weniger gedeihlich und erfüllt sein wird als ihr eigenes.8 Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie sinkt drastisch, etablierte Parteien brechen auseinander oder werden von amorphen politischen Bewegungen und populistischen Machthabern verdrängt, die die organisierten politischen Kräfte und ihre Bereitschaft, in Krisenzeiten für das Überleben der Demokratie zu kämpfen, infrage stellen.9 Vom Gespenst umfangreicher Migrationsbewegungen verschreckt, fühlt sich die Wählerschaft in Teilen Europas und Amerikas immer stärker zu fremdenfeindlicher Rhetorik, autoritären Führern und militärisch aufgerüsteten Grenzen hingezogen. Die Menschen glauben nicht mehr an eine bessere Zukunft durch die vom Westen ausgehenden liberalen Ideen; sie fürchten vielmehr, dass die Millionen Menschen, die in den Westen strömen, die Geschichte des 21. Jahrhunderts belasten werden.10 Den einst als ein Bollwerk gegen die Tyrannei gepriesenen Menschenrechten wirft man heute in schöner Regelmäßigkeit vor, sie beschränkten die Demokratie in ihren Möglichkeiten, den Terrorismus zu bekämpfen. Die Sorge um das Überleben des Liberalismus ist so akut, dass für politische Kommentatoren im Jahr 2016 der Verweis auf William Butler Yeats’ Gedicht »Die Wiederkunft«, geschrieben 1919 nach einem der entsetzlichsten Konflikte der Menschheitsgeschichte, zu einem geradezu obligatorischen Refrain wurde.11 Ein Jahrhundert nachdem Yeats sie schrieb, sind diese Worte weltweit das Mantra besorgter Verteidiger der liberalen Demokratie geworden: »Zerfall ringsum, das Zentrum hält nicht stand / Die Anarchie ist losgelassen in die Welt.«

Barack Obamas engster Berater und persönlicher Freund Ben Rhodes bekennt in seinen Memoiren mit dem Titel Im Weißen Haus, Obama habe, als er das Weiße Haus verließ, vor allem eines beschäftigt: »Was, wenn wir uns geirrt haben?«12 Er dachte nicht: »Was ist schiefgegangen?«, oder: »Wer hat etwas falsch gemacht?« Auch Hillary Clintons What Happened war nicht das drängendste Rätsel, das er lösen wollte. Viel beunruhigender war für Obama die Frage: »Was, wenn wir uns geirrt haben?«, sprich: Was, wenn die Liberalen diese Ära, nachdem der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, grundsätzlich falsch gedeutet hatten? »Was, wenn wir uns geirrt haben?« ist die richtige Frage, und in diesem Buch suchen wir nach Antworten darauf.

Für uns beide ist diese Frage auch eine zutiefst persönliche. Der Ältere von uns, Amerikaner, kam ein Jahr nach Beginn des Kalten Krieges zur Welt und lernte in der Schule, dass die gerade errichtete Berliner Mauer der Inbegriff von Intoleranz und Tyrannei sei. Der Jüngere, Bulgare, wurde etwa vier Jahre nach dem Mauerbau auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs geboren und wuchs in dem Glauben auf, dass das Niederreißen von Mauern ein Weg zu politischer und individueller Freiheit sei.

Auch wenn unsere Hintergründe so verschieden sind, lebten wir doch beide jahrelang im Schatten der Mauer, deren im Fernsehen in seiner ganzen Dramatik gezeigter Fall sich als der entscheidende Moment unseres politischen und intellektuellen Lebens entpuppte, das eben erst von der Berliner Mauer und später von ihrer Abwesenheit tief geprägt war. Auch wir teilten die Illusion, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das Zeitalter des Liberalismus und der Demokratie beginnen werde.

Mit diesem Buch wollen wir nicht nur verstehen lernen, warum wir uns diese Illusion damals so gern zu eigen gemacht haben. Wir wollen auch über eine Welt nachdenken, über die jetzt so unheilvoll eine Flutwelle illiberaler und anti-demokratischer »Anarchie« hinwegschwappt.

Vom Ende einer Geschichte


Vor drei Jahrzehnten, im Jahr 1989, fasste ein Beamter des US-Außenministeriums den Zeitgeist in eine prägnante Formulierung: Ein paar Monate bevor die Deutschen fröhlich auf den zertrümmerten Resten der Berliner Mauer tanzten, erklärte er den Kalten Krieg für faktisch beendet. Ein Jahrzehnt wirtschaftlicher und politischer Reformen, in China angestoßen von Deng Xiaoping und in der Sowjetunion von Michail Gorbatschow, hätten den umfassenden Sieg des Liberalismus über den Kommunismus besiegelt. Die Eliminierung der »marxistisch-leninistischen Alternative zur liberalen Demokratie«, so Francis Fukuyama, signalisiere »die totale Erschöpfung gangbarer systemischer Alternativen zum westlichen Liberalismus«. Der Kommunismus, von den Marxisten zum Höhepunkt der »Geschichte« im hegelschen Sinn gekrönt, wurde plötzlich zur Belanglosigkeit degradiert, zu »Geschichte« im amerikanischen Sinn. Die »westliche liberale Demokratie« galt unter diesen Prämissen als »der Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit«. Nach dem Sturz der »faschistischen und kommunistischen Diktaturen dieses Jahrhunderts«, fuhr Fukuyama fort, »behauptet sich am Ende des zwanzigsten...

Erscheint lt. Verlag 4.11.2019
Übersetzer Karin Schuler
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
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ISBN-10 3-8437-2156-4 / 3843721564
ISBN-13 978-3-8437-2156-1 / 9783843721561
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