Familie und Biopolitik (eBook)

Regulierung und Reproduktion von Bevölkerung in der »nachhaltigen Familienpolitik«
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2020 | 1. Auflage
332 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-44228-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Familie und Biopolitik -  Katharina Hajek
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Im Zuge der nachhaltigen Familienpolitik zwischen 2002 und 2008 wurden in Deutschland weitreichende Reformen umgesetzt. Maßnahmen wie der angestrebte Ausbau der Kindertagesbetreuung und die Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes stellen eine programmatische Neuausrichtung gegenüber der konservativen Wohlfahrtsstaatspolitik dar. Katharina Hajek analysiert die Expertisen, Studien und Gutachten, die dieser Politik zugrunde liegen und zeigt, dass mit ihren bevölkerungspolitischen Motiven nicht nur neue Väter- und Mütterbilder und eine Neubestimmung des Verhältnisses von Öffentlich und Privat einhergehen, sondern auch spezifische Ungleichheiten sowie ein grundlegend neues Verständnis von Familie.

Katharina Hajek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar Politische Wissenschaft der Universität Koblenz-Landau.

Katharina Hajek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar Politische Wissenschaft der Universität Koblenz-Landau.

Inhalt
Dank 13
1 Einleitung 15
1.1 Fragestellung 19
1.2 Verortung und Forschungsinteresse 20
1.3 Zum Aufbau der Arbeit 31
2 Biopolitik und Bevölkerung bei Foucault 35
2.1 Historischer Kontext 36
2.2 Biopolitik und die Frage der Rekonstruktion 38
2.2.1 Von der systematischen Rekonstruktion ... 40
2.2.2 ... zur historischen Rekonstruktion: Die Problematik der Gouvernementalitätsvorlesungen 43
2.3 Die Genealogie der Biopolitik bei Foucault 45
2.3.1 Staatsräson 46
2.3.2 Polizei 49
2.3.3 Physiokratie 55
2.3.4 Bevölkerung 57
2.3.5 Rassismus 61
2.3.6 Biopolitik 62
2.3.7 Sicherheitsdispositive 64
2.3.8 Milieu 66
2.4 Zwischenfazit: Biopolitik als Analysebegriff 69
3 Soziale Reproduktion in der Feministischen Politischen Ökonomie 75
3.1 Der Begriff der sozialen Reproduktion 76
3.1.1 Die Geschichte des Begriffs der sozialen Reproduktion 76
3.1.2 Die Abgrenzung des Begriffs der sozialen Reproduktion 79
3.1.3 Definition und Analytik 81
3.1.4 Soziale Reproduktion und historische Ontologie 84
3.2 Die soziale Ontologie sozialer Reproduktionsverhältnisse 86
3.2.1 Die Trennung von Produktion und Reproduktion 88
3.2.2 Soziale Reproduktion im Liberalismus 91
3.2.3 Soziale Reproduktion im Nationalsozialismus 96
3.2.4 Soziale Reproduktion im Fordismus 97
3.2.5 Soziale Reproduktion im Neoliberalismus 100
3.3 Zwischenfazit: Diversifizierung, Kommodifizierung und Umbauten 114
4 Biopolitik als Regulierung sozialer Reproduktionsverhältnisse 121
5 Zurück zu Foucault: Familie als Wissensobjekt und Milieu der Biopolitik 131
5.1 Ein genealogischer Begriff von Familie 132
5.2 Familie und Souveränität 136
5.2.1 Familie als ›Zelle der Souveränität‹ 137
5.2.2 Von der Öffentlichkeit der Familie und der patriarchalen Verfügungsgewalt 141
5.3 Familie und Disziplin 144
5.3.1 Familie als Technologie 144
5.3.2 Die Verdichtung der Familie zum körperlichen, affektiven
und sexuellen Raum 145
5.3.3 Die Refamilialisierung der Subalternen 146
5.3.4 Die medizinisierte Familie des Bürgertums 148
5.3.5 Das neue politische und ökonomische Interesse am Kind 150
5.4 Familie und Biopolitik 151
5.4.1 Repressionshypothese und Sexualitätsdispositiv 151
5.4.2 Sexualitätsdispositiv und Allianzdispositiv 153
5.4.3 Die Familie: vom Modell zum Instrument von Regierung 155
5.4.4 Die umkämpfte biopolitische Medizinisierung der Familie 156
5.4.5 Distinktion und Disziplinierung: Familie als
klassenselektives Projekt 159
5.5 Zwischenfazit: Familie als Analysebegriff 164
6 Das Forschungsdesign: interpretative Policy-Analyse und Diskursanalyse 173
6.1 Verortung in der interpretativen Policy-Analyse 173
6.2 Diskursanalyse 181
6.3 Operationalisierung und Aufbau der empirischen Analyse 184
7 Familienpolitik in Deutschland 187
7.1 Die institutionalisierte Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland bis 2002 188
7.1.1 »Der Wille zum Kind« – Familienpolitik von der Gründung
der Bundesrepublik bis 1969 188
7.1.2 Rechte statt Pflichten – die Familienpolitik unter der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982 195
7.1.3 Aktualisierung des Ernährermodells – die christlich-liberale Koalition von 1982 bis 1998 197
7.1.4 »Familie und Gedöns« – die rot-grüne Koalition von 1998
bis 2002 201
7.2 Familienpolitische Maßnahmen von 2002 bis 2008 203
7.2.1 Das Tagesbetreuungsausbaugesetz 204
7.2.2 Das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz 206
7.2.3 Das Kinderförderungsgesetz 208
7.3 Zwischenfazit: familienpolitische Reformen in den
2000er Jahren 209
8 Die nachhaltige und bevölkerungsorientierte Familienpolitik
2002 bis 2008 213
8.1 Akteure und Materialbeschreibung 214
8.1.1 Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 214
8.1.2 Bert Rürup und Sandra Gruescu 216
8.1.3 Institut der deutschen Wirtschaft 218
8.1.4 Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 221
8.1.5 Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut 222
8.1.6 Hans Bertram, Nancy Ehlert und Wiebke Rösler 223
8.1.7 Malte Ristau 225
8.

Dank Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung einer Dissertationsschrift, die im August 2018 am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien vorgelegt wurde. Danken möchte ich zuallererst Birgit Sauer, die die Arbeit betreut, mit ihrem Wissen, ihren klugen Fragen und ihrer Zeit begleitet und mich in den letzten Jahren nachhaltig unterstützt hat. Das kann ich nicht genug betonen. Gundula Ludwig und Benjamin Opratko haben weite Teile der Arbeit gelesen, scharfsinnig kommentiert und mit mir diskutiert. Danke dafür. Die Teilnehmer_innen des Dissertant_innenkolloqiums am Institut für Politikwissenschaft haben mir die Möglichkeit gegeben, die Argumente dieser Arbeit immer wieder diskutieren und kollektiv reflektieren zu können. Mein Dank gilt insbesondere Edma Ajanovic, Florian Anrather, Alev Cakir, Katja Chmilewski, Ayse Dursun, Katharina Fritsch, Myriam Gaitsch, Daniel Lehner, Stefanie Mayer, Jürgen Portschy und Leda Sutlovic. Desiree Hebenstreit, Veronika Helfert und Nina Wlazny möchte ich dafür danken, mir einen Raum gegeben zu haben, in dem die Höhen und Tiefen des Arbeits- und Schreibprozesses geteilt und bearbeitet werden konnten. Ein Marietta-Blau-Stipendium des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) ermöglichte die Arbeit an mehreren produktiven Orten. Isabella Bakker danke ich für die Einladung an die York University/Toronto, wo mich insbesondere Ann Porter und die Teilnehmer_innen des Women and Politics Course herzlich in ihre Diskussionszusammenhänge aufgenommen haben. Sabine Hark danke ich für die Einladung ans Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin. Mein Dank für die tolle Arbeits- und Diskussionsatmosphäre gilt dem gesamten Team und dem Kolloquium des ZIFGs und insbesondere Hildegard Hantel, Mike Laufenberg und Hanna Meißner. Ich durfte in den letzten Jahren zudem von unzähligen Diskussionen und der Zusammenarbeit mit folgenden Personen lernen, denen ich ausdrücklich danken möchte: Brigitte Bargetz, Ulrich Brand, Alex Demirovi?, Julia Dück, Daniel Fuchs, Anna Götz, Christian Haddad, Käthe Knittler, Eva Kreisky, Andrea Kretschmann, Marion Löffler, Isabel Lorey, Kelly Mulvaney, den Redaktionsmitgliedern der PROKLA, Katharina Pühl, Hans Pühretmayer, Jemima Repo, Felicita Reuschling, Silvia Schröker, Angelika Striedinger, Mariana Schütt, Susanne Schultz, Franziska Schutzbach, Stefanie Wöhl, Tobias Zortea, den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen an den Universitäten Wien, Bochum, Klagenfurt und Koblenz. Die beiden Kater Hermit in El Poble-Sec und Igor in Neukölln haben die Arbeit wochenweise mit ihrem strengen Blick und ihrem Schnurren begleitet. Tobias Boos, Alina Brad, Veronika Duma, Andrea Kretschmann, Melanie Pichler und Georg Spitaler haben Teile der Arbeit gelesen, mit wichtigen Kommentaren versehen und sind mir darüber hinaus in Freundschaft zur Seite gestanden. Den Gutachterinnen Annette Henninger und Andrea Maihofer danke ich für die sorgfältige Lektüre, die kritischen Nachfragen und wertvolle Hinweise, die in das Buch eingeflossen sind. Am Institut für Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau habe ich zudem einen produktiven, solidarischen und wertschätzenden Kontext vorgefunden, in dem die Dissertation zum Buch werden konnte. Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen und insbesondere Ina Kerner. Den Herausgeberinnen der Reihe »Politik der Geschlechterverhältnisse« danke ich für Publikation meiner Arbeit. Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag und Andrea Kremser für ihre nette Betreuung, ihre Geduld und Ausdauer. Schließlich möchte ich Maria und Paul Hajek, sowie Ove Sutter danken, deren Unterstützung mir in den letzten Jahren sehr wichtig war. 1 Einleitung Im Zuge einer Volkszählung unter der österreichischen Kaiserin Maria Theresia erhielten die Beamten den Auftrag, Familien nach folgenden Kriterien zu erfassen: »Zu einer Familie sollen alle diejenigen gerechnet und folglich auf dem nämlichen Familienbogen eingeschrieben werden, welche nicht für sich selbst kochen, sondern unter einem und dem nämlichen Hausvater oder Mutter am gemeinschaftlichen Tisch und Brot genährt werden, sie seien verheiratet oder nicht; mithin wird jeder, der andere bei sich zu nähren hat, als ein Familienoberhaupt angesehen.« (Alfred Gürtler, zit. n. Mitterauer 1978, 80) Eine Familie bezeichnet im Habsburgerreich des Jahres 1777 also einen Personenverband, für den »gekocht wird« und der am »gemeinschaftlichen« Tisch isst. Familie bezieht sich hier auf die Hausgemeinschaft des bäuerlichen Hofes oder des städtischen Handwerksbetriebes und umfasste neben dem Familienoberhaupt und seinem/ihrem Ehegatten auch die Kinder und (die oftmals zahlreichen) Stiefkinder, Dienstboten und Gesinde (die zur Verwirrung der Historiker_innen wiederum oft den Namen des Hausvaters trugen), Inleute, also Besitzlose, die gegen Mitarbeit im Betrieb im Haus wohnten, wie auch die sogenannten Austrager_innen, die ehemaligen Inhaber_innen des Gutes oder der Wirtschaft, die weiterhin Wohnrecht besaßen. All diese wurden ohne grundsätzliche Differenzierung zur Familie gezählt. Ein eigener Begriff für den engeren Kreis von Ehegatten und ihren leibli-chen Kindern fehlte zu dieser Zeit im Deutschen noch gänzlich. Musste dennoch gesondert auf diese Konfiguration im Kontext der Hausgemein-schaft Bezug genommen werden, wurde sie mit »NN mit Weib und Kind« umschrieben: »Sie ist als solche für sich allein genommen eben keine sepa-rierte soziale Einheit, keine Gruppe im Verständnis der Zeitgenossen.« (Mitterauer 1978, 79). Mit Familie wurde der große Kreis einer Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, welche vom Hausvater oder - wie das obige Zitat zeigt - gelegentlich auch von einer Hausmutter »genährt« wurde und die damit im übertragenen Sinne die Bedingungen ihrer alltäglichen Reproduktion (Nahrung, Wohnraum) bereitgestellt bekam (Mitterauer 1978, 77ff.). Wieso der Bezug auf die Definition von Familie im 18. Jahrhundert in der Einleitung zu einer Arbeit, in der es um die Familienpolitik im 21. Jahrhundert in Deutschland gehen soll? Mit dieser Anekdote können drei Punkte greifbar gemacht werden, die für die vorliegende Arbeit zentral sind. Zum Ersten macht das Beispiel anschaulich, dass Familie weit davon entfernt ist, etwas immer schon Gegebenes oder eine quasi überhistorische Konstante zu sein. Familie hat vielmehr eine Geschichte - ihre Bedeutung verändert sich mit der Zeit. Das Schlaglicht auf das Jahr 1777 veranschaulicht den Umfang und den grundlegenden Charakter des Bedeutungswandels im Vergleich mit dem, was gegenwärtig etwa im Alltag, in den (Sozial-)Wissenschaften oder in der Politik unter Familie verstanden wird. Dies lässt sich anhand einiger allgemeiner Beobachtungen erläutern: Zunächst fällt auf, dass Familie im obigen Zitat vor allem über das »ganze Haus« (Brunner 1978) und damit den ?Ort? der alltäglichen Reproduktion eines Personenkreises gefasst wird. Ein Verständnis von Familie als intimem Raum oder generativer Gemein-schaft spielt hier keine Rolle. Der Verwandtschaftsbeziehung kommt höchstens in erbrechtlichen Fragen Bedeutung zu. Demgegenüber scheint heute der konkrete ?Ort? - der Haushalt - für die Definition von Familie an Bedeutung verloren und zugleich die (oft biologischen) Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern und ihr generativer Charakter an Bedeutung gewonnen zu haben: Familie ist nun dort, wo Kinder sind. Das hat auch den Kreis derer, die heute geläufig als Familienmitglieder bezeichnet werden, verändert, vor allem verkleinert und auf die engsten Verwandtschaftsbeziehungen konzentriert. Zudem haben sich die familialen Subjektivitäten ausdifferenziert. Während in obigem Zitat einzig das Familienoberhaupt in seiner oder ihrer Funktion benannt wird, die Familie zu ernähren, fehlen die gegenwärtig so zentralen vergeschlechtlichten Differenzierungen noch völlig. Die Figur der Mutter ist ebenso wenig benannt wie das Kind und damit verbunden die Kindheit als eigene Lebensphase, die der besonderen Zuneigung und Aufmerksamkeit der Eltern bedarf. Familie war auch weit davon ent-fernt, einen privaten Ort intimer Naheverhältnisse zu bezeichnen. Die heute so grundlegende Differenzierung von öffentlich und privat war 1777 noch nicht ausgebildet. Damit sind nur einige Punkte skizziert, die zeigen, wie grundlegend sich die Bedeutung von Familie verändern kann (vgl. hierzu Maihofer 2014). Der zweite, für meine Arbeit zentrale Punkt betrifft die Tatsache, dass solch frühe Definitionen von Familie nicht zufällig im Rahmen von Volkszählungen aufkamen. Definition und Erfassung von Familien waren und sind, so möchte ich herausstreichen, Teil von Biopolitik. Im Rahmen des aufgeklärten Absolutismus begann Maria Theresia, wie viele andere europäische Regent_innen, ab Mitte des 18. Jahrhunderts ?ihre? Bevölkerung systematisch zu erfassen. Diese Zählungen waren Teil einer Heeres- und Steuerreform und fanden im Kontext der Errichtung einer modernen staatlichen Verwaltung und eines Schulwesens mit allgemeiner Schulpflicht statt. Die Definition von Familie, ihre Zählung und die Registrierung ihrer Mitglieder diente einer Biopolitik, die die Anzahl der wehrfähigen Männer wie auch der Steuerpflichtigen und ihrer wirtschaftlichen Position zu erfassen suchte. Die Definition von Familie wird im 18. Jahrhundert Teil und zentrales Vehikel einer Politik, die ?ihre? Bevölkerung genau kennen musste. Erst dieses Wissen stellte die Basis dafür dar, in die Bevölkerung zu intervenieren und wirtschafts-, verteidigungs-, bildungs- und finanzpolitisch agieren zu können - dies ist der Kerngedanke des Konzeptes der Biopolitik von Michel Foucault. Vorliegende Arbeit argumentiert also, dass Familie in diesem Sinne bis heute als zentraler Teil von Biopolitik zu begreifen ist und die Grundlage für die politische Regulierung von Bevölkerung darstellt. Drittens zeigt sich im obigen Zitat bei allen Differenzen in Bezug auf das heutige Verständnis von Familie auch eine Konstante, die sich in der zentralen Rolle des Essens und des gemeinschaftlichen Tisches zeigt: Mit Familie ist eine spezifische Organisation der sozialen Reproduktion bezeichnet. Damals wie heute ist sie der Ort, an dem grundlegende Bedürfnisse - etwa nach Essen, Wohnen und affektiver Nähe - befriedigt werden oder werden sollten. Familie verweist damit auf eine spezifische Art und Weise, wie die alltägliche und intergenerationelle Reproduktion, das heißt die Fürsorge und Pflege, die Generativität und die generelle Arbeit an menschlichen Bedürfnissen gesellschaftlich organisiert und institutionalisiert ist. Familie zeigt - zugespitzt formuliert - an, wer, wie, in welchem Rahmen sowie, historisch später, im Verhältnis zu anderen Institutionen reproduktive Tätigkeiten übernimmt beziehungsweise übernehmen soll. Die sich wandelnde Bedeutung von Familie, ihre funktionale Seite als Teil von Biopolitik sowie ihr grundlegender Bezug zur gesellschaftlichen Organisation sozialer Reproduktion stellen die Eckpunkte der vorliegenden Arbeit dar. Mit Bezug auf diese drei Dimensionen widme ich mich im Laufe dieser Arbeit der »nachhaltigen« (Rürup/Gruescu 2003; Bertram/Rösler/ Ehlert 2005) oder »bevölkerungsorientierten Familienpolitik« (IW 2004; im Folgenden ohne Anführungszeichen) in Deutschland. In ihrem Rahmen wurden zwischen 2002 und 2008 mehrere weitreichende Refor-men, wie die Einführung eines einkommensabhängigen Elterngeldes und der Ausbau der öffentlichen Kindertagesbetreuung, umgesetzt. Konkret fokussiere ich auf das Tagesbetreuungsausbaugesetz (TAG) von 2004, das Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) von 2006 sowie das Kinderförderungsgesetz (KiföG) von 2008. Die vertiefte Auseinanderset-zung mit diesen Gesetzten ist insofern interessant und lohnend, als sie in mehrfacher Hinsicht einen Bruch mit der bundesdeutschen Familienpolitik der Jahrzehnte zuvor anzeigen. Zum Ersten liegen der Ausbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung und die Forcierung der Erwerbstätigkeit von Müttern, die mit dem Elterngeld verbunden ist, quer zum Subsidiaritätsprinzip (Esping-Andersen 1990) und zum starken Ernährermodell (Lewis/Ostner 1994), die den deutschen Wohlfahrtsstaat seit seiner Entstehung geprägt haben. In diesem Rahmen war die Familie als der eigentliche ?Ort? der Wohlfahrtsproduktion, das heißt auch der Betreuung und Erziehung von Kindern, vorgesehen. Der Sozialstaat sollte nur dort zum Tragen kommen, wo die Familie diesen Aufgaben nicht mehr nachkommt oder nachkommen kann. Flankiert wurde dies von ei-nem sozialpolitisch institutionalisierten Ernährermodell, in dem ein in Vollzeit erwerbstätiger Mann für das Familieneinkommen sorgt, während die Frau nicht oder nur als Zuverdienerin arbeitet und die Haushaltsführung, die Pflege älterer Menschen sowie die Betreuung der Kinder im ?Privaten? übernimmt. Dieses institutionell abgesicherte Arrangement wird durch die familienpolitischen Reformen der nachhaltigen Familienpolitik infrage gestellt und partiell aufgelöst. Zweitens bezieht sich die Diagnose vom Bruch auf die Tatsache, dass im Rahmen der bevölkerungsorientierten Familienpolitik erstmals seit langem wieder explizit bevölkerungspolitische Ziele artikuliert wurden. Im Kontext der rassistischen bis eliminatorischen Bevölkerungspolitik des nationalsozialistischen Regimes waren programmatische Zielsetzungen in diesem Bereich in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit tabu. Familienpolitik war im Kontext des Subsidiaritätsprinzips vorrangig auf den Institutionenschutz, das heißt auf die Stabilisierung der Kernfamilie und der mit ihr verbundenen arbeitsteiligen Lebensweise ausgerichtet. Die bevölkerungsorientierte Familienpolitik nennt demgegenüber nun (wieder) die niedrige Geburtenrate oder das geringe Humanvermögen in Deutsch-land als Motive für familienpolitische Reformen. Drittens kann in den 2000er Jahren ein massiver Bedeutungsgewinn von Familienpolitik ver-zeichnet werden. Familienpolitik wurde ab 2002 von einem ?weichen? und relativ marginalisierten zu einem ?harten? Politikfeld. Dies zeigt sich im höheren Budget, das das Familienministerium mit dem Elterngeld verwaltet, wie in der neuen, mächtigen Akteurskonstellation, die hinter den Reformen steht sowie in der breiten und kontrovers geführten medialen Debatte, die die Reformen begleitete. Schließlich stellt die nachhaltige Familienpolitik einen Bruch dar, als sie sich gegen die Entwicklung des deutschen Sozialstaates seit den 1970er Jahren quasi zu sträuben scheint. Im Kontext des breiten Abbaus sozialstaatlicher Institutionen und der Kürzung von Leistungen stechen die Maßnahmen der nachhaltigen Familienpolitik insofern heraus, als sie demgegenüber massive Mehrausgaben und einen Ausbau der sozialstaatlichen Institutionen nach sich ziehen. 1.1 Fragestellung Diese - hier nur angedeuteten - Entwicklungen zeigen zugleich, dass mit der Analyse der Familienpolitik über das Politikfeld hinaus grundlegende (Neu-)Verhandlungen von Geschlechterverhältnissen und vergeschlecht-lichten Identitäten sowie Regulierungsweisen von Bevölkerung und Arbeitskraft gefasst werden können. Daran anschließend lassen sich die forschungsleitenden Fragen und das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit darlegen. Zum Ersten fasse ich die nachhaltige Familienpolitik - anknüp-fend an die einleitenden Überlegungen - als Biopolitik und als Politik der Regulierung sozialer Reproduktionsverhältnisse. Das heißt, ich analysiere die nachhaltige Familienpolitik zum einen als Regulierung von Bevölkerung im Sinne spezifischer Ziele. ?Familie? wird so zum Objekt und ?Vehikel? einer Politik, die auf eine spezifische quantitative und qualitative Zusammensetzung von Bevölkerung ausgerichtet ist. Zum anderen, und damit zusammenhängend, fasse ich Familienpolitik als Politik der Regulierung und Organisation sozialer Reproduktionsverhältnisse. Ich analysiere die nachhaltige Familienpolitik als Neuorganisation und Zuschreibung reproduktiver Verantwortungen und Tätigkeiten der Pflege

Erscheint lt. Verlag 22.7.2020
Reihe/Serie Politik der Geschlechterverhältnisse
Politik der Geschlechterverhältnisse
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Biopolitik • Demografie • Familie • Familienpolitik • Geschlechterforschung
ISBN-10 3-593-44228-0 / 3593442280
ISBN-13 978-3-593-44228-0 / 9783593442280
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