Die Erfindung des Westens (eBook)
150 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76217-2 (ISBN)
Dieses Buch erzählt vom deutschen Abenteuer eines amerikanischen Puritaners, der »die Anfänge liebte«. Will McBride kam 1953 mit der US-Armee nach Deutschland und blieb. In West-Berlin erfand er die »Clique«, die melancholisch gestimmt ihr Vergnügen suchte. Mit diesem Motiv wurde er Fotograf der neuen Zeitschrift twen und bald ein Star seines Fachs. Die Aufnahme seiner Frau Barbara als Schwangerer gereichte zum Skandal. In den sechziger Jahren betrieb er in München ein riesiges Studio, in dem die Bilder für Zeig Mal! entstanden, das paradigmatische Aufklärungsbuch der sozialliberal verjüngten Republik.
Von Worpswede bis in die Toskana suchte McBride nach einer frischen Form für einen überzeugenden Lebensstil. Die biographischen Recherchen des Autors summieren sich zu einer alternativen Kulturgeschichte der Bundesrepublik. Gastauftritte haben Willy Fleckhaus, Donna Summer, Hans Filbinger, Willy Brandt, Norman Rockwell und Wolfram Siebeck. Eine Auswahl von McBrides besten schwarzweißen Fotografien begleitet die ungewöhnliche Erzählung von der »Erfindung des Westens«.
<p>Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman <em>Hamburger Hochbahn</em> stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien <em>Nichts Weißes</em>, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.</p>
Nach Deutschland
Die Bundesrepublik war vier Jahre alt, als Will McBride mit der amerikanischen Armee nach Deutschland kam. Der zweiundzwanzigjährige Soldat dachte nicht, dass Fotografie seine Berufung wäre, aber fing sogleich an, schwarzweiße Bilder zu machen, zunächst von anderen GIs in Würzburg, wo er stationiert war. Soeben entlassen, zog er 1955 nach Berlin. Nach Stationen in München und Frankfurt kehrte er in die wieder offene Stadt Berlin, kurz vor der Jahrtausendwende, zurück. Sein Hauptwerk aber entstand in seiner Münchner Zeit im Umfeld der Zeitschrift twen.
McBrides fotografisches Œuvre hatte eine autobiographische Wurzel und wuchs in eine soziale Gestalt. Seine Bilder waren lebendig und leicht verständlich, obwohl sie oft eher aus Andeutungen bestanden, also überhaupt nicht dem geltenden Dogma folgten, dass Fotografie »das Typische« abbilden solle. So ist seine Beobachtung des Jungen in Berlin-Schöneberg, der nur mit der Unterhose bekleidet auf dem warmen Straßenpflaster liegt, ein phantastisches Foto über kleine Freuden der Nachkriegszeit. Es ist aber auch ein archaisches Bild über Empfindungen der Kindheit. McBrides Figuren stellen dar, wie sich das Leben in einem bestimmten Moment anfühlt, anreichert mit Sinn, auf anrührende Weise stillsteht.
Man sagt der Fotografie nach – im Gegensatz zur Malerei –, sie könne nur abbilden, was bereits geschieht oder soeben geschehen ist. Das ist aber nicht richtig. McBride sah die hedonistische Öffnung der Bundesrepublik voraus und wendete sie affirmativ ins Humane. Nichts spricht dagegen, seine Fotografien als Dokumente zu dechiffrieren. Dabei aber entdeckt man: Will McBride war ein Visionär.
Fotografie wurde bis hundert Jahre nach ihrer Erfindung als Technik verstanden. Später wurde es üblich, sie ein Medium zu nennen. Zuletzt ist sie als Sonderfall von Kunst wahrgenommen worden. McBrides Erfolge fallen in die Zeit der Fotografie als Medium. Im Zenit seiner Karriere gelang dabei etwas, was selbst unter den größten Fotografen der Welt selten geblieben ist: ein Buch, das eine tiefe Wirkung auf die Gesellschaft ausübte. Es hieß Zeig Mal! und nannte sich auf dem Cover Ein Bilderbuch für Kinder und Eltern. Es hat die gesamte verstaubte Literatur der Sexualaufklärung weggefegt. In der Geschichte der Bundesrepublik ist Zeig Mal! so wichtig wie die Studie der Mitscherlichs über Die Unfähigkeit zu trauern, wie Willy Brandts Kniefall in Warschau, das freischwebende Dach des Münchner Olympiastadions von Frei Otto oder die Honigpumpe am Arbeitsplatz von Joseph Beuys auf der sechsten documenta – ein Shifter im sozialen Code, eines der wenigen singulären, kulturellen Signale einer nicht mehr umkehrbaren Moderne.
Wahrscheinlich gibt es keinen Fortschritt ohne Rollback, aber wer aktiv und willentlich teilhat an einem Modernisierungsprozess, geht vom Gegenteil aus. In der Nachkriegsgesellschaft konnte ins Gefängnis kommen, wer junge Unverheiratete bei sich übernachten ließ; Mitte der siebziger Jahre lebten Tausende junger Leute in Wohngemeinschaften. Eine Abtreibung gab es nicht mehr beim Quacksalber. Den Wehrdienst konnte man irgendwann aus Gewissensgründen verweigern, erst durch eine »Gewissensprüfung«, dann per Postkarte. Der »zweite Bildungsweg« durchlöcherte das Klassensystem der Schulen. Man kann es damit erklären, dass sich die Mehrheit der Wähler von den Leitmotiven des Adenauerstaats abwandte und eine »sozial-liberale Koalition« die Geschicke übernehmen ließ, für immerhin dreizehn Jahre. Aber der gesellschaftliche Wandel fühlte sich an wie eine Öffnung der Schleusen. Das Gemeinwesen stieg in einen Jungbrunnen und kam jung wieder heraus. Es gibt keine Formeln für das, was neu ist; das Neue muss erfunden werden. An der Erfindung Westdeutschlands als offene, mobile und hedonistische Gesellschaft hatte Will McBride seinen Anteil.
Was Will McBride fotografierte, war eingebunden in ein Narrativ, das der Fotograf selbst lieferte und gelegentlich variierte. Demnach war er ein Sinnsucher aus einem puritanischen Milieu, der das zivile Leben als Negativ des Krieges deutete. »Ich verließ die Armee und blieb im Lager des Kalten Krieges«, schrieb er über seinen Umzug nach West-Berlin im Jahr 1955. »Ich sah mich als Pionier, dessen Seele in Leder gehüllt ist, während er das Gewehr des Friedens aus den Wäldern der Appalachen in die schreckliche Wildnis der Völker trägt.« Die Besiedlung des amerikanischen Westens wird ausgeweitet nach Europa, aber der soeben entlassene Soldat sieht sich in der Gestalt eines Indianers. Er ist zunächst absolut fremd und versteht auch »das Sprachengewirr« der Vier-Sektoren-Stadt nicht.1 Wie sollte er auch? Als er unter den Deutschen gleichaltrige Freunde findet, wird ihm klar, dass diese jungen Leute nicht nur von den Amerikanern befreit worden, sondern dass es allesamt Kriegskinder sind. Ja, sie tanzen zusammen zu altertümlichem Jazz, aber was sie versuchen zu vergessen, ist nicht für jede und jeden dasselbe. Er notiert: »Lang lebe der Ragtime! Zieh die ausgefransten engen Hosen der Cowboys an, Jan. Geh unter die Dusche, damit sie einlaufen und Farbe verlieren. Vergiß das braune Hemd und die Armbinde mit dem krummen eckigen Zeichen. Zieh das hier an. Hier, dein Pullover, ein paar Nummern zu groß, lässig und bequem. Nimm die Trompete und fang an zu spielen. Die Akkorde gehen so, blues und easy. Laß dich gehen, Jan. Der Krieg ist schon lange vorbei.«2
Die Kleiderordnung ist wörtlich zu nehmen: Die Begegnung der jungen Männer und Frauen wird eine Frage des Stils. Wer es schafft, genau so auszusehen, gehört auch schon dazu. Sie kommen zusammen bei einem Bootsausflug auf der Havel (oder der Spree), um sich selbst zu feiern, ihre Unabhängigkeit, ihre Schönheit, ihre Clownereien, ihre todschicke Melancholie. Der amerikanische Maler mit seiner Kamera ist an Bord. Er choreographiert die Natürlichkeit der Körpersprache; sorgt dafür, dass nur im Bild ist, wer richtig aussieht; schöpft aus einem Tag einen Lebensstil. McBride setzt West-Berlin auf die Landkarte existenzialistischer Hipness.
Erst in den achtziger Jahren würde dies ein fotografisches Genre werden: Lifestyle. Gemeint ist eine Nische der Publizistik, weder Mode noch Reportage. Man könnte vielleicht sagen, dass dieses Genre einen Lebensstil eher vorwegnimmt als eigentlich abbildet. Es braucht dafür auch keine Akteure, die tatsächlich so leben, aber sie sollten es wenigstens herbeisehnen. Unverzichtbar ist der Beobachter, der den Trend erspürt, lange bevor er Mainstream wird. Ganze Berufssparten können darin verwickelt werden, Art-Direktoren, Texter, Stylisten. So ist es später gekommen, aber hier, 1957, stilisiert die Gruppe sich noch selbst. Der Fotograf wächst in die Rolle eines Produzenten; er muss sehen, dass die Logistik stimmt, genügend Leute kommen, die Accessoires vorhanden sind. Dann, auf dem Boot, ist ein gewisses Maß an Darstellungskunst gefragt. Die Bilder waren gerade deshalb so wirksam, weil der Beobachter kein Fremder blieb. Der Fotograf jagte seinen Modellen die Bilder nicht ab – er bekam sie geschenkt. So jedenfalls sah das aus.
Erstaunlich bleibt, dass Will McBride ein vielbeschäftigter Fotojournalist gewesen ist. Er fotografierte Magazingeschichten für Quick, den stern, GEO, auch für Life, Look und Paris Match. Diese Aufträge jedoch spielen im Bilderfundus später keine Rolle mehr, abgesehen von den intensiven Portraits des Kanzlers Konrad Adenauer und des in Berlin Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt. Man findet sie sensationellerweise nebeneinander im Fond eines Cabrios mit John F. Kennedy als Drittem, und im Hintergrund, exakt mittig, das Brandenburger Tor – hinter einer Mauer. Auftraggeber war die Illustrierte Quick. Vom Standpunkt der Reportage aus betrachtet ist das Bild komplett geglückt, indem Aufmerksamkeit und Wichtigkeit verschmolzen sind. Es schreibt nicht Geschichte, es macht sie. Adenauer schaut gelassen in die Kamera, Brandt blickt in die Zukunft, und Kennedy liefert eine Geste mit der rechten Hand, die an Segnen erinnert.
An seine Zeit als Fotojournalist erinnert McBride sich später so: »Spät abends bekam ich Anrufe, worauf ich packen, das nächste Flugzeug oder den nächsten Zug nehmen musste, um in einem anderen Land die Themen zu fotografieren, für die ich bezahlt wurde. So gerne reiste ich nun...
Erscheint lt. Verlag | 13.5.2019 |
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Illustrationen | Will McBride |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Berlin • Bildband • Bildbände • BRD • Bundesrepublik Deutschland • Chronik • DDR • Deutschland • Essays • Fotografie • Fotos • Friedrich-Hebbel-Preis 2008 • Geschichte • Gesellschaft • Grundgesetz • Identität • Jugend • Konrad Adenauer • Kultur • Kunst • Leica • Nachkriegsdeutschland • Narration • Strandbad Wannsee • Twen • Westberlin • Westdeutschland • Wiederaufbau • Will McBride • Willy Brandt • Willy Fleckhaus |
ISBN-10 | 3-518-76217-6 / 3518762176 |
ISBN-13 | 978-3-518-76217-2 / 9783518762172 |
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