Lesen gefährdet die Dummheit (eBook)

Gedanken zur Freiheit

Robert Schlepütz (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491161-8 (ISBN)

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Lesen gefährdet die Dummheit -
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Der Sammelband »Lesen gefährdet die Dummheit. Gedanken zur Freiheit« enthält die wichtigsten grundlegenden Texte rund um das Thema Freiheit - ein aktuelles, gesellschaftlich relevantes Thema. Mit klassischen Texten von John Stuart Mill, Max Stirner, Denis Diderot, Friedrich Nietzsche, Søren Kierkegaard, Immanuel Kant, Arthur Schopenhauer, Montesquieu, Descartes, Thomas Mann, Karl Marx und Friedrich Engels. Eine anregende Lektüre und ein perfektes Geschenk für alle klugen Köpfe.

Über die Freiheit.
Individualität ein Element der Wohlfahrt


Wir haben nun die Gründe aufgezeigt, die es zur Pflicht machen, daß die Menschen ihre Meinungen frei bilden und rückhaltlos aussprechen. Und ebenso haben wir die üblen Folgen nicht verschwiegen, die sich für die intellektuelle und damit auch für die moralische Natur des Menschen ergeben, wenn diese Freiheit nicht gewährt oder nicht allen Hindernissen zum Trotz dennoch erkämpft wird. Weiterhin wollen wir nun untersuchen, ob dieselben Gründe nicht auch fordern, daß die Menschen auch die Freiheit haben, nach ihrer Meinung zu handeln und ihre Überzeugung im Leben durchzusetzen, ohne moralischen oder physischen Zwang von ihren Mitmenschen zu erfahren – solange es auf persönliche Rechnung und Gefahr des Einzelnen geht. Dieser letzte Vorbehalt ist natürlich unvermeidlich. Niemand wird behaupten, daß Handlungen so frei sein sollen, wie Meinungen. Im Gegenteil: sogar Meinungen verlieren ihre Harmlosigkeit, wenn die Umstände, unter denen sie zum Ausdruck kommen, so sind, daß sie wie eine direkte Aufreizung zu einer Übeltat wirken. Die Ansicht, z.B., daß Kornhändler Ausbeuter der Armen seien, oder daß Eigentum Diebstahl sei, sollte ungestraft durch die Presse verbreitet werden dürfen; aber es muß gerechterweise bestraft werden, wenn sie mündlich einem erregten Volkshaufen vorgetragen wird, der sich vor dem Haus eines Kornhändlers zusammenrottet oder wenn sie in Form von Plakaten einer solchen Versammlung bekannt gegeben wird. Jede Handlung, die ohne gerechte Ursache einem andern Leid zufügt, kann, – ja in wichtigeren muß sie sogar durch entgegengesetzte Motive kontrolliert werden und nötigenfalls auch durch tatkräftiges Einschreiten der Menschen verhindert werden. Soweit muß die individuelle Freiheit begrenzt werden, daß niemand andern Menschen Schaden zufügen darf. Aber solange wir niemand belästigen, sondern nur nach dem eignen Urteil handeln in Dingen, die nur uns selbst angehen, da beweisen die gleichen Gründe, die für die Denkfreiheit sprechen, auch, daß es uns erlaubt sein muß, ohne Belästigung durch die Mitmenschen auf unsere Kosten unsere Meinung auch in die Tat umzusetzen.

Die Menschheit ist nicht unfehlbar, ihre »Wahrheiten« sind zumeist nur Halbwahrheiten. Eine Einheit der Meinungen ist nicht zu wünschen, wenn sie nicht ein Ausfluß der vollsten und freiesten Übereinstimmung der entgegengesetzten Ansichten ist. Verschiedenheit der Meinungen ist also kein Übel, sondern ein Gut, solange die Menschen so schlecht, wie bisher, imstande sind, alle Seiten der Wahrheit zu erkennen – das ist ein Grundsatz, der natürlich auf die Handlungen der Menschen gerade so anwendbar ist, wie auf ihre Ansichten. Wenn es nützlich ist, daß im unvollkommenen Stadium der menschlichen Erkenntnis verschiedene Ansichten herrschen, so ist es ebenso wichtig, daß es verschiedene Lebensweisen gibt, daß den mannigfachen Charakteren freier Spielraum gelassen werde, solange sie nur nicht andere schädigen. Und ebenso erwünscht ist es, daß der Wert verschiedener Lebensweisen praktisch erprobt werde, wenn jemand sich für fähig hält, sie auszuprobieren. Kurz: es ist wertvoll, wenn in Dingen, die nicht vornehmlich Andere betreffen, die Individualität erhalten bleibt. Wo nicht der eigne Charakter des Handelnden, sondern die Überlieferungen und Sitten anderer Leute über das Handeln entscheiden, da fehlt eine der Hauptbedingungen der menschlichen Glückseligkeit und vor allem der Hauptantrieb zu individuellem und sozialem Fortschritt. Wollten wir diesen zum Prinzip erheben, so müßten wir zunächst mit der Schwierigkeit rechnen, daß die Mittel, zu diesem Ziel zu gelangen, schwer zu erkennen sind, hauptsächlich aber mit der allgemeinen Gleichgültigkeit der Menschen gegen das Ziel selbst. Man ist sich nicht bewußt, daß die freie Entwicklung der Individualität zu den Hauptbedingungen der Wahrheit gehört; man fühlt nicht, daß zu allem, was mit den Worten Zivilisation, Unterricht, Erziehung, Kultur bezeichnet wird, die individuelle Freiheit nicht nur als äußeres Beiwerk gehört, sondern daß sie ein notwendiger Bestandteil, ja die eigentliche Bedingung jener Güter ist. Sonst wäre keine Gefahr, daß die Freiheit unterschätzt würde und die Feststellung der Grenzen zwischen persönlicher Freiheit und der Kontrolle der Gesellschaft würde keine besonderen Schwierigkeiten darstellen. Aber das Übel ist, daß persönliche Freiheit von der gewöhnlichen Denkweise kaum als besonders wertvoll oder beachtenswert anerkannt wird. Denn die Meisten sind zufrieden mit der Lebensweise der Menschen, so wie sie heute ist, – der Geschmack der Mehrheit schafft ja eben diese Lebensweise, – darum können sie auch nicht begreifen, warum diese Art zu leben nicht gut genug für jeden sein sollte. Und, was noch schlimmer ist: Freiheit gehört nicht zu dem Ideal der meisten moralischen und sozialen Reformer, diese betrachten sie sogar mit Argwohn als ein störendes oder gar rebellisches Hindernis, das der allgemeinen Annahme dessen im Wege steht, was diese Reformer als das Beste für die Menschheit ansehen.

Außerhalb Deutschlands verstehen nur wenige den Sinn der Lehre, die Wilhelm von Humboldt – der bedeutende Gelehrte und Politiker – zum Gegenstand seiner Untersuchung machte[2]): der wahre Zweck des Menschen, der von der ewigen und unabänderlichen Vernunft und nicht von leeren und veränderlichen Launen diktiert wird, ist die stetige und harmonische Entwicklung seiner Kräfte zu einem vollkommenen Ganzen. Darum ist »das Ziel, wonach jeder Mensch unaufhörlich und mit aller Kraft streben muß, und worauf besonders diejenigen, die ihre Mitmenschen beeinflussen wollen, ihr Augenmerk richten müssen: Individualität der Kraft und Bildung«. Dazu aber bedarf es nach Humboldts Ansicht zweier Bedingungen: es erfordert »Freiheit« und »Mannigfaltigkeit der Situationen«, und daß daraus »individuelle Kraft« und »mannigfaltige Verschiedenheit« entstehen, die sich zur »Originalität« vereinigen.

Den Meisten wird wohl diese Humboldtsche Lehre sehr fremdartig vorkommen, es wird sie überraschen, daß hier die Individualität so hoch eingeschätzt wird – aber man muß dabei bedenken, daß der Meinungsunterschied doch nur ein gradueller ist. Denn es wird niemand das Lebensideal darin erblicken, daß die Menschen sich darauf beschränken, einander nachzuahmen. Es wird niemand wünschen, daß die Menschen in ihrer Lebensweise oder bei der Ausführung ihrer Interessen ihr eignes Urteil oder ihren individuellen Charakter gänzlich unterdrücken sollen. Andrerseits aber wäre es sinnlos, zu behaupten, daß die Menschen so leben sollten, als ob man, bevor sie selbst auf die Welt kamen, noch keinerlei Erfahrung gemacht hätte, und als ob man noch nie ausprobiert hätte, daß die eine Art der Lebensführung einer andern vorzuziehen sei. Niemand leugnet, daß die Menschen in der Jugend so erzogen werden müssen, daß sie die Ergebnisse der menschlichen Erfahrung kennen lernen und daraus Nutzen ziehen können.

Aber es ist das Vorrecht und die eigentliche Lebensgrundlage des Menschen, daß er, zur Reife gelangt, die Erfahrung in seiner eignen Weise gebraucht und auslegt. Er selbst muß ausfindig machen, welcher Teil der überlieferten Erfahrung für seine eignen Lebensumstände und seinen Charakter geeignet ist.

Die Gewohnheiten und Sitten anderer Leute zeigen, bis zu einem gewissen Grade, was die Erfahrung sie gelehrt hat, das ist ein mutmaßlicher Beweis, der als solcher wohl Beachtung verdient. Aber einmal kann die Erfahrung dieser Menschen zu eng, oder ihre Ausdeutung des Erfahrenen falsch sein. Es kann aber auch die Ausdeutung richtig sein, aber auf einen andern nicht passen. Gewohnheiten sind geschaffen für Durchschnittsumstände und Durchschnittscharaktere und der Charakter oder die Verhältnisse eines Menschen können außergewöhnlich sein. Oder aber: obwohl die Gewohnheiten gut sind und auch für einen andern Menschen passen würden, so erzeugt die Tatsache, daß jemand mit der Gewohnheit übereinstimmt, nur weil sie einmal eingebürgert ist, in einem Menschen keine der Eigenschaften, die das entscheidende Merkmal des menschlichen Wesens sind. Die menschlichen Fähigkeiten des Verstehens, des Urteils, der Unterscheidung, der geistigen Aktivität und selbst des moralischen Vorziehens werden nur geübt, indem man eine Wahl trifft. Derjenige aber, der etwas nur darum tut, weil es Mode ist, trifft keine Wahl. Er gewinnt keine Übung darin, das Beste zu erkennen und zu wünschen. Die geistigen und moralischen Kräfte werden, wie die Muskelkräfte, nur gestärkt durch Übung. Diese Fähigkeiten aber bleiben ungeübt, wenn wir ein Ding nur tun, weil andere es auch tun, oder, wenn wir eine Sache nur glauben, weil andere an sie glauben. Wenn die Gründe einer Sache nicht der eignen Vernunft des Menschen begreiflich sind, so kann seine Vernunft nicht gestärkt, sondern eher geschwächt werden, wenn er die Sache dennoch glaubt. Und wenn die Beweggründe für die Handlung eines Menschen nicht mit seinem eignen Fühlen und seinem Charakter übereinstimmen (bei Handlungen, wo Meinungen oder Rechte anderer nicht in Betracht kommen), so bewirkt er damit, daß seine Gefühle und sein Charakter träg und stumpf und nicht frisch und energisch werden.

Wer sich seinen Lebensplan von der Welt oder seiner engeren Umgebung vorzeichnen läßt, der bedarf dazu keiner andern Begabung, als der affenähnlichen Nachahmung. Derjenige aber, der seinen Lebensplan selbst entwirft, bedarf dazu aller seiner Fähigkeiten. Er braucht Beobachtungsgabe zum Sehen, Verstand und Urteilskraft zum Voraussehen, geistige...

Erscheint lt. Verlag 25.3.2020
Reihe/Serie Lesen gefährdet die Dummheit
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aristoteles • Denken • Diktatur • Freiheit • Georg Friedrich Wilhelm Hegel • Immanuel Kant • Klassiker • Platon • Politik • Toleranz • Willensfreiheit
ISBN-10 3-10-491161-4 / 3104911614
ISBN-13 978-3-10-491161-8 / 9783104911618
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