Stress (eBook)

Warum Frauen leichter ausbrennen und was sie für sich tun können
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2019
Kösel-Verlag
978-3-641-24031-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Stress - Emily Nagoski, Amelia Nagoski
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Neue Wege für Frauen raus aus dem Stress
Wir alle wissen seit Langem: Frauen sind anders. Dass dies aber auch für das Thema Stress gilt, ist neu. Frauen stecken in einem delikaten Zwiespalt: Sie sollen festgelegten Erwartungen entsprechen und dabei ganz sie selbst sein. Sie sollen ihren Körper lieben, während ihnen tagtäglich suggeriert wird, dass er nicht schlank, fit und sexy genug ist. Sie sollen sich voll entfalten, während sie bereits 110 Prozent geben und dafür kaum Wertschätzung erfahren. Aus all dem resultiert: Stress. Die Zwillingsschwestern Emily und Amelia Nagoski zeigen in diesem wegweisenden Buch - untermauert von neuesten wissenschaftlichen Fakten -, wie Frauen den typisch weiblichen Burnout-Fallen entkommen und innere Ausgeglichenheit finden.

Dr. Emily Nagoski hat nach dem Erwerb eines Bachelor in Psychologie ihren Master of Science in psychologischer Beratung absolviert und ihre Doktorarbeit über gesundheitsförderndes Verhalten verfasst. Sie leitet den Fachbereich Wellness Education am Smith College in Northampton.

BEENDE DEN ZYKLUS


»Ich habe beschlossen, von nun an Drogen zu verkaufen, damit ich meinen Job kündigen kann.«

Das hat Amelias Freundin Julie kürzlich auf die Frage »Wie geht’s dir?« geantwortet, an dem Samstag, bevor das neue Schuljahr begann. Das war natürlich ein Scherz … oder auch nicht. Sie ist Mittelstufenlehrerin. Ihr Burnout hatte einen solchen Schweregrad erreicht, dass die Aussicht auf den Schulbeginn ein solches Maß an Angst auslöste, dass sie um zwei Uhr nachts nach einer Flasche Chardonnay griff.

Niemandem gefällt die Vorstellung, dass die Lehrerin der eigenen Kinder ausgebrannt, verbittert und Trinkerin ist, aber sie ist nicht allein. Burnout – mit seinem Zynismus, dem Gefühl der Hilflosigkeit und vor allem der emotionalen Erschöpfung – ist erstaunlich verbreitet.

»Ich habe letztens eine Geschichte über einen Lehrer gelesen, der am ersten Schultag betrunken und ohne Hose auftauchte, und ich dachte: ›Das hätte mir auch passieren können‹«, erzählte Julie Amelia nach dem ersten Glas Wein.

»Angst ist übersteigerte Sorge«, sagte Amelia und erinnerte sich an ihre eigene Zeit als Mittelstufenlehrerin für Musik, »und die Sorge rührt von der Anhäufung fortdauernden Stresses her, Tag für Tag.«

»Ja«, erklärte Julie und füllte sich erneut das Glas.

»Das Dumme am Unterrichten ist, dass du niemals die Ursachen des Stresses loswirst«, sagte Amelia. »Und damit meine ich nicht die Kinder.«

»Genau«, stimmte Julie zu. »Wegen der Kinder bin ich hier. Aber es ist die Verwaltung und der Papierkram und der ganze Mist.«

»Die Stressoren wirst du nicht los«, sagte Amelia, »aber du kannst dich vom Stress befreien, wenn du weißt, wie du den Stressreaktionszyklus beendest.«

»Auf jeden Fall«, sagte Julie mit Nachdruck. Dann fügte sie hinzu: »Was meinst du mit ›den Zyklus beenden‹?«

Dieses Kapitel ist die Antwort auf Julies Frage, und es könnte der wichtigste Gedanke des Buches sein: Mit deinem Stress umzugehen, ist etwas anderes, als mit den Dingen umzugehen, die dir Stress bereiten. Um deinen Stress zu bewältigen, musst du den Zyklus beenden.

»Stress«

Wir wollen zuerst unseren Stress von unseren Stressoren unterscheiden.

Stressoren lösen eine Stressreaktion in unserem Körper aus. Ein Stressor kann alles sein, was du siehst, hörst, riechst, berührst, schmeckst oder dir vorstellst. Es gibt äußere Stressoren wie Arbeit, Geldangelegenheiten, Familie, Zeit, kulturelle Normen und Erwartungen, Erfahrungen von Diskriminierung und so weiter. Und es gibt weniger greifbare, innere Stressoren wie Selbstkritik, Körperwahrnehmung, Identität, Erinnerungen und Gedanken an die Zukunft. All diese Dinge können auf verschiedene Weise und in unterschiedlichem Maße von deinem Körper als Bedrohungen wahrgenommen werden.

Stress ist die neurologische und physiologische Veränderung, die in deinem Körper vor sich geht, wenn du dich mit einer dieser Bedrohungen konfrontiert siehst. Es ist eine evolutionäre Anpassungsreaktion, die uns hilft, Gefahren zu bewältigen, wie etwa von einem Löwen gejagt oder von einem Nilpferd angegriffen zu werden.12 Wenn dein Gehirn den Löwen (oder das Nilpferd) registriert, aktiviert es eine generische Stressreaktion, eine Kaskade neurologischer und hormonaler Aktivität, die physiologische Veränderungen bewirkt, die dir wiederum helfen zu überleben: Adrenalin sorgt sofort dafür, dass deine Muskeln stärker durchblutet werden, Kortisol hält dich auf Trab, und Endorphine helfen dir zu ignorieren, wie heikel die Situation ist. Dein Herz schlägt schneller, dein Blutdruck steigt und du atmest schneller (Messungen der Herzkreislauffunktion sind ein verbreitetes Verfahren von Stressforschern).13 Deine Muskeln sind angespannt, deine Schmerzempfindlichkeit nimmt ab. Deine Aufmerksamkeit ist erhöht, du bist hellwach und in Alarmbereitschaft, konzentriert auf das Hier und Jetzt, auf kurzfristige Entscheidungen. Deine Sinne sind geschärft, deine Erinnerung schränkt ihre Funktion auf das schmale Band von Erfahrung und Wissen ein, das unmittelbar relevant für diesen Stressor ist. Um die Leistungsfähigkeit deines Körpers zu erhöhen, treten zudem andere Organsysteme in den Hintergrund: Deine Verdauung wird langsamer, und deine Immunfunktion ändert sich (Messungen der Immunfunktion sind ein weiteres Verfahren von Stressforschern).14 Ebenso Wachstum, Gewebereparatur und Fortpflanzungsfunktion. Dein ganzer Körper und dein Geist verändern sich als Reaktion auf die wahrgenommene Bedrohung.

Da kommt also der Löwe. Die Stressreaktion hat dich vollkommen im Griff. Was machst du?

Du rennst.

Du siehst, die komplexe, alle Systeme erfassende Reaktion hat ein Hauptziel: zu fliehen und dafür Sauerstoff und Energie in deine Muskeln zu befördern. Alle anderen für diese Aufgabe nicht relevanten Prozesse werden zurückgestellt. Wie Robert Sapolsky es ausdrückt: »Bei uns Wirbeltieren geht es bei der Stressreaktion im Kern darum, dass unsere Muskeln wie verrückt anfangen zu arbeiten.«15

Du rennst also. Und dann?

Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten des Ausgangs: Entweder wirst du von dem Löwen gefressen (oder von dem Nilpferd niedergetrampelt – in beiden Fällen spielt der Rest keine Rolle), oder du entkommst! Du überlebst! Du läufst zurück in dein Dorf, während der Löwe dich die ganze Zeit verfolgt, und du rufst um Hilfe! Alle kommen heraus und helfen dir, den Löwen zu erlegen – du bist gerettet! Juhu! Du empfindest Liebe und Dankbarkeit für deine Freunde! Du bist so froh und dankbar, dass du lebst! Die Sonne scheint in deiner Wahrnehmung heller, während du dich dem beruhigenden Gefühl hingibst, dass du dich in deinem Körper sicher fühlen kannst. Das Dorf bereitet Teile des Löwen zusammen zu, und es wird ein Fest gefeiert. Dann wird der Rest des Kadavers, der nicht verwendet werden kann, in einer ehrenden Zeremonie begraben. Hand in Hand mit den Menschen, die du liebst, atmest du tief ein und dankst dem Löwen für sein Opfer.

Der Stressreaktionszyklus ist beendet und du lebst glücklich bis ans Ende deiner Tage.

Nur weil du den Stressor bezwungen hast, hast du nicht den Stress bewältigt

Unsere Stressreaktion ist perfekt an die Umwelt angepasst, in der sie sich entwickelt hat. Indem wir mit dem Löwen fertiggeworden sind, haben wir den Stressreaktionszyklus beendet. Daher könnte man annehmen, dass die Eliminierung des Löwen – der Ursache des Stresses – den Zyklus beende.

Aber so ist es nicht.

Stell dir vor, du läufst vor dem Löwen weg, und er wird vom Blitz getroffen! Du drehst dich um und siehst den toten Löwen, aber bist du plötzlich ruhig und entspannt? Nein. Du bleibst stehen, verwirrt, mit klopfendem Herzen, der Blick huscht suchend umher. Dein Körper will fliehen oder kämpfen oder sich in einer Höhle verstecken und weinen. Die Bedrohung mag durch einen Akt Gottes beseitigt sein, aber du musst noch etwas tun, das deinem Körper vermittelt, dass du sicher bist. Der Stressreaktionszyklus muss beendet werden, und die Eliminierung des Stressors ist dafür nicht ausreichend. Du läufst also vielleicht zurück zu deinem Dorf und erzählst deinen Leuten atemlos, was passiert ist, und ihr hüpft auf und nieder, freut euch und dankt Gott für den Blitzschlag.

Oder ein modernes Beispiel: Angenommen, der Löwe greift an – er stürzt auf dich zu! Adrenalin und Kortisol und Glykogen, oh Gott! Schnell entschlossen ergreifst du dein Gewehr und erschießt den Löwen, um dein eigenes Leben zu retten. Der Löwe fällt tot um.

Und nun? Die Bedrohung ist weg, aber wieder ist dein Körper noch im Aktionsmodus, weil du noch nichts getan hast, was deinem Körper signalisiert, dass du sicher bist. Dein Körper steckt noch mitten in der Stressreaktion. Dir selbst zu sagen: »Du bist jetzt sicher, beruhige dich,« hilft nicht. Selbst der Anblick des toten Löwen reicht nicht. Du musst etwas tun, das deinem Körper signalisiert: »Ich bin sicher«, sonst bleibst du in diesem Zustand, in dem die Botenstoffe und Hormone zwar abnehmen, aber nie ein Zustand der Entspannung eintritt. Dein Verdauungs-, Immun- und Herzkreislaufsystem, deine Muskulatur und dein Fortpflanzungssystem erhalten nie das Signal, dass du sicher bist.

Aber warte, es geht noch weiter: Angenommen, der Stressor ist kein Löwe, sondern irgendein Idiot bei der Arbeit. Dieser Idiot bedroht zwar nicht dein Leben, aber er geht dir auf die Nerven. Bei einem Meeting sagt er etwas Blödes, und bei dir werden ähnlich viel Adrenalin, Kortisol und Glykogen freigesetzt.16 Aber du musst dasitzen und »nett« sein. Dich »sozial angemessen« verhalten. Die Situation würde nur eskalieren, wenn du über den Tisch springen und ihm die Augen auskratzen würdest, wie deine Physiologie es dir sagt. Stattdessen musst du ruhig bleiben, sozial angemessen, dich mit seinem Vorgesetzten treffen und dessen Unterstützung dafür einholen, dass du das nächste Mal einschreiten kannst, wenn der Idiot Blödsinn erzählt.

Glückwunsch!

Aber die Ursache des Stresses anzugehen, bedeutet nicht, dass du den Stress selbst aufgehoben hast. Dein Körper ist vollgesogen mit Stresssaft und wartet auf ein Zeichen, dass du jetzt sicher vor der Bedrohung bist und entspannt feiern kannst.

Und das geschieht Tag für Tag.

Sehen wir uns an, was das nur bei einem einzigen System anrichtet, dem Herzkreislaufsystem: Ist die Stressreaktion chronisch aktiviert, bedeutet das...

Erscheint lt. Verlag 25.11.2019
Übersetzer Astrid Gravert
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Female Burnout: The Science of Thriving in a Successful, Sexist World
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anti-Stress • Ausgebrannt • ausgeglichen • "Bad Feminist" • Burnout • Burnout bei Frauen • eBooks • Erschöpfung • Familienratgeber • Feminismus • feminismus buch • Frauen • Frauen Bücher • Gender Medicine • Gendermedizin • Gesund • Gesundheit • innerer Kritiker • Komm wie du willst • Mental Health • Mental Load • Persönlichkeitsentwicklung • Psychologie • Ratgeber • Sexismus • Stress • Stressabbau • Stressmanagement • Weltfrauentag • Wohlbefinden
ISBN-10 3-641-24031-X / 364124031X
ISBN-13 978-3-641-24031-8 / 9783641240318
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