Freiheitskämpfer, Terroristen, Demokraten und Faschisten - Sebastian Seibert

Freiheitskämpfer, Terroristen, Demokraten und Faschisten

Politische Gewalt aus der Perspektive irischer und baskischer Nationalisten
Buch | Softcover
528 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-51146-7 (ISBN)
45,00 inkl. MwSt
Nordirland und das spanische Baskenland waren über Jahrzehnte geprägt von politischer Gewalt. Als politische Strategie kommt Gewalt jedoch besonders in Demokratien nicht ohne Legitimation aus. Die fortdauernde Existenz bewaffneter Gruppen in beiden Regionen lässt sich daher nur vor dem Hintergrund der Perzeption ihrer Gewalt und des Staatshandelns erklären. Das Augenmerk dieser Studie liegt darum auf den öffentlichen Aushandlungsprozessen der nationalistischen Bewegungen. Was wurde unter Gewalt verstanden? Welche Ausprägungen als verboten oder gar als geboten angesehen? Die Analyse der Gewaltdiskurse zeigt, wie es zum Ende der Gewaltanwendung kam, ohne dass die bewaffneten Gruppen ihre Kernziele erreicht hatten.

Sebastian Seibert ist promovierter Historiker und Politikwissenschaftler und gegenwärtig als freiberuflicher Bildungsreferent tätig.

Inhalt
Dank7
1 Einleitung: Sprechen über politische Gewalt 9
1.1 Fragestellung und Forschungsstand 10
1.2 Theoretische und methodische Zugänge 36
1.3 Ereignisgeschichtliche Einführung 56
2 Die unterdrückte Nation 74
2.1 Der nationale Gegensatz 75
2.2 Nationaler Befreiungskampf 93
2.3 »Tiocfaidh ár lá«/»Jo ta ke irabazi arte« 111
2.4 Zwischenresümee132
3 Undemokratische Verhältnisse 136
3.1 Fehlen einer legitimen Grundlage 137
3.2 Missachtung demokratischer Grundsätze 159
3.3 Politische Justiz und mangelnde Rechtsstaatlichkeit 177
3.4 Zwischenresümee193
4 Unmenschliche Repressionsmethoden 196
4.1 Kontinuität von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen 197
4.2 Staatsterrorismus 217
4.3 Gewalt gegen Gefangene und ihre Familien 233
4.4 Zwischenresümee 249
5 Sozialrevolutionäre und disziplinierende Gewalt 252
5.1 Nationale und soziale Revolution 253
5.2 Schutz der eigenen Gemeinschaft 272
5.3 Verräter 284
5.4 Zwischenresümee 303
6 Gewalt ist das falsche Mittel 308
6.1 Gewalt ist nicht zielführend 309
6.2 Gewalt ist kein legitimes Mittel 326
6.3 Gewalt ist nicht gleich Gewalt 340
6.4 Zwischenresümee371
7 Falscher Umgang mit dem Konflikt 375
7.1 Falsche Darstellung des Konflikts 376
7.2 Kontraproduktives Staatshandeln 400
7.3 Gewalt ist nicht mehr die richtige Strategie 416
7.4 Zwischenresümee 432
8 Abschließende Betrachtungen: Politische Gewalt aus der Perspektive irischer und baskischer Nationalisten 436
8.1 Sprechweisen über politische Gewalt 437
8.2 Entwicklungen, Unterschiede und externe Einflüsse 456
8.3 Freiheitskämpfer, Terroristen, Demokraten und Faschisten 470
Appendix 477
Abkürzungsverzeichnis 477
Glossar 480
Zeittafel 498
Regierungen auf zentralstaatlicher und regionaler Ebene 509
Literatur 511

»Damit füllt der Autor eine bisher bestehende Forschungslücke, die diverse Anknüpfungspunkte an viele weitere noch ausstehende Studien zu diskursiven Aushandlungsprozessen im Umgang mit politischer Gewalt, u.a. auch in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, bereithält.« Robert Wolff, H-Soz-u-Kult, 24.08.2021

»Damit füllt der Autor eine bisher bestehende Forschungslücke, die diverse Anknüpfungspunkte an viele weitere noch ausstehende Studien zu diskursiven Aushandlungsprozessen im Umgang mit politischer Gewalt, u.a. auch in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, bereithält.« Robert Wolff, H-Soz-u-Kult, 24.08.2021

1Einleitung: Sprechen über politische Gewalt »Die Gewalt spricht nicht«, überschrieb der renommierte Gewaltforscher und Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung Jan Philipp Reemtsma einst einen Vortrag über das Verhältnis von Macht und Gewalt. Sie begleite vielmehr die Macht wie ein stummer Schatten. Während in Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns« Gewalt gleichsam den Gegenpol zur Kommunikation darstellt, bedeutet sie für Reemtsma jedoch nicht deren Ende: »Zwar spricht sie nicht, aber indem sie sich zeigt, sagt sie dennoch allerlei.« In einer triadischen Konstruktion stelle Gewalt selbst einen Akt der Kommunikation dar und werde dadurch zu sozialem Handeln. Zweifellos erzeugt Gewalt als Akt der »Eliminierung von Handeln durch Handeln« auch ohne kontextualisierende Diskurse Realität und sendet dabei in einem gewissen Rahmen auch eine Botschaft an Dritte. Allerdings setzt gerade aus politischen Motiven ausgeübte Gewalt eine weitergehende, sprachliche Kommunikation voraus. So werden einzelne Gewaltakte erst dadurch politisch und wirken über die jeweils direkt Betroffenen hinaus, indem sie in Kontext gesetzt und mit einer bestimmten Botschaft verbunden werden. Erst die begleitende Kommunikation, die den Gewaltakt in seiner konkreten Ausrichtung erklärt und in einen Ziel-Mittel-Kontext einordnet, macht diesen deutbar und ermöglicht es, Wirkungen, die über eine diffuse Angst hinausgehen, wie Drohpotenziale, Vermeidungshandeln oder Zugeständnisse des politischen Gegners zu generieren. Anders als bei Gewaltanwendungen in anderen Zusammenhängen, die nicht notwendigerweise ein politisches Ziel verfolgen und daher auch zum Selbstzweck werden können, kommt Gewalt als politische Strategie nicht ohne Legitimation aus. Laut Reemtsma ist die moderne europäische Kultur aber von einer prinzipiellen Gewaltaversion gekennzeichnet. In ihr wird nicht nur zwischen erlaubter, gebotener und verbotener Gewalt unterschieden, sondern Gewalt grundsätzlich als Problem angesehen. Diese wird nur noch als legitim anerkannt, wo sie vor schlimmerer Gewalt schützen soll. Innerhalb demokratisch verfasster Gesellschaften, in denen theoretisch politische Mehrheiten organisiert werden können, um Veränderungen durchzusetzen und bestimmte politische Ziele zu erreichen, erscheint die Anwendung von Gewalt besonders begründungspflichtig. Umso größere Bedeutung kommt hier dem Kampf um die Deutungshoheit zu, der stets mit dieser einhergeht und darauf abzielt, die eigene Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen und ihr Legitimität zuzuweisen und gleichzeitig die Legitimität derjenigen zu schwächen, die diese ablehnen oder gegen sie vorgehen. 1.1 Fragestellung und Forschungsstand Die nordirische wie die baskische Gesellschaft waren über Jahrzehnte geprägt von politischer Gewalt. Diese Gewalt konnte vielfältige Formen annehmen. Sie äußerte sich seitens der nicht-staatlichen Akteure in Bombenanschlägen und gezielten Morden, aber auch in »punishment shootings« und »punishment beatings«, Vertreibungen, Mobbing, der Eintreibung einer »Revolutionssteuer« und Straßenkampf. Von staatlicher Seite wurde darauf mit zum Teil erheblicher Repression reagiert, die nicht nur gravierende Einschränkungen von Freiheitsrechten, sondern auch Menschenrechtsverletzungen mit einschloss. Die Gewalt war somit kein randständiges Phänomen, sondern wirkte auf breite Teile der Gesellschaft und führte zu einer erheblichen Polarisierung. Hier wie dort wurde, noch lange nachdem die alte politische Ordnung durch eine andere, formal demokratische ersetzt worden war, in einem erheblichen Ausmaß Gewalt in der politischen Auseinandersetzung angewandt. Erst 33 Jahre nach der Ablösung des Stormont-Regimes in Nord-irland respektive der Verabschiedung einer demokratischen Verfassung in Spanien verkündeten mit der (Provisional) Irish Republican Army und Euskadi Ta Askatasuna (militar) (Baskenland und Freiheit) die jeweils bedeutendsten Gewalt anwendenden Gruppen das Ende ihres bewaffneten Kampfes. Dass diese über einen so langen Zeitraum fortbestehen konnten, zeugt davon, dass der Einsatz von Gewalt von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung lange Zeit als legitim angesehen wurde. Schließlich ist eine Gruppe oder Organisation, die ihre politischen Ziele mit Gewalt durchsetzen will, von einer Unterstützerbasis abhängig: von den Straßenkämpfern, die einen Ort so lange blockieren, bis Untergetauchte entkommen, Waffen in Sicherheit gebracht oder alle Spuren nach einem Anschlag verwischt sind; von der Menschenmasse, die es als Schutzschild ermöglicht, verbotene Insignien hochzuhalten und Salutschüsse zu Ehren von getöteten Mitstreitern abzugeben; von Informanten, Kurieren, Geldwäschern und Bereitstel-lern von sicheren Häusern und Waffenverstecken; von denen, die sie vor Durchsuchungen warnen, die sie und die Inhaftierten politisch unterstützen oder die generell nicht bereit sind mit den staatlichen Sicherheitskräften zu kooperieren, etc. Ihr Erfolg hängt also von ihrer Fähigkeit ab, Akzeptanz für ihre Aktionen zu finden und Menschen für sich zu mobilisieren, sowie von der Reaktion der Zivilgesellschaft. Ohne aktive oder passive Unterstützung mag eine solche Gruppe eine Zeit lang trotzdem bestehen können, stellt sich die Gesellschaft aktiv gegen sie, ist sie jedoch nicht überlebensfähig. Insofern reflektiert sie in gewisser Weise die Einstellungen und Sehnsüchte eines Teils der Gesellschaft, aus der sie hervorgegangen ist. Als die bewaffneten Gruppen unter den Vorgängerregimen aktiv wur¬den, war ihre direkte Gewaltanwendung gegen das politische System und seine Repräsentanten in breiten Teilen der Gesellschaft vor allem als Notwehr verstanden worden. Im Falle Nordirlands sah sich die IRA 1969 dabei explizit dem Vorwurf ausgesetzt, nicht bereit gewesen zu sein, ihrer traditionellen Rolle, nämlich dem Schutz der katholischen Bevölkerung vor Pogromen und Polizeiwillkür, nachzukommen. Die neuformierte Provisional IRA zog daraus Konsequenzen und trat zunächst primär mit dem Anspruch auf, diese Rolle wieder auszufüllen. Unabhängig davon inwieweit sie diese tatsächlich erfüllte, nur die Illusion des Schutzes erweckte oder im Gegenteil sogar zu mehr Übergriffen beitrug, verschaffte es ihr Legitimität und Rück-halt in der nationalist community. Aber auch im Baskenland genossen während der Franco-Zeit ETA-Aktivisten einen Heldenstatus, galten baskischer Nationalismus und politische Gewalt als notwendige Antwort auf die aktuellen Gegebenheiten. Beiden Organisationen wurde zudem zugesprochen, maßgeblich zum Sturz des alten Systems beigetragen zu haben. Zeitgenössische, auf teilnehmender Beobachtung basierende Studien verdeutlichen, wie stark die Menschen beider Regionen in diesen Jahren von einer antagonistischen Sichtweise geprägt waren und diese nicht über Nacht ablegten, als die bisherige Ordnung in eine neue, demokratischere transformiert wurde. Zugleich trat innerhalb der jeweiligen nationalistischen Bewegungen aber bereits eine gewisse Ambivalenz gegenüber den (offensiven) Aktivitäten der bewaffneten Gruppen auf, die aus moralischen Gründen, wegen ihrer Angriffsziele oder wegen der Konsequenzen ihrer Taten für die gesamte Gemeinschaft auch auf Kritik stießen. Der Soziologe Frank Burton berichtete Ende der 1970er Jahre aus dem Belfaster Stadtviertel Ardoyne von einer anhaltenden Debatte, die sich vor allem um die moralische Beurteilung von Gewaltanwendung gedreht habe und durch aktuelle Entwicklungen beeinflusst worden sei. Demnach handelte es sich bei der Unterstützung für bewaffnete republikanische Gruppen nicht um eine statische Konstante, sondern um eine komplexe Variable, die von den jeweiligen Handlungen der verschiedenen Akteure in dem Konflikt abhing. Auf diese Beobachtung Burtons gründet sich die Ausgangshypothese meiner Untersuchung: Die langjährige Unterstützung von Gewaltanwendung durch einen erheblichen Teil der Bevölkerung der untersuchten Regionen lässt sich nur vor dem Hintergrund der Perzeption dieser Gewalt und anderer als gewalttätig wahrgenommener Maßnahmen erklären. Mein Augenmerk richtet sich dementsprechend auf die sprachliche Eingebundenheit politischer Gewalt und damit auf das Verhältnis von Gewalthandeln und Kommunikation. Im Mittelpunkt stehen darum die öffentlichen Aushandlungsprozesse der genannten nationalistischen Bewegungen. Was wurde in diesen alles unter politischer Gewalt verstanden beziehungsweise subsumiert? Welche Ausprägungen wurden als verboten, erlaubt oder gar als geboten angesehen? Die Art und Weise, wie die bewaffneten Gruppen selbst ihre Handlungsweise legitimierten, ist dabei nur ein Aspekt. Bei ihren Stellungnahmen handelt es sich letztlich lediglich um einen Beitrag in einem breiteren Diskurs. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sie mit ihrer Darstellung durchdringen konnten, ihre Sichtweise zumindest in einzelnen Punkten von weiteren Kreisen geteilt wurde oder ob umgekehrt bestimmte Argumentationsweisen allmählich in den Hintergrund rückten oder gänzlich verschwanden, sei es, weil sie auf keine Resonanz stießen, sei es, weil die Debatte nicht ohne Wirkung auf die Militanten blieb. Eine Analyse dieser Gewaltdiskurse, so mein Argument, liefert Antworten auf für beide Untersuchungsfälle zentrale Fragen: Worauf ist die Persistenz politischer Gewalt nach dem Übergang zu einer demokratisch verfassten Gesellschaft zurückzuführen? Und wie lässt es sich erklären, dass es mehr als drei Jahrzehnte nach dem Systemwechsel schließlich doch zu einem (in Nordirland gleichwohl nicht vollständigen) Ende der Gewaltanwendung kam – und dies obwohl die bewaffneten Gruppen ihre Kernziele nicht erreicht hatten? So werde ich zeigen, dass gemäß den nationalistischen Diskursen politische Gewalt keinesfalls nur von einer Seite ausgeübt wurde. Der Gewalt der bewaffneten Gruppen aus dem eigenen Lager stand nach diesen hingegen eine illegitime staatliche Gewalt gegenüber, welche jener vorausgegangen sei und auch mit den politischen Reformen in den 1970er Jahren kein Ende gefunden habe. Das aus dieser Sicht bestehende Legitimitätsdefizit der politischen Ordnung und das damit verbundene Selbstverständnis als Opfer bildete die Grundlage für die Fortexistenz der bewaffneten Gruppen trotz einer mehrheitlichen Ablehnung von Gewaltanwendung. Dass letztlich die Bereitschaft schwand, eine Fortsetzung der Gewaltkampagne zu tolerieren oder gar zu unterstützen, hatte allerdings nur bedingt mit einer veränderten Wahrnehmung dieser Ordnung zu tun. Vielmehr beruhte dies in erster Linie darauf, dass sich die bewaffneten Gruppen auch aus der Perspektive ihres engeren Umfelds durch Grenzüberschreitungen zunehmend selbst delegitimiert hatten und andere Handlungsstrategien mittlerweile für erfolgversprechender gehalten wurden. 1.1.1 Verwendete Terminologie Bei einem Thema, bei dem zum einen unterschiedliche Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf einzelne Begriffe und zum anderen die Auseinander-setzung um die richtige Bezeichnung eines bestimmten Sachverhalts oder einer Gruppe eine große Rolle spielen, und daher der Gebrauch bestimmter Bezeichnungen auf den politischen Standpunkt schließen lässt, ist es nicht immer einfach, eine neutrale Ausdrucksweise zu finden. Daher bereits an dieser Stelle einige Worte zu den Konnotationen von bestimmten Bezeichnungen sowie zu der von mir selbst verwendeten Terminologie und deren Begründung. Den Begriff Terrorismus verwende ich in meiner Arbeit nur als Quellenbegriff. Das Konzept Terrorismus ist sehr umstritten, was sich auch daran zeigt, dass über hundert unterschiedliche Definitionen von Terrorismus kursieren. Auf die mit der sogenannten Terrorismusforschung verbundene Problematik werde ich in dem Abschnitt zum Forschungsstand näher eingehen. Zwar gibt es Versuche, den Terrorismusbegriff zu entideologisieren und Terrorismus allein als eine bestimmte Methode zu definieren. Allerdings bleiben auch hierbei die Grenzziehungen schwammig und wenig überzeugend. Mit Christoph Daase lässt sich fragen, ob es überhaupt so etwas wie einen harten begrifflichen Kern des Terrorismus gibt. Joseba Zulaika und William Douglass sehen Terrorismus ähnlich wie Hexerei als »pervasive social phenomena that, on a close inspection, appear to be nothing but imaginary constructs deeply embedded in the culture of the times«. In der öffentlichen Debatte ist Terrorismus jedenfalls in erster Linie ein Kampfbegriff, um die Handlungen eines politischen Gegners für illegitim und verabscheuungswürdig zu erklären, ihn auf diese Weise zu diskreditieren und um außergewöhnliche Maßnahmen gegen ihn zu rechtfertigen. Es handelt sich dabei um einen eindeutig negativ konnotierten Begriff, der nicht zur Selbstbeschreibung verwendet wird. Für eine Arbeit wie diese ist daher relevant, was, in welchem Kontext und durch wen etwas als Terrorismus, Staatsterrorismus oder Terror gebrandmarkt wird. Dementsprechend geht es nicht darum, dieses politische Labeling für wahr oder unwahr zu erklären, sondern entsprechende Äußerungen als performative Sprechakte zu betrachten. Aus diesen Gründen verwende ich den Begriff Terrorismus in meiner Arbeit weder als analytischen noch als deskriptiven Begriff. Stattdessen bezeichne ich gewaltanwendende Gruppen – wenn ich nicht ihren Namen gebrauche – als eben solche oder als bewaffnete Gruppen beziehungsweise spreche ich, wenn es sich nicht allein um Angehörige dieser Gruppen, sondern um einen weiteren Kreis von Personen dreht, die Gewalt anwandten, wie etwa radikale Jugendliche, von militanten Nationalisten. Nicht immer ganz eindeutig, vor allem aber oft mit bestimmten Konnotationen behaftet, sind Bezeichnungen für die verschiedenen politischen Strömungen, Bevölkerungsgruppen, Städte und Provinzen sowie die Untersuchungsregionen selbst. In Irland ist ein Witz weit verbreitet, der dies auf seine Art verdeutlicht: In Nordirland kommt ein Mann mit seinem Auto an eine inoffizielle Straßensperre. Eine der als Wache postierten Personen tritt an seinen Wagen heran und fragt ihn: »Are you Catholic or Protestant?« Darauf antwortet dieser: »Neither, I’m an atheist«. Der Wachposten, unzufrieden mit dieser Antwort, hakt nach: »That’s all very well, but are you a Catholic atheist or a Protestant atheist?« Tatsächlich handelt es sich bei der sowohl von Außenstehenden als auch von den Menschen vor Ort häufig verwendeten Unterscheidung zwischen Catholics und Protestants nicht so sehr um eine Abgrenzung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, sondern in der Regel um eine politische Zuschreibung. Ihnen entsprechen in dieser Hinsicht die eindeu-tigeren Begriffe nationalists und unionists, denen ich hier den Vorzug geben werde, wobei sich durchaus in beiden Lagern auch Personen des jeweils anderen Glaubensbekenntnisses finden. Als nationalists werden dabei diejenigen bezeichnet, die sich als Iren verstehen und eine Vereinigung Nordirlands mit der Republik Irland anstreben. Ohne den Zusatz community bezieht sich diese Bezeichnung allerdings primär auf den Teil der irischen Nationalisten, der dieses Ziel stets auf friedlichem, politischen Weg zu erreichen versuchte. Dazu zählen etwa Parteien wie die Social Democratic and Labour Party (SDLP) und früher die Nationalist Party. Der radikalere Teil der irisch-nationalistischen Bewegung firmiert dagegen als republicans. Irischer Nationalismus und irischer Republikanismus sind weitgehend deckungsgleich und haben beide ihren Ursprung in der 1790 gegründeten Society of United Irishmen, die sich inspiriert von der Amerikanischen und der Französischen Revolution zu einer revolutionären Bewegung für eine unabhängige irische Republik entwickelte. Waren die nationalists stärker um die Bewahrung des gälischen kulturellen Erbes bemüht, der katholischen Kirche verbunden und eher reformorientiert, waren die republicans von Beginn an säkular ausgerichtet und setzten zur Erringung einer unabhängigen und egalitären irischen Republik auch auf die Anwendung von Gewalt.

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Mikropolitik der Gewalt ; 14
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 649 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Vergleichende Politikwissenschaften
Schlagworte Baskenland • ETA • Gewaltkommunikation • IRA • Nordirland • Politische Gewalt
ISBN-10 3-593-51146-0 / 3593511460
ISBN-13 978-3-593-51146-7 / 9783593511467
Zustand Neuware
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