Wie wir Menschen wurden (eBook)

Eine kriminalistische Spurensuche nach den Ursprüngen der Menschheit - Spektakuläre Funde im Alpenraum
eBook Download: EPUB
2019
336 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-24441-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie wir Menschen wurden - Madelaine Böhme, Rüdiger Braun, Florian Breier
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Spektakuläre Funde werfen ein neues Licht auf die Geschichte der menschlichen Evolution
Die Wiege der Menschheit liegt in Afrika - das galt lange als unumstößliche Erkenntnis. Doch in den vergangenen Jahren tauchten immer mehr Knochenfunde auf, die zeitlich und räumlich nicht ins Bild passen: Forscher entdeckten in Europa zahlreiche Fossilien von frühen Vorfahren heutiger Menschenaffen, aus denen später die menschliche Evolutionslinie hervorging.
Aus bekannten und völlig neuen Puzzleteilen rekonstruiert die renommierte Paläontologin Madelaine Böhme ein hochaktuelles Bild der Menschwerdung, das mit vielen gängigen Vorstellungen bricht. Sie beschreibt die Wendepunkte der Forschung und lässt die faszinierende Welt unserer frühesten Vorfahren lebendig werden. Ein packender Wissenschaftskrimi!

Prof. Dr. Madelaine Böhme, Geowissenschaftlerin und Paläontologin, ist seit Ende 2009 Professorin für terrestrische Paläoklimatologie an der Universität Tübingen und Gründungsdirektorin des Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment (HEP Tübingen). Sie zählt zu den profiliertesten Paläo-Klimatologen und Paläo-Umweltforschern und betrachtet die menschliche Evolution auch im Hinblick auf die Veränderungen des Klimas und der Umwelt.

KAPITEL 5

Mit Magnetometer und Mikrocomputertomograf: Uralte Knochen im High-Tech-Labor

Zum Zeitpunkt meines Besuches an der Universität Erlangen, Ende 2014, war streng genommen sogar der Name Graecopithecus freybergi umstritten. Schon in den 1990er Jahren hatten Forscher aus den USA die Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur aufgefordert, den Namen zu tilgen. Dieses Gremium ist für die Anerkennung und Vereinheitlichung von Artnamen zuständig. Die Kritiker bezweifelten vor allem die Annahme, dass Graecopithecus das gleiche Alter hatte wie die pikermische Fauna. Ihre Argumentation: Die Einordnung beruhe auf verschollenen Begleitfunden, und die Fundstelle in Pyrgos sei nicht mehr für Nachgrabungen zugänglich. Aus diesem Grund könne allein aufgrund eines im Krieg beschädigten Fossils keine neue Art ausgewiesen werden.

Diese Diskussion würden Nikolai Spassov und ich nun beenden können, wenn alles gut lief. Ich hielt buchstäblich alle Einzelteile in den Händen und musste die Pyrgos-Funde, den Backenzahn aus Bulgarien und die berühmten Fossilien aus Pikermi »nur noch« mit den heute gängigen Methoden analysieren und zusammenführen.

Die Untersuchungen begannen mit den Zähnen von Graecopithecus, der in meinem Team der Einfachheit halber rasch den Spitznamen »El Graeco«, der Grieche, erhielt. Zähne sind für Paläontologen deshalb so interessant, weil sie mit Zahnschmelz überzogen sind, dem härtesten organischen Material, das wir kennen. Deshalb überstehen sie die Jahrmillionen im Sediment oft besonders gut und sind nicht selten bei Ausgrabungen die am besten erhaltenen Fundstücke. Hinzu kommt, dass sie weitreichende Schlüsse zur Abstammung, zur Ernährungsweise der ausgestorbenen Tiere und damit auch über deren Umwelt ermöglichen.

Gerade bei Affenfossilien sind Zähne besonders aufschlussreich, denn sie erlauben nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen Menschenaffen und anderen Affen, sondern auch zwischen Menschenaffen und den direkten Vorfahren des Menschen (siehe Grafik Unterschiede in Bezahnung und Zahnbewurzelung). So sind die Wurzeln der Eckzähne sowohl bei den ausgestorbenen als auch bei den heute noch lebenden Menschenaffen lang und voluminös, vor allem bei männlichen Individuen. Ihre Eckzähne dienen als Imponierwaffen in Rangordnungskämpfen. Die Wurzeln ihrer Backenzähne sind ebenfalls länger, und jeder dieser Zähne besitzt mehrere Wurzeln. Normalerweise drei oder vier. Hinzu kommt, dass sie gespreizt sind, sie divergieren. So wird, ähnlich einem Dübel, eine feste Verankerung im Kiefer erreicht. Beim menschlichen Entwicklungszweig sind Backenzahnwurzeln hingegen konvergierend, ihre Spitzen wenden sich nach innen. Zudem sind sie bei den vorderen beiden Backenzähnen zu einer einzigen kräftigen Wurzel verschmolzen. Bei vielen von uns ist diese Verschmelzung noch daran erkennbar, dass die stiftförmigen Wurzeln mehr als einen Wurzelkanal tragen. Verantwortlich für die unterschiedlichen Backenzahnformen bei Menschenaffen und Menschen sind unterschiedliche Anforderungen beim Kauen. Unterschiedliche Ernährungsweisen haben also dazu geführt, dass Menschenaffen andere Zahnformen entwickelt haben als die Hominini. Unter diesem Begriff fasst die Paläoanthropologie unsere Spezies und all unsere ausgestorbenen Vorfahren zusammen, die zeitlich später als der gemeinsame Vorfahre von Mensch und Schimpanse lebten.

Unterschiede in Bezahnung und Zahnbewurzelung

Grafik 1

© Nadine Gibler Informationsdesign

Von Freyberg und von Koenigswald mussten sich bei der Untersuchung des Unterkiefers von Graecopithecus noch auf ihr bloßes Auge verlassen. Ins Innere von Fossilien zu blicken, ohne sie zu zerstören, war zu ihrer Zeit undenkbar. Mithilfe der Computertomographie (CT) ist es heutzutage jedoch möglich, Fossilien millimetergenau zu durchleuchten und Verborgenes sichtbar zu machen. Das Verfahren ist das gleiche, das in der Medizin angewendet wird, nur dass in diesem Fall die Überreste ausgestorbener Lebewesen unter die Lupe genommen werden. Mikro-CTs ermöglichen es sogar, mehrere Tausend Schnittbilder zusammenzufügen und verborgene Strukturen bis auf wenige Tausendstel Millimeter genau dreidimensional abzubilden.

So waren mein Team und ich mehr als gespannt, als wir den Unterkiefer von Graecopithecus im Frühjahr 2015 in Tübingen mit dieser hochauflösenden Technik durchleuchteten. Das Ergebnis war absolut überraschend. Wir hatten zwar erwartet, die typischen Zahnmerkmale eines Menschenaffen zu identifizieren. Doch was wir sahen, war weitaus bemerkenswerter: Die Wurzeln der Eck- und Backenzähne von Graecopithecus waren verkürzt. An den vorderen Backenzähnen fanden wir sogar eine über fünfzigprozentige Verschmelzung der Wurzeln, wobei die freien Wurzelenden konvergieren, also sich nach innen krümmen.

CT-Bild des Unterkiefers von Graecopithecus freybergi

Grafik 2

© Fuss et al. 2017. Potential hominin affinities of Graecopithecus from the Late Miocene of Europe. PLoS ONE 12(5): e0177127. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0177127

Auch die Anzahl der Wurzelkanäle war, verglichen mit heute lebenden und fossilen Menschenaffen, reduziert. All diese Merkmale hatte auch der Backenzahn aus Bulgarien.

Es war schwer zu glauben, doch in der Summe ähnelten beide Fossilien viel stärker einigen afrikanischen Vormenschen-Arten aus den Gattungen Ardipithecus und Australopithecus als einem ausgestorbenen Menschenaffen. Diese berühmten afrikanischen Funde waren zwischen 5,5 und zwei Millionen Jahren alt. Doch wann genau hatte Graecopithecus gelebt?

Datierung mit fossiler Wasserwaage

Wenn es um die Datierung von Fossilien geht, wenden Geologen heutzutage auch verschiedene physikalische Messmethoden an. Eine davon, die Magnetostratigrafie, macht sich das Erdmagnetfeld als Informationsquelle zunutze. Messungen der Ausrichtung magnetischer Partikel in Gesteinen haben gezeigt, dass sich das Magnetfeld der Erde in unregelmäßigen Abständen umkehrt. Das bedeutet, dass – im Gegensatz zur derzeitigen Situation, in der der magnetische Norden mit dem geografischen Nord identisch ist – der magnetische Nordpol zum geografischen Südpol wechseln kann. Die letzte dieser Umpolungen ereignete sich vor etwa 800 000 Jahren. Viele weitere gingen ihr voraus, und das genaue Alter jedes Polwechsels ist aus Sediment-Archiven gut bekannt.

Mithilfe eines Magnetometers zur Messung der Magnetisierung können solche paläomagnetischen Informationen aus Gesteinen herausgelesen werden. Fossilien diese Information zu entlocken, ist schon schwieriger. Derjenige, der die Untersuchung durchführt, muss die genauen geographischen Koordinaten des Fundortes kennen und wissen, wie das Fossil im Erdreich steckte, also wo oben und wo unten war. Unentbehrlich dafür ist eine gründliche Dokumentation der Probennahme. Es sei denn, eine Art »fossile Wasserwaage« ist überliefert, die uns zeigt, wie die Gravitation wirkte, als die Fossilien abgelagert wurden.

Erdmagnetismus und Prinzipien der Paläomagnetik

Grafik 3

© https://earthref.org/ERDA/212/

Fossile Wasserwaage

Grafik 4

© Nadine Gibler Informationsdesign

Wir hatten Glück, denn hier zeigte sich erneut die Bedeutung der übrigen Funde aus Pyrgos. Unter den mehr als 30 Knochen, die in Nürnberg eingelagert waren, stießen wir auf zwei große, zerbrochene Mittelfußknochen einer Giraffe. Diese hohlen Knochen waren zur Hälfte mit Sediment gefüllt. Darüber hatten sich Kalzitkristalle gebildet, wie schon bei den Funden aus Pikermi, die der bayerische Soldat 1838 für Diamanten hielt.

Anhand der Ausrichtung der Sedimentoberfläche konnten wir nun die Lage der Giraffenknochen im Sediment exakt rekonstruieren und mithilfe dieser fossilen Wasserwaage die Polarität des Erdmagnetfeldes zur Zeit der Ablagerung der Pyrgos-Fossilien ermitteln.

Die paläomagnetischen Daten aus Pyrgos, Pikermi und Azmaka kombinierten wir mit drei weiteren chronologischen Verfahren. Damit konnten wir ziemlich genau das Alter des Graecopithecus-Fossils und der anderen Pyrgos-Funde bestimmen: 7,175 Millionen Jahre.8 Und der Backenzahn aus Bulgarien ist rund 80 000 Jahre älter. Das ist im Bereich der Zeitspanne, während der sich, auf der Grundlage von genetischen Daten, die menschliche Entwicklungslinie höchstwahrscheinlich bereits von jener der Schimpansen getrennt hatte.9 Für die Fossilien aus Pikermi ermittelten wir ein absolutes Alter von rund 7,3 Millionen Jahren. Genau genommen handelt es sich bei ihnen um Funde aus acht verschiedenen Sedimentschichten, die in einem Zeitraum von 40 000 Jahren abgelagert wurden.

Mit der Annahme, dass »El Graeco« Teil der pikermischen Welt war, hatten Dietrich und von Freyberg also knapp falsch gelegen. Die von Gustav Heinrich Ralph von Koenigswald geäußerte Vermutung eines geringfügig jüngeren Alters konnten wir jedoch bestätigen.

Was diese Wissenschaftler noch nicht...

Erscheint lt. Verlag 11.11.2019
Illustrationen Nadine Gibler
Zusatzinfo mit Farbbildteil und Illus im Text
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Anthropologie • Archäologie • Archäologische Techniken • aufrechter Gang • Ausgrabungen • eBooks • Evolution • Forschung • Fossilien • Frühzeit • Genetik • Homo sapiens • Knochenfunde • Knochenfunde Allgäu • Menschenaffen • Menschliche Evolution • Neandertaler • Udo Lindenberg • Vor- & Frühgeschichte • Vorfahren des Menschen • Wiege der Menschheit
ISBN-10 3-641-24441-2 / 3641244412
ISBN-13 978-3-641-24441-5 / 9783641244415
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