Mama, du bleibst bei mir (eBook)

Vom Glück und Unglück, einen Angehörigen zu pflegen
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
Blanvalet (Verlag)
978-3-641-24585-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mama, du bleibst bei mir -  Ruth Schneeberger
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SZ-Journalistin Ruth Schneeberger ist 29 Jahre alt, als sie ihre schwer kranke Mutter zu sich nimmt. Heute sagt sie: Pflege kann glücklich machen.
In diesem sehr persönlichen Buch erzählt Ruth Schneeberger, wie ihre lebenslustige, starke Mutter von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall wird und wie sie die Entscheidung trifft, ihre Betreuung daheim zu organisieren. Es wird eine Zeit, die alle gängigen Vorstellungen widerlegt. Dass die Mutter noch zehn Jahre leben würde, hätte niemand gedacht. Erst recht nicht, wie schön diese Jahre für beide werden würden. Am allerwenigsten aber hätte Ruth Schneeberger erwartet, welche riesigen Knüppel ihr zwischen die Beine geworfen werden - von Behörden, Ärzten, Pflegern und der Krankenkasse. Dennoch macht sie Angehörigen Mut, das Wagnis häusliche Pflege einzugehen, denn in den eigenen vier Wänden dreht sich nichts um den finanziellen Gewinn, sondern alles um die Hauptperson: den Patienten.

Ruth Schneeberger, 1978 am Niederrhein geboren, hat nach ihrem Abitur bei der »Neuen Rhein Zeitung« als Journalistin mit dem Schreiben angefangen und seitdem nie wieder aufgehört. Zwischendurch absolvierte sie ein Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Kommunikationswissenschaften in Köln und München. Es folgten Stationen bei »RTL«, »Kölner Stadtanzeiger« und »Elle«. Von 2006 bis 2018 war sie erst Redakteurin und später Textchefin bei 'SZ.de' in München, seit 2019 ist sie Autorin der 'Süddeutschen Zeitung' und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2018 pflegte sie ihre nach einem Schlaganfall schwer pflegebedürftige Mutter. »Mama, du bleibst bei mir« ist ihr erstes Buch.

Kapitel 1
Wie alles anfing


Bevor meine Mutter krank wurde, war ich ständig auf Partys. Wenn es gut lief, fing die Tanzwoche für mich am Mittwochabend an und endete am Dienstag in der Früh. Zwischen neunzehn und neunundzwanzig Jahren habe ich mein Leben so vollgepackt mit Vergnügen, dass ich mich manchmal fragte, wie das weitergehen solle, wenn ich älter würde. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, anders zu leben. Die Neunzigerjahre haben mich geprägt wie viele andere Kinder des Spaß-Jahrzehnts und der Techno-Bewegung.

Ich war Stammgast in Elektro-Clubs, erst in meiner Heimat am Niederrhein, dann in Köln, schließlich in München. Tagelang die Nächte durchzumachen fiel mir leicht, weil ich kaum Alkohol trank, dafür aber umso mehr tanzte. Tanzen war für mich wie für andere das Joggen. Es hielt mich fit und gut gelaunt. Als Kind war ich zehn Jahre lang Ballerina, nun tanzte ich wie besessen zu elektronischer Musik. Sie war meine Droge, ich brauchte keine andere. Deshalb war das Nachtleben auch gut mit meiner Arbeit zu vereinbaren. Viel geschlafen habe ich ohnehin nie – ein Umstand, der uns noch sehr zugutekommen sollte.

So war ich auch im November 2007 auf einer Party, als der Anruf kam. In München hatte ein neuer Club eröffnet, da durfte ich nicht fehlen. Ich hatte gerade mein Studium beendet, mich von meinem Freund getrennt, einen festen Job angetreten, wohnte in einer WG und war optimistisch, fröhlich, frei. Als ich nach draußen ging, um frische Luft zu schnappen, sah ich, dass meine Mutter mir auf die Mailbox gesprochen hatte. Ich solle sie dringend zurückrufen.

Hätte ich gewusst, dass dies die letzten Worte sein würden, die ich von ihr hören sollte, ich wäre auf der Stelle zu ihr gefahren.

In den nächsten Tagen erreichte ich sie nicht. Das konnte schon mal vorkommen. Ich war in München und als Journalistin viel unterwegs; meine Mutter wohnte am Niederrhein und war Kommunalpolitikerin. Und zwar eine der engagierten Art. Fast ein Vierteljahrhundert setzte sie sich schon für Arme, Obdachlose, Tiere und die Umwelt ein. Immer stand sie auf der Seite der Schwachen. Es war ihr eine Selbstverständlichkeit, ihre Stärke für andere einzusetzen. Dementsprechend viel hatte sie zu tun.

Auch sie machte die Nächte durch, aber anders als ich. Sie schrieb in der Zeit Reden für den Stadtrat, Konzepte für Petitionen oder Strategien für den Wahlkampf. Jahrzehntelang war sie Fraktionsvorsitzende der Grünen in ihrer Stadt, eine Frau der ersten Stunde. Als Deutschland unter Außenminister Joschka Fischer erstmals wieder in den Krieg zog, trat meine Mutter aus Protest aus der Partei aus – und gründete ihre eigene. Mit der sie gleich wieder in den Stadtrat einzog.

Sie war unermüdlich, doch niemals fanatisch oder pedantisch. Bei uns wurde Fleisch gegessen, aber selten. Die Umwelt geschützt, aber mit gesundem Augenmaß. Meine Mutter war ein Genussmensch, lebenslustig, engagiert und mutig. Mit einer starken Mutter aufgewachsen, die die Familie ernährte, hatte sie als Kind viele Freiheiten genossen und war ein echtes Kölsches Mädchen: gesellig und mit viel Humor.

Ihr Lebensmotto war ein Zitat von Erich Kästner: »Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.« Dicht gefolgt von Don Bosco: »Gutes tun, fröhlich sein und die Spatzen pfeifen lassen.« Diese Mischung aus Engagement und Gelassenheit erscheint mir heute eher selten.

Mit ihrem ganz eigenen Kopf und ihren Vorstellungen von einer friedlicheren, toleranteren, bunteren Welt hatte meine Mutter am tiefschwarzen Niederrhein aber erheblich zu kämpfen. Zumal als Frau. Themen, über die heute die halbe Welt spricht, waren damals erst noch mühevoll zu platzieren: Umweltschutz, Mitbestimmung, Frauenrechte, Hilfe für Flüchtlinge, die damals noch Asylbewerber genannt wurden, Anti-Atomkraft, Abrüstung. Sogar ich als Kind bemerkte den starken Widerstand. Schulkameraden nannten meine Mutter »Hexe« und fragten mich, warum wir denn Haus und Auto hätten, wenn wir doch Kommunisten seien.

Heute wünscht sich jeder zweite Deutsche einen grünen Kanzlerkandidaten, damals war das noch ein Traum meiner Mutter: Als Bürgermeisterkandidatin kämpfte sie auf verlorenem Posten, aber mit so viel Herzblut, dass sie die gesamte Bandbreite des Drucks, den wir von der großen politischen Bühne kennen, im Kleinen zu spüren bekam. Oft achtete sie bei so viel Gegenwind zu wenig auf sich selbst. Das blieb nicht ohne Folgen.

Während eines Wahlkampfs besuchte ich sie am Stand, sie war im Gesicht ganz grau. Ich konnte sie gerade noch zum Krankenhaus fahren, wo auf der Intensivstation Vorhofflimmern festgestellt wurde. Trotz ihres desolaten Zustands ließ sie es sich auf dem Weg dorthin nicht nehmen, dem Stadtdirektor noch aus dem Auto zuzuwinken – huldvoll wie die Queen. Um sich ja keine Schwäche anmerken zu lassen.

Das war nun ein paar Jahre her, und in dieser Zeit hatte sie Blutverdünner nehmen müssen, um keinen Schlaganfall zu erleiden. Eigentlich hatte sie deshalb kürzertreten wollen, doch ihre politischen Weggefährten hatten sie zu einer letzten Kandidatur überredet.

Jetzt, nach ihrem Anruf, trieb mich ein ungutes Bauchgefühl um. Es wurde von Tag zu Tag stärker. Auch mein Bruder hatte schon Freunde und Bekannte gebeten, nach ihr zu sehen. Wir lebten beide viele Hundert Kilometer entfernt und waren auf das Urteil des Umfelds angewiesen. Doch alle beteuerten, es gehe ihr gut. Sie sitze im Sessel und schaue fern. Heute kann ich mir das nur so erklären, dass meine Mutter noch verhältnismäßig fit gewirkt haben muss und vielleicht keine Hilfe annehmen wollte. Vielleicht hat es aber auch einfach keiner für nötig gehalten, genauer hinzuschauen, weil niemand glaubte, dass ihr wirklich etwas Schlimmes passiert sei.

Jedenfalls hielt ich das quälende Gefühl bald nicht mehr aus. Als mich schließlich meine Kollegen in der Redaktion bestärkten, zu Hause nach dem Rechten zu sehen, weil ich ein einziges Nervenbündel sei, setzte ich mich noch am selben Tag in den Flieger.

Vor dem Abflug erreichte ich meine Mutter endlich telefonisch, aber sie war kaum zu verstehen. Dann legte sie einfach auf. Ich betete, dass sie mich noch ins Haus lassen könnte. Während des Fluges zitterte und weinte ich vor Angst. Was, wenn ich zu spät käme?

Als ich eintraf, war ihre Wohnung verschlossen. Erst nach langem Bitten hörte ich, wie meine Mutter langsam an die Tür kam. Ihr Mundwinkel hing herunter, genau wie der rechte Arm. Die ganze Körperhälfte wirkte schwach. Sie konnte schon jetzt nicht mehr sprechen. Jedenfalls nicht richtig. Ihre Sätze endeten im Nichts. Dass sie einen Schlaganfall erlitten hatte, war offensichtlich. Sie musste sofort ins Krankenhaus. Doch sie weigerte sich vehement.

Ich rief ein Taxi und lotste sie unter viel gutem Zureden hinein. Als der Taxifahrer das Fahrtziel lautstark wiederholte, wollte sie prompt aussteigen. Und als wir endlich in der Notaufnahme standen, wollte die Ärztin uns wieder nach Hause schicken.

Ich wusste schon, dass das Krankenhaus, in dem wir gelandet waren, nicht gerade Modellcharakter hatte. Eine Kollegin meines Vaters hatte dreißig Jahre zuvor in ihren Personalausweis eintragen lassen: »Im Notfall NICHT in dieses Krankenhaus!« Auch meine Mutter war extra in die Nachbarstadt gefahren, um mich dort zur Welt zu bringen, genau wie die Mutter meiner besten Freundin. Sein schlechter Ruf eilte dem Haus voraus.

Im Taxi hatte ich noch überlegt, fünfzig Kilometer weiter in die nächste Klinik zu fahren, mich dann aber dagegen entschieden. Wenn es ein Schlaganfall war, kam es auf eine schnelle Behandlung an. Und hier gab es sogar eine Stroke Unit, eine Station extra für Schlaganfälle.

Hätte ich gewusst, was uns erwartet, wäre ich mit meiner Mutter ganz weit weggefahren.

Die Ärztin in der Notaufnahme sah sich die Arme und Beine meiner Mutter an, deren Reflexe offenbar noch funktionierten, und bat sie, die Zunge herauszustrecken. Als sie das nicht konnte, befand sie, meine Mutter würde wohl nicht kooperieren wollen, und wir sollten doch bitte nach Hause gehen, anstatt ihre Zeit zu stehlen.

Kaum dass ich etwas darauf antworten konnte, standen wir auch schon wieder auf dem Flur. Ich frage mich bis heute, wieso die Frau dachte, wir wären zum Spaß da. Meine Mutter machte auf Außenstehende offenbar keinen besonders hilflosen Eindruck, sonst hätten ihre Freunde sie ja schon ins Krankenhaus gebracht. Aber zumindest Ärzte sollten die Anzeichen eines Schlaganfalles doch erkennen, hatte ich gedacht.

Vor Sorge war ich am Rande meiner Kräfte, aber irgendwie schaffte ich es, meine Mutter wieder in das Untersuchungszimmer zu bugsieren und die Ärztin aufzufordern, sie eingehend zu untersuchen.

»Fragen Sie sie doch mal etwas!«, bat ich inständig. Seufzend ließ sich die Ärztin zu einem »Welchen Tag haben wir heute?« herab. Erst dann wurde sie endlich aufmerksam: Meine Mutter faselte unverständliches Zeug.

Immer noch widerwillig, schickte sie uns auf den Flur vor der Stroke Unit. Endlich bekommen wir Hilfe, dachte ich. Doch ich hatte mich getäuscht.

Wir warteten vier Stunden auf ein Bett. Der Schlaganfall lag wohl schon ein paar Tage zurück, und die Chance auf eine Akutbehandlung war dadurch sowieso verstrichen. Dennoch ist die Gefahr groß, in den Folgetagen einen weiteren Schlaganfall zu erleiden, der dann tödlich enden kann. Das wissen auch Ärzte und Pfleger. Dennoch wurde meine Mutter erst mal nicht behandelt, und wir wurden ewig auf dem Flur sitzen gelassen.

Als sie endlich als Patientin aufgenommen wurde, war es spätabends, Ärzte waren nicht zu sehen, und es war nur noch...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte eBooks • Elternpflege • Gesundheit • Gesundheitsreform • Häusliche Pflege • Krankenpflege • Leben und Tod • Liebe • Medizin • Patient • Pflege Angehörige • Pflegenotstand • Pfleger • Pflegereform
ISBN-10 3-641-24585-0 / 3641245850
ISBN-13 978-3-641-24585-6 / 9783641245856
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