Wir Untertanen (eBook)

Wie wir unsere Freiheit aufgeben, ohne es zu merken
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
160 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00272-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wir Untertanen -  Nikolaus Piper
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Emanzipation oder neues Untertanentum? - so lautet die politische Kernfrage der Gegenwart. Wie soll es weitergehen mit der EU, dem Nationalstaat, der Globalisierung - mit uns? Sind Trump, Brexit und Unternehmen wie Apple Ausdruck einer neuen Art von Freiheit? Oder hat die Freiheit, als neo-liberales Politprojekt, alle Formen von Gemeinschaft so zugrunde gerichtet, dass wir in Wahrheit längst anders unfrei sind - Opfer unserer Daten und ökonomischen Abhängigkeit? Der langjährige Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung Nikolaus Piper liefert ein Plädoyer für die Freiheit, das der Lage der Gegenwart Rechnung trägt. Pipers Buch ist ein Zwischenruf in die aktuelle Debatte und er lautet: Jeder Einzelne braucht mehr, nicht weniger Freiheit.

Nikolaus Piper, geboren 1952 in Hamburg, war langjähriger Wirtschaftsredakteur und USA-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Seit seiner Pensionierung schreibt er nach wie vor regelmäßig die Wirtschaftskolumne «Pipers Welt» für die SZ. 2001 gewann er den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik, 2003 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine «Geschichte der Wirtschaft». Sein Buch über die Große Rezession in Amerika (Hanser) wurde 2009 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet.

Nikolaus Piper, geboren 1952 in Hamburg, war langjähriger Wirtschaftsredakteur und USA-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung. Seit seiner Pensionierung schreibt er nach wie vor regelmäßig die Wirtschaftskolumne «Pipers Welt» für die SZ. 2001 gewann er den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik, 2003 erhielt er den Deutschen Jugendliteraturpreis für seine «Geschichte der Wirtschaft». Sein Buch über die Große Rezession in Amerika (Hanser) wurde 2009 mit dem Deutschen Wirtschaftsbuchpreis ausgezeichnet.

Einleitung Brot und Freiheit


Am 10. Mai 1953 hielt der Schriftsteller Albert Camus in der Industriestadt St. Denis, einer Hochburg der Kommunistischen Partei Frankreichs, eine historische Rede mit dem Titel Brot und Freiheit. Camus war damals schon berühmt wegen seiner Romane Der Fremde und Die Pest und auch wegen seiner Beteiligung am Widerstand gegen die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg. Bei seiner Ansprache in der Bourse de Travail, einer Art Selbsthilfeorganisation der Gewerkschaften, ging es ihm vor einem dezidiert linken Publikum und mitten im Kalten Krieg darum, was wichtiger ist – der Kampf für Gerechtigkeit oder der für die Freiheit. Weite Teile der französischen Linken seiner Zeit hatten sich entschieden. Sie kämpften für höhere Löhne und Arbeiterrechte in Frankreich, hatten aber keinerlei Probleme mit der totalitären Sowjetunion und der ihr treu ergebenen Kommunistischen Partei. Camus versuchte seine Zuhörer davon zu überzeugen, dass dies ein fundamentaler Irrtum sei. «Denn selbst wenn die Gesellschaft sich mit einem Schlag verwandeln und jedermann anständige, behagliche Lebensbedingungen bieten sollte, aber der Freiheit mangelte, wäre sie noch immer eine Barbarei.» In Westeuropa stehe die Freiheit offiziell hoch im Kurs, sagte Camus, doch sie erinnere ihn «unwillkürlich an jene arme Verwandte, der wir in gewissen bürgerlichen Familien begegnen. Die Verwandte ist verwitwet, sie hat ihren naturgegebenen Beschützer verloren, also hat man sie aufgenommen, ihr ein Dachstübchen zugewiesen und ihr Zutritt zur Küche gewährt. Zuweilen zeigt man sie sonntags in Gesellschaft vor, um zu beweisen, dass man der Tugendhaftigkeit nicht entbehrt und kein Unmensch ist.» Ernst genommen werde die Freiheit in Wahrheit nicht.

Die Welt ist heute eine andere als zu Camus’ Zeiten. Westeuropa ist eine Insel des Wohlstands und der Freiheit. Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, und der Kalte Krieg ging zu Ende. Den sowjetischen Kommunismus, mit dem sich der Schriftsteller und die Gewerkschafter in St. Denis auseinandersetzen mussten, gibt es nicht mehr. Die Spaltung Europas ist überwunden, auf dem einst von Kriegen zerstörten Kontinent gibt es eine Union freier Staaten, von denen die meisten durch eine gemeinsame Währung verbunden sind und zwischen denen es keine Schlagbäume mehr gibt. Camus’ Problem von Freiheit und Gerechtigkeit ist, könnte man meinen, in Europa gelöst. Ganz im Sinne des amerikanischen Politologen Francis Fukuyama, der 1992 das «Ende der Geschichte» gekommen sah, weil sich die Kombination von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft als nicht schlagbares Modell für die ganze Welt erwiesen hatte. Die Freiheit hatte gesiegt. Werte wie Selbstbestimmung der Menschen, Begrenzung des Staates, freie Märkte und internationale Zusammenarbeit sollten nicht mehr bestritten werden.

Aber das Gegenteil ist eingetreten. Zwar hat die Welt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs tatsächlich eine liberale Phase durchlebt. Doch dieser Liberalismus ist – unter dem Namen «Neoliberalismus» – für viele zum Feind geworden. Die Globalisierungswelle, also der sprunghafte gestiegene Austausch von Waren, Kapital und Menschen, verunsichert die Gesellschaften zutiefst. Sie hat Wohlstand geschaffen, wie es die liberale Handelstheorie voraussagt, aber dieser Wohlstand kam nicht bei allen Menschen an. Die Globalisierung ist zwar technisch und ökonomisch getrieben, sie wurde aber ermöglicht durch den Abbau von Handelsschranken, ganz im liberalen Sinne. Die Reaktion auf die Globalisierung sind ein immer aggressiver werdender Antiliberalismus und der Kult des alten Nationalstaats. Der Aufstieg der Volksrepublik China zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt scheint zu beweisen, dass wirtschaftlicher Erfolg auch in einer Diktatur ohne jede liberale Anwandlung möglich ist. Im Jahr 2018 hat der israelische Autor Yoram Hazony plötzlich Erfolg mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für einen neuen Nationalismus. In den Vereinigten Staaten hat mit der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten dieser neue, antiliberale Nationalismus 2016 begonnen: America First. Russland wird nach einer kurzen und chaotischen Phase zu Beginn der 1990er Jahre unter Wladimir Putin immer autokratischer nach innen und aggressiver nach außen. In Deutschland, das von der liberalen Globalisierung profitiert hat wie kaum ein anderes Land, breitet sich das Gefühl aus, dass alles immer ungerechter wird. Camus’ Frage nach Freiheit und Gerechtigkeit stellt sich plötzlich neu. Wie viel Freiheit und Bürgerrechte sind wir bereit zu opfern, um die Globalisierung zurückzudrängen und Einwanderer von unseren Grenzen fernzuhalten?

Die Welt ist ein gefährlicher Ort geworden, auch die der reichen Industrieländer. Alles verändert sich mit rasendem Tempo. Vieles Vertraute verschwindet, vieles Neue ist den Menschen unheimlich. Sie erleben die Kräfte von Globalisierung, Digitalisierung und Migration als Kontroll- und Heimatverlust. Als Schuldige an diesem Verlust gelten dabei jene, die den Wandel beherrschen oder zu beherrschen scheinen, die viele Sprachen sprechen und um den Globus jetten – Politiker, Manager, Zentralbankpräsidenten, Intellektuelle –, Leute, die als «liberale Elite» wahrgenommen werden. Auch internationale Institutionen gelten dem antiliberalen Zeitgeist als Feinde, paradoxerweise gerade solche, die einst gegründet wurden, um über den freien Märkten zu stehen: der Internationale Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WTO) und vor allem die Europäische Union. Der Brexit, der Austritt des Vereinigten Königreichs, ist das antiliberale Projekt schlechthin in Europa. In Frankreich hat das Misstrauen gegen den Staat bedrohliche Ausmaße angenommen. Die Bewegung der Gilets Jaunes («Gelbwesten») richtet sich gegen die empfundene Abgehobenheit von Präsident Emmanuel Macron, aber auch gegen Reformen per se. In fast allen Industriestaaten gewinnt nicht nur der Rechtspopulismus an Boden, sondern auch eine militante, xenophobe und oft gewaltbereite Rechte. Unvorstellbar schien bis vor kurzem, dass in Frankreich und zunehmend auch in Deutschland Antisemitismus wieder zum Problem wird.

In Ungarn und Polen, zwei Ländern, die eigentlich eine lange, leidvolle Geschichte von Unfreiheit und Unterdrückung teilen, sind zwei Grundpfeiler jedes freiheitlichen Staates, die Unabhängigkeit der Justiz und die Pressefreiheit, unmittelbar bedroht. Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán war der Erste, der den Antiliberalismus explizit zu seinem Programm machte. In einer Rede am 26. Juli 2014 im siebenbürgischen Băile Tușnad (Bad Tuschnad) gab er die Parole aus, «dass eine Demokratie nicht notwendigerweise liberal sein muss». Die liberale Demokratie – also Rechtsstaatlichkeit, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Marktwirtschaft – galt bis vor kurzem in Europa als garantiert. Nun konstruierte, mitten in der EU, ein regierender Politiker in aller Form einen Gegensatz zwischen Freiheit und Demokratie. Orbáns «illiberale Demokratie» ist mittlerweile ein akzeptiertes Modell in Mittel- und Osteuropa. Gleichzeitig war Orbáns rechts durchwirkte Fidesz-Partei 2018 noch immer Mitglied der Europäischen Volkspartei, in der konservative Parteien aus ganz Europa zusammenarbeiten, darunter auch CDU und CSU. Steve Bannon, rechter Publizist und zeitweiliger ideologischer Berater des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, bezeichnete Orbán durchaus zutreffend als «Trump before Trump», also als dessen Vorläufer. Seit Trumps Amtsantritt wachsen ohnehin die Zweifel, ob es «den Westen» als Wertegemeinschaft und Verteidiger der Freiheit überhaupt noch gibt. Der Präsident und seine intellektuellen Unterstützer auf der Rechten haben jedenfalls Abschied genommen von der Idee einer westlichen Weltordnung unter amerikanischem Schutz. Ihr Feind sind die liberals, was im amerikanischen Sprachgebrauch immer die Konnotation von «linksliberal», «sozialdemokratisch» oder «progressiv» hat.

Im Deutschen Bundestag sitzt die rechtspopulistische Alternative für Deutschland als stärkste Oppositionspartei. Dabei muss man genau hinsehen. Im Bundestag und im Westen tritt die AfD meist als zwar rechtskonservative, aber noch bürgerliche Protestpartei auf. In Ostdeutschland ist das anders. Dort sind die Grenzen zum offenen Rechtsextremismus fließend. Bei den Landtagswahlen des Jahres 2019 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen will sie Wähler gewinnen mit einem national-sozialen Programm unter dem Motto: Mehr Sozialstaat – aber nur für Deutsche. Es ist das klassische antiliberale Programm: Nicht auf den Einzelnen kommt es an, sondern auf das Kollektiv, am liebsten ein völkisch definiertes.

Zur Geschichte gehört aber auch, und das wird leicht vergessen, dass dem antiliberalen Angriff von rechts Jahrzehnte vorausgegangen sind, in denen auf der Linken und bis hinein in die Mitte der Gesellschaft das antiliberale Ressentiment gepflegt wurde – im Namen des Kampfes gegen das, was man als «Neoliberalismus» bezeichnet. Neoliberal stand und steht für alles, was schlecht ist auf dieser Welt, für Ungleichheit, für die Ausbeutung der Entwicklungsländer, für Konkurrenzdruck und «soziale Kälte». Die Feuilletons dieser Republik sind sich darin einig, dass Neoliberalismus die Ökonomisierung aller Lebensbereiche bedeute, dass er die Demokratie zerstöre, dass er eine unmenschliche und irreführende Ideologie» sei, die «entlarvt» werden...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2019
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufklärung • Demokratie • Digitalisierung • Freiheit • Gesellschaft • Globalisierung • Individualität • Liberalismus • Neoliberalismus • Politik • Staat • Steuern • Wirtschaft
ISBN-10 3-644-00272-X / 364400272X
ISBN-13 978-3-644-00272-2 / 9783644002722
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