Von Mitterrand zu Macron (eBook)
180 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75988-2 (ISBN)
Mit den Wahlen 2017 implodierte das Parteiensystem der V. Republik: Gaullisten und Sozialisten mussten dramatische Verluste hinnehmen, dafür bestimmten Le Pen, Mélenchon und Macron mit seiner Bewegung »En Marche!« die Szenerie. Für die Autoren ist dafür auch die »Regierungslinke« verantwortlich: Nach dem Scheitern der ambitionierten Reformen zu Beginn der Präsidentschaft Mitterrands hätten die Sozialisten ihre traditionelle Wählerschaft vernachlässigt und sich in der Hoffnung, man könne in der Mitte einen neuen, »bürgerlichen Block« schmieden, einer neoliberalen Politik verschrieben. Während Macron mit den verbliebenen »Modernisten« regiert, werden »souveränistische« Gegenstimmen immer lauter. Eine brillante Analyse, die auch die Umbrüche in der hiesigen Parteienlandschaft in ein neues Licht rückt.
<p>Bruno Amable, geboren 1961, ist Professor für Ökonomie an der Universität Genf.</p>
Bruno Amable, geboren 1961, ist Professor für Ökonomie an der Universität Genf. Stefano Palombarini, geboren 1966, lehrt Ökonomie an der Université Paris VIII.
20Einleitung
Die französische Politik befindet sich im Umbruch. Zu Beginn des Präsidentschaftswahlkampfs 2017 erzielten unabhängige Kandidaten — Emmanuel Macron, Jean-Luc Mélenchon — wie auch eine Partei, die als »gegen das System gerichtet« gilt, der Front National, in Umfragen beträchtliche Stimmenanteile. Die politischen Parteien, die in der 5. Republik Regierungsverantwortung übernommen haben, sind eindeutig geschwächt, während der scheidende Präsident François Hollande darauf verzichtete, sich um eine zweite Amtszeit zu bewerben. Diese Fragmentierung des politischen Spektrums geht mit einer Vervielfachung der Themen einher, bei denen die Programme der Präsidentschaftskandidaten unterschiedliche Positionen vertreten. Die Beteiligung am Aufbau Europas, die Einbindung in die Weltwirtschaft, das Arbeitsrecht, die soziale Absicherung, die Finanzierung der Renten — das alles sind Bereiche, in denen die früheren Kompromisse infrage gestellt werden und die Zukunftspläne divergieren.
Der politische Konflikt bezieht sich nicht mehr nur auf die »üblichen« Instrumente der Wirtschaftspolitik — Staatsausgaben, Steuern, Höhe des Mindestlohns usw. —, sondern unmittelbar auf die Institutionen, die den französischen Kapitalismus strukturieren: Manche Strategien möchten deren Besonderheiten verteidigen, andere wollen sie radikal nach neoliberalen Prinzipien umgestalten. Daher hängen die politische Krise und der Konflikt über die Institutionen zusammen, und zwar in zweierlei Hinsicht: Das Bestreben, den französischen Kapitalismus an neoliberalen Regeln auszurichten, das in den vergangenen dreißig Jahren vornehmlich 21von der Sozialistischen Partei getragen wurde, ist eine der Ursachen der politischen Krise; und diese politische Krise, also das Zerbrechen alter gesellschaftlicher Allianzen, veranlasst die politischen Entscheidungsträger, auf bestimmte institutionelle Veränderungen zu setzen, um die Entstehung gänzlich neuer Bündnisse zu erleichtern.
Zu Beginn der achtziger Jahre ließ sich die politische Konfrontation als Gegensatz zwischen zwei relativ klar konturierten gesellschaftlichen Blöcken zusammenfassen, die einen Großteil der französischen Gesellschaft repräsentierten. Der linke Block umfasste die Mehrzahl der gering qualifizierten Lohnempfänger und Beschäftigten im öffentlichen Dienst; der rechte Block stützte sich auf intermediäre Berufe4 und Führungskräfte der Privatwirtschaft, Selbständige und Landwirte. Die politische Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre fällt zeitlich mit dem fortschreitenden Zerfall dieser beiden gesellschaftlichen Allianzen zusammen. Zur Erinnerung: Die Kandidaten des linken (François Mitterrand und Georges Marchais) und des rechten Blocks (Valéry Giscard d'Estaing und Jacques Chirac) vereinigten beim ersten Durchgang der Präsidentschaftswahlen 1981 ganze 87,5 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich; rechnet man den Kandidaten der Umweltschutzpartei hinzu, so kommt man auf 91 Prozent der Stimmen. Bis zu den Präsidentschaftswahlen 2017 war ihr Anteil auf vierzig Prozent gefallen.5
22Es wäre falsch anzunehmen, in Frankreich fände ein plötzlicher Umbruch der politischen Landschaft statt: Vielmehr erleben wir gerade die Endphase einer langen Dynamik, die vor über dreißig Jahren begonnen hat. Bereits 2002 signalisierte die Tatsache, dass Präsidentschaftskandidat Jean-Marie Le Pen es in die Stichwahl schaffte, eine erhebliche politische Krise. Lediglich eine äußerst oberflächliche Analyse der damaligen politischen Lage erlaubte es, die Zersplitterung der Linken durch mehrere Bewerber ihres Lagers als Hauptursache für das Ausscheiden des sozialistischen Kandidaten im ersten Wahlgang auszumachen, obwohl die »Regierungsparteien« — der Rechten, der Mitte und der Linken zusammen — nicht mehr als sechzig Prozent der Stimmen erzielten. Das Referendum über die Europäische Verfassung im Jahr 2005, dessen Ausgang im Gegensatz zum angeblichen Abstimmungsverhalten der überwiegenden Mehrheit der gewählten Volksvertreter stand, ist ein weiterer Beleg, dass die beträchtliche Kluft zwischen den von der französischen Gesellschaft bekundeten Erwartungen und ihrer politischen Vertretung bereits seit Langem besteht.
Der ungewohnte Kontext der Präsidentschaftswahl 2017, die sich der typischen Bipolarität der 5. Republik entzieht, ist daher als Ergebnis einer politischen Krise zu sehen. Sie ist gekennzeichnet vom Fehlen eines herrschenden gesellschaftlichen Blocks, also eines Ensembles gesellschaftlicher Gruppen, deren Erwartungen von der Politik der Regierungskoalition so hinlänglich befriedigt werden, dass sie ihr ihre politische Unterstützung gewähren. Um der Dynamik, die zur gegenwärtigen Situation geführt hat, gerecht zu werden, analysiert das vorliegende Buch daher die gesellschaftliche 23Basis der Koalitionen, die nacheinander an die Macht gekommen sind, und untersucht die Spannungen, denen sie infolge ihrer Politik ausgesetzt waren: Dabei stellen wir die Widersprüche heraus, die den rechten Block untergraben, sowie die Faktoren, die zum praktischen Zerfall des linken Blocks geführt haben.
Die französische Rechte ist seit dem Ende der Trente Glorieuses (der dreißig Jahre wirtschaftlichen Aufschwungs von 1945 bis 1975) und der nachfolgenden Verlangsamung des Wirtschaftswachstums geschwächt und gespalten. Seit den achtziger Jahren fühlt sich ein Teil der rechten Wählerschaft — vor allem Handwerker, Kaufleute, Kleinunternehmer und höhere Führungskräfte der Privatwirtschaft — durch die Erfahrungen unter der Regierung Margaret Thatchers in Großbritannien und Ronald Reagans in den Vereinigten Staaten in ihren Erwartungen bestärkt. Diese Gruppen sehen den einzigen Weg, die Wirtschaft anzukurbeln, in einer radikalen neoliberalen Reform, die sie vor allem mit Steuersenkungen gleichsetzen. Ein Teil der Lohnabhängigen in der gesellschaftlichen Basis der Rechten steht einer solchen Strategie jedoch aus offensichtlichen Gründen grundsätzlich feindselig gegenüber und favorisiert die Bewahrung gewisser französischer Besonderheiten, vor allem im Bereich des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes. Bislang hat die französische Rechte noch keinen Weg gefunden, zwischen den widersprüchlichen Forderungen ihrer Basis wirklich zu vermitteln: Sie schwankt ständig zwischen der Versuchung, sich den härtesten neoliberalen Positionen anzuschließen, und dem mehr oder weniger von einer gewissen gaullistischen Tradition beseelten erklärten Willen, die »soziale Spaltung« zu bekämpfen.
Das Auseinanderbrechen des linken Blocks ist dagegen das Endergebnis einer ideologischen und politischen Konfrontation, die sich mindestens seit ihrer Gründung durch 24die Sozialistische Partei zieht. Das von Mitterrand in den siebziger Jahren begründete gesellschaftliche Bündnis, in dem die Arbeiterklasse entscheidendes Gewicht besaß, konnte nach Ansicht der »zweiten Linken« nicht die Basis für eine politische »Modernisierung« der französischen Gesellschaft bilden. Die vorübergehend in der Partei besiegten Strömungen von Michel Rocard und Jacques Delors — Erben einer »modernistischen« Tradition, mit der es sich eingehender zu beschäftigen gilt — markieren indes insofern einen entscheidenden Wendepunkt, als sie den Aufbau der Europäischen Union um jeden Preis als unverhandelbaren Punkt des sozialistischen Programms festgeschrieben haben: Die Unvereinbarkeit des europäischen Einigungsprozesses mit der bedingungslosen Verteidigung des französischen Sozialmodells hat die Sozialistische Partei in ihrer »reformistischen« Wende bestärkt, die sie in den achtziger Jahren vollzogen und seither nie infrage gestellt hat.
Der linke Block ist also zumindest dem Anschein nach an der europäischen Integration zerbrochen: Seine bestsituierte Fraktion unterstützte fortwährend einen Prozess, den die einfachen Schichten dieser Allianz zunehmend als Träger neoliberaler Reformen ablehnten. Die Tiefe dieser Kluft zeigt sich an der Heftigkeit, mit der gewisse Strategien einen Teil des alten Blocks zu disqualifizieren versuchten, um die Unterstützung der Übrigen zu gewinnen. Die als selbstbezogen und fremdenfeindlich verschriene Arbeiterklasse, die angeblich nur auf die Verteidigung erworbener Vergünstigungen bedacht ist, wurde zum Opfer einer veritablen Delegitimierungskampagne, teils inszeniert von Intellektuellen, die für sich beanspruchten, links zu sein. (Mit diesem Thema befasst...
Erscheint lt. Verlag | 12.11.2018 |
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Übersetzer | Ulrike Bischoff |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | edition suhrkamp 2727 • ES 2727 • ES2727 • Europa • Frankreich • L'illusion du bloc bourgeois. Alliances sociales et avenir du modèle français deutsch • Linke • Macron |
ISBN-10 | 3-518-75988-4 / 3518759884 |
ISBN-13 | 978-3-518-75988-2 / 9783518759882 |
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