Das Ende der Evolution (eBook)
1072 Seiten
C. Bertelsmann (Verlag)
978-3-641-18339-4 (ISBN)
Der Klimawandel ist endlich in aller Munde. Doch so alarmierende Ausmaße er auch angenommen hat - er ist nur Nebenschauplatz angesichts der apokalyptischen Reiter, die in einem Akt der Verwüstung gegenwärtig über die Erde ziehen: Bevölkerungsexplosion, Ressourcenverknappung, Umweltzerstörung und Artensterben.
In seiner ebenso umfassenden wie beklemmenden Analyse sieht der renommierte Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht mit dem sich abzeichnenden Massenexitus, dem größten Artenschwund seit dem Aussterben der Dinosaurier, eine weltweite biologische Tragödie auf uns zukommen. Der Mensch ist heute so zum größten Raubtier und zum entscheidenden Evolutionsfaktor mutiert, der die Existenz aller Lebewesen - auch seine eigene - gefährdet.
Ob das Ende der Evolution, das spätestens ab Mitte des 21. Jahrhunderts ein realistisches Szenario zu werden droht, noch aufzuhalten sein wird, darüber wird allein unser Tun in den unmittelbar vor uns liegenden Jahrzehnten entscheiden.
Der Evolutionsbiologe und Biosystematiker Matthias Glaubrecht, Jahrgang 1962, ist Professor für Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und wissenschaftlicher Leiter des Projekts Neues Naturkundemuseum Hamburg (Evolutioneum) am Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels. Er war zuvor Gründungsdirektor des ehemaligen Centrums für Naturkunde der Universität Hamburg und Leiter der Abteilung Forschung am Museum für Naturkunde Berlin. Glaubrecht schreibt regelmäßig für Zeitungen und Zeitschriften wie »Die Zeit«, »Die Welt« und »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, war an TV-Produktionen beteiligt und hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter »Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten« (2019). Für seine Arbeit wurde er 1996 mit dem Werner und Inge Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung ausgezeichnet, 2023 erhielt er den renommierten Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa.
Earthrise
An Heiligabend des Jahres 1968 macht der Astronaut William Anders in der Raumkapsel der Apollo-8-Mission in 780 Kilometer Höhe über dem Mond eine glückliche, wenngleich zufällige und im Flugprogramm keineswegs vorgesehene Entdeckung. Bereits dreimal während des ersten bemannten Fluges zum Mond hat die Apollo-Kapsel den Erdtrabanten umkreist. Um Fotos von seiner Oberfläche zu machen, ist die Spitze des Raumschiffs stets zu ihr ausgerichtet. Als die Astronauten dann die Apollo-Kapsel um ihre Längsachse rotieren lassen, sehen sie plötzlich im Seitenfenster, wie die Erde als kleine, blaue Kugel, noch halb im Schatten liegend, knapp über dem Horizont des grauen Mondes auftaucht. William Anders nimmt eine Hasselblad-Kamera und macht eine historische Aufnahme.
»Earthrise«, so der Titel des legendären NASA-Bilds, der Aufgang der Erde vom Mond aus gesehen, ist die vielleicht einflussreichste Umweltfotographie, die jemals gemacht wurde. Von der US-Raumfahrtbehörde unter der profanen Nummer »AS08-14-2383« veröffentlicht, hat sie erstmals die Sicht der Menschheit auf ihren Heimatplaneten verändert. Die Erde mit ihren Ozeanen wirkt wie eine blaue Murmel; unter den weißen Wolkenwirbeln sind die Kontinente kaum zu erkennen. Wie sie da im schwarzen Weltall über der Oberfläche des Mondes schwebt, wird das Foto zum Symbol für die Isolation der Erde und zugleich ihrer Fragilität. »Wir flogen hin, um den Mond zu entdecken. Aber was wir wirklich entdeckt haben, ist die Erde«, wird William Anders später in einem Interview sagen.2
Nachfolgende Raumfahrtmissionen liefern weitere Bilder ganz ähnlicher Art. Das bekannteste ist »Blue Marble«, von dem Geologen Harrison Schmitt während des Fluges von Apollo 17 zum Mond im Dezember 1972 aus einer Entfernung von 45 000 Kilometern aufgenommen und offiziell unter der Nummer »AS17-148-22727« geführt. Von der zu dieser Zeit aufkommenden Umweltschutzbewegung auf Postern, Fahnen und T-Shirts populär gemacht, zeigt es vor dem weiten Schwarz des Weltalls den scheinbar strahlenden, von der Sonne voll erleuchteten Erdball. Diesmal sieht man, aus leicht auf die Südhalbkugel gekippter Perspektive, von Ozeanen umgeben die Umrisse des afrikanischen Kontinents samt Arabischer Halbinsel; am nordöstlichen Horizont das asiatische Festland, die Insel Madagaskar im Bildmittelpunkt und darunter der unter Wolkenwirbeln verschwindende Südpol. Die Erde als blaue Murmel auf schwarzem Samt – ein gleichsam zeitloser Anblick.
Als Kreis in einem Quadrat gedeutet, transportiert dieses Bild unserer Welt für einige Kunsthistoriker eine bemerkenswerte Harmonie. Zugleich sehen sie darin eines der einflussreichsten Bilder der Geschichte, in jedem Fall eine »veritable Ikone des 20. Jahrhunderts«, und nehmen seine Aufnahme als welthistorisches Ereignis.3 Sie deuten die »blaue Murmel« als Weltbild und bringen eine Kaskade von Assoziationen ins Spiel, darunter die Globalisierung (obgleich doch nur eine Seite der Erde zu sehen ist) und das Fehlen alles Menschlichen, weil aus dieser Distanz Städte und Staatsgrenzen nicht mehr zu erkennen sind (aber zugleich den Umstand negierend, dass nur dank der Errungenschaften des Menschen diese Fotographie überhaupt aufgenommen wurde). Unmittelbar nachvollziehbar ist da eher der Eindruck jener Raumfahrer, denen sich dieser Anblick unserer Erde erstmals bot. »Die Welt lag ausgebreitet unter uns, doch wie verletzlich sah sie aus!«4
Neben dieser Verletzbarkeit versinnbildlicht der Anblick der Erde aus dem All zugleich die Einzigartigkeit unseres Planeten und konnte so Ausdruck eines neuen globalen Bewusstseins werden. Nicht zuletzt weisen »Earthrise« und »Blue Marble« bis heute die revolutionär neue Perspektive aus, bei der der Mensch nicht mehr zum Himmel hinaufschaut, sondern erstmals aus dem All herab. Beide Aufnahmen sind somit auch Sinnbilder einer noch zutiefst technikgläubigen Epoche, in der der Mensch erstmals und als einzige Spezies aus eigenem Antrieb die Grenzen der Erde überwunden hat. Die Apollo-17-Mission sollte bis heute der letzte bemannte Mondflug sein. Immerhin landeten US-Astronauten bis 1972 sechs Mal auf dem Mond; sie ließen die Landestufen ihrer Mondfähren und Mondautos zurück, brachten dafür Mondgestein zur Erde, von dem sich die Wissenschaft neue Erkenntnisse über Beschaffenheit und Entstehung des Mondes erhoffte.
Als »Blue Marble« werden bei der NASA seitdem auch mehrere Serien von zusammengesetzten Satellitenfotos bezeichnet, die aus ähnlicher Perspektive eine Gesamtansicht der Erde zeigen: inzwischen technisch bearbeitet, meist wolkenbereinigt und in höchster Auflösung zur freien öffentlichen Nutzung. Auch deren Faszination ist ungebrochen – vielleicht deshalb, weil immer mehr Menschen die Erde inzwischen so sehen wie William Anders, der unlängst sagte: »Hier sind wir, auf einem unbedeutenden Planeten, der um einen nicht besonders bedeutenden Stern herumfliegt, in einer Galaxie von Millionen Sternen, die nicht bedeutend ist, wo es doch Millionen und Abermillionen von Galaxien gibt im Universum – sind wir also so bedeutend? Ich glaube kaum.« 5
Glücksfall Erde
Was wir hier unten auf der Erde so leicht vergessen, was uns der Blick von oben aus dem Orbit aber bewusst macht: dass unser Planet in der Tat eine winzige lebensfreundliche Welt ist, die allein durch einen unendlichen lebensfeindlichen Kosmos treibt; und dass er – nicht nur in unserem Sonnensystem mit seinen acht Planeten –, soweit wir das wissen können, die einzig bewohnbare aller Welten ist.
Als dritter Körper aus Gestein und Metall ist die Erde zwischen den inneren terrestrischen Planeten Merkur, Venus und Mars sowie den äußeren gasförmigen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und weit draußen Neptun platziert. Zwar kann sich das heute jeder leicht mit seinem Tablet oder dem Smartphone in der Hand vor Augen führen, doch gerät gerade dadurch ebenso leicht die wichtigste Botschaft aus dem Blick: Unsere Erde ist ein einmaliger Glücksfall, nicht mehr als das zufällige Ergebnis einer kosmischen Fügung, aber auch nicht weniger. Denn allein unser wohlplatzierter und wohlproportionierter Planet hat den richtigen Abstand zur Sonne und kreist damit in jener lebensfreundlichen Zone, in der die Temperatur auf der Oberfläche gerade so groß ist, dass Wasser in flüssiger Form vorkommt. Nur die Erde ist nicht zu dicht an der Sonne und damit zu heiß, wie etwa Merkur und Venus; und nicht zu weit weg, wie etwa Mars oder Saturn, und damit zu kalt für organisches Leben. Ein kosmischer Glücksfall eben. Nur die Erde besitzt zudem eine Atmosphäre, die Wasser nicht sofort im Vakuum des offenen Weltraums verdampfen lässt und die aus Vulkanen produziertes Kohlendioxid zurückhält, wie in einem Treibhaus. Noch so ein Glücksfall. Deshalb gibt es Leben nur auf der Erde.
Die Oberfläche der beiden anderen inneren Gesteinsplaneten, Merkur und Venus, wird von der Sonne höllisch aufgeheizt, so dass alles Wasser verschwunden ist. Auf den äußeren Gasplaneten wie Jupiter und Saturn wäre Leben wohl nie entstanden, jedes Lebewesen würde auf ihrer Oberfläche versinken. Ihren Monden, soweit sie bisher erforscht sind, fehlt eine Atmosphäre. Auf ihnen ist jedes Wasser gefroren, sie sind komplett von kilometerdicken Eisschichten bedeckt, selbst wenn sich unter dem Eispanzer flüssige Salzwasserozeane von mehr als 100 Kilometern Dicke befinden.6 Bereits für unser Sonnensystem können wir also festhalten: Es ist kein wirklich lebensfreundlicher Lebensraum.
Anders ist es nur hier auf unserem Heimatplaneten. Erde, das ist eigentlich der falsche Name für diesen Ort im Weltall; immerhin besteht ihre Oberfläche wenigstens zu 70 Prozent aus Ozeanen und damit freiem Wasser. Mag für die Namensgebung die irdische Natur dieses festen kosmischen Körpers hinreichend Rechtfertigung sein (tatsächlich macht Wasser nur 0,1 Prozent der Erdmasse aus) – es sind diese obersten, wassergesättigten Schichten der Erde, die ihr ganzes Geheimnis bergen. Sie allein ermöglichen Leben, wie wir es kennen und das diesen Namen verdient. Das war während der Erdgeschichte durchaus nicht immer so. Nach allem, was wir wissen, fror die Erde wenigstens einmal sogar vollständig zu, und es ist einem weiteren geologischen Glücksfall (dem Zusammenspiel von Kohlenstoffdioxid ausstoßenden Vulkanen und der Sonneneinstrahlung) zu verdanken, dass unser blauer Planet nicht ewig als weißer Schneeball durchs All geistert.
Nimmt man einerseits die Unendlichkeit des Weltraums als Maßstab, sind wir praktisch wie faktisch allein im Universum. Nichts hat sich je weiter von der Erde entfernt als die beiden »Voyager«-Sonden der NASA, die vor über vierzig Jahren, im August und September 1977, gestartet wurden, um die vier äußeren Planeten unseres Sonnensystems – Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun – zu erkunden. Mittlerweile mit komplett veralteter Technik unterwegs (der Bordcomputer hat den Stand des ersten Apple-Rechners mit 64 Kilobyte Arbeitsspeicher), sind beide Sonden inzwischen taub, blind und stumm. Als irdische Flaschenpost rauschen sie – mit einer Datenplatte aus vergoldetem Kupfer als Botschaft an Außerirdische in Bild und Ton – durch den interstellaren Raum. Obgleich sie dabei jeden Tag 1,4 Millionen Kilometer zurücklegen, haben sie sich mit ihrem an sich rasanten Tempo von 60 000 Kilometer pro Stunde gerade einmal 17 bzw. 21 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt.7 Gewaltige Distanzen nach menschlichem Ermessen, und doch haben sie...
Erscheint lt. Verlag | 3.12.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Artensterben • Biologie • Dystopie • eBooks • Evolution • Klimawandel • Lebensraumvernichtung • Longlist NDR Kultursachbuchpreis 2020 • Naturgeschichte • Naturzerstörung • Umweltzerstörung |
ISBN-10 | 3-641-18339-1 / 3641183391 |
ISBN-13 | 978-3-641-18339-4 / 9783641183394 |
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Größe: 10,7 MB
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