Wer ist das Volk? - Andreas Oldenbourg

Wer ist das Volk?

Eine republikanische Theorie der Sezession
Buch | Softcover
449 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-51015-6 (ISBN)
52,00 inkl. MwSt
Ob in Spanien oder der Türkei, auf der Krim oder im Kosovo, in Somalia oder dem Südsudan: Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung sorgen immer wieder für Konflikte. Wie sind diese Kämpfe zu bewerten? Unter welchen Bedingungen kann eine Gruppe als Volk mit einem Recht auf einen eigenen Staat gelten und wann sind Alternativen zu einer staatlichen Souveränität vorzuziehen? Als Antwort auf diese Fragen entwickelt Andreas Oldenbourg eine umfassende Theorie der Sezession. Auf der Grundlage eines republikanischen Freiheitsverständnisses zeigt er, wie sich Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung rechtfertigen lassen und wie nicht.
Ob in Spanien oder der Türkei, auf der Krim oder im Kosovo, in Somalia oder dem Südsudan: Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung sorgen immer wieder für Konflikte. Wie sind diese Kämpfe zu bewerten? Unter welchen Bedingungen kann eine Gruppe als Volk mit einem Recht auf einen eigenen Staat gelten und wann sind Alternativen zu einer staatlichen Souveränität vorzuziehen? Als Antwort auf diese Fragen entwickelt Andreas Oldenbourg eine umfassende Theorie der Sezession. Auf der Grundlage eines republikanischen Freiheitsverständnisses zeigt er, wie sich Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung rechtfertigen lassen und wie nicht.

Andreas Oldenbourg ist Postdoktorand im DFG-Projekt »Unternehmen in der politischen Philosophie« an der TU Dortmund.

Inhalt
Vorwort 9
1. Sezession als Grenzproblem 11
1.1 Drei Theorien der Sezession 18
1.1.1 Völkerrechtliche Sezession aus Notwehr 19
1.1.2 Ein plebiszitäres Primärrecht 27
1.1.3 Nationale Selbstbestimmung 30
1.2 Eine republikanische Alternative 35
1.2.1 Liberale Freiheit 36
1.2.2 Republikanische Freiheit 39
1.2.3 Der republikanische Beitrag 47
2. Freiheit von Beherrschung 53
2.1 Deskriptive und normative Freiheit 57
2.1.1 Beherrschende Eingriffe
aufgrund der Struktur sozialer Beziehungen 59
2.1.2 Eingriffslose Beherrschung
anstatt der Unwahrscheinlichkeit von Eingriffen 68
2.1.3 Nicht-beherrschende Eingriffe durch öffentliche Diskurse 73
2.2 Akteurszentrierte Beherrschung und strukturelle Vorherrschaft 88
2.2.1 Beherrschung durch Akteure und Strukturen? 89
2.2.2 Strukturelle Vorherrschaft 94
2.2.3 Zur Möglichkeit der Anfechtung von Normen 99
3. Staatliche Konstitution von Freiheit 105
3.1 Soziale Gerechtigkeit als gleicher Bürgerstatus 109
3.1.1 Gerechtigkeit und Dissens 111
3.1.2 Menschen- und Bürgerrechte 118
3.1.3 Eine relationale Gerechtigkeitspflicht 126
3.2 Politische Legitimität als demokratische
Gewährleistung von Menschenrechten 129
3.2.1 Zwangsbewehrte Herrschaft durch anfechtbares Recht 131
3.2.2 Staat und Volk 137
3.2.3 Kollektive Selbstbestimmung in demokratischen Verfassungsstaaten 151
4. Kollektive Selbstbestimmung und Beherrschung 169
4.1 Rechte und Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung 173
4.1.1 Zur globalen Reichweite der Nicht-Beherrschung 174
4.1.2 Dimensionen kollektiver Selbstbestimmung 185
4.1.3 Rechte und Ansprüche von Gruppen 189
4.2 Konstituierende Selbstbestimmung als Abhilfe gegen Beherrschung 204
4.2.1 Kolonisation und Annexion 205
4.2.2 Menschenrechte 217
4.2.3 Strukturelle Minderheiten 224
5. Territoriale Rechte und Ansprüche 243
5.1 Territoriale Rechte und ihre Grenzen 249
5.1.1 Drei Rechtfertigungen - drei Rechtsträger 250
5.1.2 Eine republikanische Rekonstruktion von Grenzen 262
5.1.3 Territoriale Rechte und unerfüllte Ansprüche 268
5.2 Territoriale Ansprüche als Abhilfe gegen Beherrschung 274
5.2.1 Dekolonisation, postkoloniale Sezessionsansprüche und indigene Völker 275
5.2.2 Annexionen, Menschenrechte und strukturelle Minderheiten 299
5.2.3 Territoriale Rechte in multinationalen Föderationen 323
6. Konstituierende Selbstbestimmung zwischen Recht und Politik 330
6.1 Konstituierende Selbstbestimmung in multinationalen Föderationen 335
6.1.1 Demokratischer Konstitutionalismus 337
6.1.2 Autonomie oder Sezession? Katalonien und die spanische Verfassung 353
6.1.3 Erweiterung plebiszitärer Prozesse 362
6.2 Konstituierende Selbstbestimmung im Völkerrecht 370
6.2.1 Politische Grundlagen der Sezession im Völkerrecht 373
6.2.2 Zum Völkerrecht aus republikanischer Sicht 384
6.2.3 Sezession als Abhilfe gegen Beherrschung? Das Kosovo vor dem IGH 396
Fazit 409
Literatur 415

Vorwort Anfang der 1990er Jahre saß ich auf dem Vereinsgelände der SKG Frankfurt bei Erwachsenen. Die Väter meiner Mitspieler Joviça und Yusuf redeten über den Krieg im damaligen Jugoslawien. Joviças Vater meinte, dass er nicht verstehe, warum sich die Leute dort bekriegten: "Das sind doch alles Slawen." Der Vater von Yusuf entgegnete: "Nein, das sind alles Menschen." In dieser Arbeit steht weder die von Joviças Vater angeführte Kategorie der Ethnizität noch der von Yusufs Vater befürwortete Kosmopolitismus im Mittelpunkt. Stattdessen mache ich die republikanische Kategorie der Bürgerin zur Grundlage einer Sezessionstheorie. Anlass zu diesem Thema waren keine Kindheitserinnerungen, sondern meine Mitarbeit im Teilprojekt B9 Metaprobleme der Legitimität des DFG-Sonderforschungsbereichs 700 Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. Das vorliegende Buch beruht auf der Dissertation, die ich in diesem Rahmen verfasst und am Fachbereich für Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin verteidigt habe. Mein erster Dank gilt Bernd Ladwig für die Möglichkeit, im Rahmen des von ihm geleiteten Teilprojekts zu promovieren. Ich bin beileibe nicht der einzige, der bereits zu Studienzeiten davon profitierte, dass Bernd Ladwig an das Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft kam und uns politische Theorie gelehrt hat. Weiterhin kenne ich kaum jemanden, der eigenständiges philosophisches Denken mit einer derart umfassenden Kenntnis politischer Theorien verbindet. Unerreicht bleiben seine rhetorischen Fähigkeiten. Ausgewirkt haben sich diese bis hin zum Untertitel des vorliegenden Buches. Danken möchte ich ebenso Robin Celikates. Für seine Betreuung dieser Arbeit ist die Bezeichnung eines Zweitgutachters nicht angemessen. Das gilt für seine Bereitschaft, Textteile in unterschiedlichen Stadien umfänglich zu kommentieren. Es gilt aber auch für seine Unterstützung in Momenten, von denen man beim Verfassen eines solchen Buches nicht verschont bleibt. Gerne bedanke ich mich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft. So hat mir die großzügige Förderung des SFB 700 es ermöglicht, im Herbst 2012 ein Semester an der Princeton University bei Philip Pettit zu verbringen. Dank ihm habe ich verstanden, was in Philosophie und politischer Theorie möglich ist. In beiden Disziplinen kann er kein Vorbild sein, dafür umso mehr in seiner Freundlichkeit. Mit Christian Neuhäuser hatte ich das Glück, einen weiteren Betreuer meiner Doktorarbeit zu haben, auch wenn er das so nicht intendiert hat. Am Dortmunder Institut für Philosophie und Politikwissenschaft bot er mir das optimale Umfeld für die Fertigstellung dieses Buches. Wenn ich mittlerweile gelernt habe, politische Philosophie zu betreiben, dann dank unzähliger Gespräche mit ihm. Manchmal sind es wiederholte Nachfragen, manchmal sind es schriftliche Kommentare, gelegentlich sind es auch vereinzelte Hinweise, die Wichtiges lehren und in entscheidende Richtungen lenken. In diesen Hinsichten habe ich folgende Personen als besonders hilfreich in Erinnerung: Samantha Besson, Jan Brezger, Eva Deitert, Frank Dietrich, Dorothea Gädeke, Martina Herrmann, Johannes Icking, Tamara Jugov, Luise Müller, Peter Niesen, Frank Nullmeier, Markus Patberg, Alan Patten, Philipp Schink, Thorsten Thiel, Juri Viehoff und Christian Volk. Bei Sabine Kropp und Klaus Roth möchte ich mich für ihre Teilnahme in meiner Promotionskommission bedanken. Isabell Trommer danke ich dafür, dass sie diese Buchveröffentlichung für den Campus Verlag von Anfang an sehr umsichtig begleitet hat. Rebekka Siebers und Marius Thienenkamp danke ich für das Korrekturlesen des Manuskripts. Meinen Freunden und ehemaligen SFB-Kollegen Daniel Jacob und Cord Schmelzle danke ich für alles. Mein persönlicher Dank gilt meiner Familie, auf die ich mich immer verlassen kann, meinen Eltern Elina und Johst ebenso wie meinen Geschwistern Kati, Frank und Rita. Besonders danken möchte ich schließlich allen Freundinnen und Freunden, die mir im Laufe der Jahre unverzichtbarer Rückhalt und willkommene Ablenkung waren. Stellvertretend nennen möchte ich hier: Eva Swoboda (für alle Damen), Peter Jeschke (für alle Herren) und Felix Holm (für alle Frankfurter Jungs). 1. Sezession als Grenzproblem Die Staatsgrenzen dieser Welt sind kontingent. Sie könnten so oder auch ganz anders verlaufen. Daher sollte es nicht verwundern, wenn sie infrage gestellt werden. So kam und kommt es in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu Kämpfen um kollektive Selbstbestimmung in einem eigenen Staat. Am wirkmächtigsten war der Prozess der Dekolonisation, durch den viele Staaten dieser Welt überhaupt erst als formal unabhängige Staaten entstanden sind. Nachdem der Dekolonisationsprozess Anfang der 1960er Jahre seinen Zenit überschritten hatte, wurden im Kalten Krieg Grenzkonflikte durch das Duopol der Supermächte weitgehend eingehegt. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs brachen sie an vielen Stellen offen aus. Besonders deutlich wurde dies am Zerfall ehemals realsozialistischer Staaten. Folgen dieses Zerfalls sind an gegenwärtigen Konflikten im Südosten der Ukraine sowie am weiterhin umstrittenen Status des Kosovo bis heute zu beobachten. Das verstärkte Auftreten von Sezessionskonflikten seit den 1990er Jahren ist aber keineswegs auf den ehemaligen Ostblock begrenzt. Beispielsweise ist der Kurdenkonflikt in der Türkei seither immer wieder aufgeflammt. Feststellen lässt sich diese Entwicklung nicht zuletzt in postkolonialen Staaten: So hat die Region Somaliland 1991 ihre Unabhängigkeit vom restlichen Somalia erklärt, wird jedoch bis heute nicht international anerkannt. Hingegen konnte sich der Südsudan 2011 vom Sudan abspalten und bildet nun den bislang jüngsten neu entstandenen Staat. Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung werden jedoch nicht nur in mehr oder weniger instabilen Gebilden unter Verweis auf schwerwiegendes Unrecht gestellt, sondern auch in als konsolidiert geltenden Demokratien, die ihren nationalen Minderheiten weitreichende Formen substaatlicher Selbstbestimmung ermöglichen. 2014 wurde in Schottland ein Referendum über die Unabhängigkeit von Großbritannien abgehalten, bei dem allerdings keine Mehrheit für eine Abspaltung erreicht wurde. 2017 wurde in Katalonien trotz des von der spanischen Zentralregierung verfassungsrechtlich begründeten Verbots ein informelles Referendum abgehalten. In beiden Regionen werden unterschiedliche Gründe für eine Sezession vorgebracht. Verbreitet ist die Vorstellung, dass es beiden Regionen nach einer Sezession wirtschaftlich besser gehen würde, da sie im Falle Schottlands über vor ihrer Küste liegende Ölvorkommen eigenständig verfügen könnten oder im Falle Kataloniens keine Umverteilungsverpflichtungen gegenüber anderen, weniger wohlhabenderen Regionen Spaniens mehr bestünden. Darüber hinaus wird aber auch in Katalonien und Schottland ein Anspruch auf kollektive Selbstbestimmung formuliert, der unter gegebenen Bedingungen nicht hinreichend zur Geltung komme. So unterschiedlich die bislang genannten Fälle daher auch sind, eines haben sie gemein: Stets wird zumindest von Teilen einer territorial konzentrierten Bevölkerung ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung in einem eigenen Staat beansprucht. Ziel dieser Arbeit ist es, aus der Perspektive politischer Theorie und Philosophie Kriterien zur normativen Bewertung solcher Ansprüche zu entwickeln. Gerade aufgrund der Unterschiede zwischen den genannten Fällen kann die politische Philosophie zentrale Beiträge zu einer theoriegeleiteten Orientierung leisten. Versteht man die Infragestellung von Staatsgrenzen nicht als rein theoretisches Problem, sollten die Maßgaben für eine Orientierung in der Praxis jedoch auf eine Weise entwickelt werden, die an verallgemeinerbare Ergebnisse von Geschichts-, Rechts- und Sozialwissenschaften anschlussfähig ist. Hierbei kommt der politischen Theorie zum einen die Aufgabe zu, die in diesen Disziplinen bisweilen unhinterfragt verwendeten Begriffe zu klären. Zum anderen gilt es, die normalerweise vorausgesetzten normativen Annahmen systematisch zu begründen. Gerade der hier im Mittelpunkt stehende Begriff der kollektiven Selbstbestimmung ist besonders unklar und wirft weitere Fragen auf: Handelt es sich bei Völkern überhaupt um Kollektive, die als solche handlungsfähig sind? Ist kollektive Selbstbestimmung nicht vielmehr an bereits bestehende Institutionen gebunden? Darauf aufbauend können dann normative Fragen beantwortet werden: Unter welchen Bedingungen liegt ein Recht auf kollektive Selbstbestimmung vor? Welchen Wert hat kollektive Selbstbestimmung überhaupt, wenn das Wohlergehen von Individuen der normativ entscheidende Gesichtspunkt ist? Die derart umrissene Aufgabenstellung für eine normative politische Theorie von Sezession und Dekolonisation lässt sich meiner Ansicht nach sinnvoll in einer Frage bündeln: Wer ist das Volk? Wenn Mitglieder territorial konzentrierter Gruppen nach einer Sezession streben, wollen sie sich von einem bestehenden Staat abspalten, um fortan als eigenständiger Staat international anerkannt zu werden. Damit formulieren sie den Anspruch, ein eigenständiges Staatsvolk zu bilden. Ein Recht auf Sezession wird jedoch häufig von der Bevölkerung in den anderen Landesteilen bestritten. Für sie ist die fragliche Gruppe integraler Bestandteil des bestehenden Staatsvolks. Aus dieser Perspektive liegt die Entscheidung über eine Abspaltung bei dem so definierten Staatsvolk als Ganzem. Da die Existenz dieses Staatsvolks jedoch von der nach Abspaltung strebenden Gruppe gerade in Frage gestellt wird, meint diese, dass sie nur innerhalb ihrer eigenen Gruppe einer, wie immer qualifizierten, Mehrheit bedarf, um dem eigenen Anspruch Legitimität zu verleihen. Im Hinblick auf die Frage nach dem Volk unterscheidet sich die Dekolonisation von einer Sezession dadurch, dass im ersten Fall die kolonisierten Völker gemeinhin nicht als Teil des je eigenen Staatsvolks angesehen wurden. Vielmehr wurde von den Kolonisatoren in Anspruch genommen, über der kolonialisierten Bevölkerung zu stehen und sie deshalb beherrschen zu dürfen. Dieser Anspruch ist normativ unhaltbar und konnte im Verlauf des 20. Jahrhunderts in der internationalen Ordnung auch nicht mehr vertreten werden (Jackson 1990: 16-18). Das lässt allerdings offen, wie diese Ansicht eigentlich zu begründen ist (Ypi 2013: 158-160). Je nachdem, wie die Begründung lautet, wird eine Übertragung auf Sezessionsansprüche eine je unterschiedliche Sezessionstheorie zur Folge haben (vgl. Altman/Wellman 2009: 12-16; Buchanan 2004: 339-342; Miller 1995: 90). Diese Erläuterung des Titels meiner Arbeit sollte bereits verdeutlichen, dass mit meinem Gebrauch des Volksbegriffs gerade nicht die völkische Konnotation dieses Begriffs gemeint ist, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder ihre schändliche Wirkung entfaltet hat und sich auch in gegenwärtigen, rechtspopulistischen Strömungen wiederfindet. Vielmehr steht ein völkischer Nationalismus einer demokratischen Selbstbestimmung diametral entgegen (Arendt 1955: 483-515). Nicht ohne Grund soll die Formulierung der titelgebenden Frage die Antwort eines Wir nahelegen, die in der einzigen unmittelbar einigermaßen erfolgreichen Revolution hierzulande formuliert wurde. Die darauffolgende Entwicklung hatte das im Verhältnis zum Gegenstand dieser Arbeit entgegengesetzte Ergebnis: die Wiedervereinigung. Freilich will ich einer bisweilen anklingenden erneuten nationalen Mythenbildung keinen Vorschub leisten, weshalb ausdrücklich auf die Einordnung dieses Prozesses in den Zusammenbruch des gesamten Ostblocks verwiesen sei. Schließlich verweist diese Begriffsverwendung aber auch darauf, dass bei allen normativen Vorzügen eines möglichst inklusiven, staatsbürgerlichen Patriotismus nicht aus dem Blick geraten sollte, dass nationale Orientierungen, die häufig ethnisch fundiert werden, in den hier im Mittelpunkt stehenden Konflikten eine bedeutende Rolle spielen. Wer also ist dieses Wir? Zur Beantwortung dieser Frage im Rahmen von Kämpfen um kollektive Selbstbestimmung halte ich den Begriff der politischen Gemeinschaften für zielführend. Unter politischen Gemeinschaften verstehe ich den Gemeinsamkeitsglauben von Mitgliedern einer Gruppe, die ihre Belange allgemeinverbindlich regelt. Staatsvölker bleiben dafür paradigmatisch. Finden lassen sich politische Gemeinschaften aber auch auf substaatlicher Ebene, etwa in föderalen Systemen (De Schutter 2012), sowie zumindest potentiell auch auf supranationaler Ebene, wie etwa in der Europäischen Union (Preuß 2005). Diese Ebenen sind für mich insoweit relevant, als sie für die Grenzbestimmung des Staatsvolks gegenüber der Infragestellung von territorial konzentrierten, innerstaatlichen Kollektiven eine Rolle spielen. Substaatliche politische Gemeinschaften sind hier ungleich wichtiger, da sie die wichtigste Alternative zu einem eigenen Staat darstellen. Die supranationale Ebene der EU, aber auch die internationale Ebene im Allgemeinen verändern allerdings die Kontextbedingungen für Abspaltungen, weshalb sie ebenfalls von Bedeutung sind. Von Grenzproblemen politischer Gemeinschaften ist dann in zweierlei Hinsichten die Rede: Zum einen geht es mir im wahrsten Sinne des Wortes um Fälle, in denen die Grenzen von politischen Gemeinschaften problematisiert werden. Sezessionskonflikte sind damit ein paradigmatischer Fall dessen, was in der Demokratietheorie unter dem Begriff der "boundary problems" diskutiert wird; umstritten ist der Demos, der zu allgemeinverbindlichen Entscheidungen berechtigt ist (vgl. Whelan 1983). Zum anderen stellen die hier im Mittelpunkt stehenden Konflikte insofern ein Grenzproblem dar, als Sezessionsansprüche den Grenzfall einer Problematisierung politischer Gemeinschaften darstellen. Als ein solcher Grenzfall verweisen Sezessionsansprüche auf die allgemeinere Frage, was politische Gemeinschaften aus normativer Sicht eigentlich ausmacht (vgl. Böckenförde 1991a: Kap. 4). Indem ich Sezession hier als ein Grenzproblem verstehe, bette ich meine theoretische Auseinandersetzung mit ihr in diese beiden Diskussionsfelder ein. Auf dieser Basis lässt sich meine Fragestellung nach dem Volk folgendermaßen spezifizieren: Unter welchen Bedingungen sind Abspaltungen von einem Staat gerechtfertigt und wann sind welche innerstaatlichen Lösungen vorzuziehen? Mit dem Begriff der Abspaltung meine ich primär Sezessionen. Allerdings betone ich die relative Ähnlichkeit von Sezession zur Dekolonisation. Entsprechend soll der Begriff der Abspaltung beide umfassen; im Falle der Dekolonisation bezieht er sich auf die formalrechtliche Unabhängigkeit von einem imperialen Staat. Da der Prozess der Dekolonisation völkerrechtlich weitgehend abgeschlossen ist, stehen Sezessionen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Deshalb spreche im Untertitel dieser Arbeit auch schlicht von einer Sezessionstheorie. Eine solche Theorie sollte meines Erachtens fähig sein, die Dekolonisation systematisch zu begründen. Schließlich ist diese die zentrale historische Entwicklung, durch die im Rahmen gegebener politischer Ordnungen neue Staatsgrenzen bestimmt wurden. Darüber hinaus sind gerade aus der Dekolonisation Sezessionsansprüche entstanden. Im Rahmen des geltenden Völkerrechts werden Ansprüche auf einen unabhängigen Staat weitgehend auf die Dekolonisation begrenzt. Nach herrschender Meinung sind Sezessionen zwar nicht verboten, die Anerkennung eines neuen Staates wird jedoch als Eingriff in die territoriale Integrität des bestehenden Staates verstanden, sofern dieser Staat der Anerkennung nicht selbst zustimmt (Crawford 2006: Kap. 9). Ein Argument dafür ist, dass so die Stabilität der Staatenwelt am besten aufrechterhalten werden kann. Dieses Argument evoziert den Einwand, dass Stabilität nicht intrinsisch wertvoll ist. Einen Wert hat Stabilität nur, sofern sie instrumentell zum Wohlergehen von Menschen beiträgt. Aus normativer Sicht gilt es daher zunächst, menschliches Wohlergehen näher zu bestimmen und auf dieser Basis zu fragen, unter welchen Bedingungen sich Sezessionen rechtfertigen lassen. Zu dieser Frage hat sich nach Erscheinen einer ersten Monographie von Allen Buchanan (1991) eine mittlerweile breite Debatte entwickelt. Im Mittelpunkt dieser normativen Sezessionsdebatte steht die Frage, unter welchen Bedingungen unilaterale Sezessionen, also Sezessionen gegen den Willen eines Zentralstaates, gerechtfertigt sind. Die unterschiedlichen Ansätze hat Buchanan (1997) in einem späteren Aufsatz in drei Gruppen eingeteilt. Buchanan selbst ist der prominenteste Vertreter eines sogenannten Notwehrrechts auf Sezession. Derartige Theorien werden deshalb so bezeichnet, weil sie eine unilaterale Sezession nur als Mittel gegen schwerwiegendes Unrecht für legitim halten. Jenseits derartiger Rechtverletzungen sind Sezessionen nur auf Basis konsensualer Vereinbarungen zulässig (Buchanan 2004; Chwaszcza 1998; Schmücker 2011). Demgegenüber sind Primärrechtsvertreter der Auffassung, dass sich auch unabhängig von schwerwiegenden Rechtsverletzungen ein prima facie Recht auf eine unilaterale Sezession begründen lässt, das erst in einem zweiten Schritt mit gegenläufigen Ansprüchen abzuwägen ist. Diese Gruppe ist anhand ihrer Rechtfertigungsgründe zu unterteilen: Plebiszitäre Primärrechtsvertreter halten für ein solches, prima facie bestehendes Recht ein erfolgreiches Referendum auf einem bestimmten Territorium für hinreichend (Beran 1984; Dietrich 2010; Wellman 2005). Vertreter eines askriptiven Primärrechts behalten ein solches Recht Gruppen vor, die anhand bestimmter, insbesondere nationaler Zuschreibungen unterschieden werden und eine entsprechende kollektive Identität teilen (Margalit/Raz 1990). Viele askriptive Ansätze ziehen unter multinationalen Bedingungen, in denen sich Identifikationen sowohl auf den Zentralstaat als auch auf die jeweilige Untereinheit beziehen, substaatliche Lösungen vor (Miller 1995; Patten 2014: Kap. 7). Da derartige Ansätze daher nur eingeschränkt ein Primärrecht auf Sezession vertreten, halte ich es für treffender, von Ansätzen nationaler Selbstbestimmung zu sprechen. Alle drei Ansätze bringen zentrale Gesichtspunkte vor, die sich in den jeweils anderen Theorien nicht finden. Zugleich haben sie alle charakteristische Schwächen. Daher ist keiner dieser Ansätze zufriedenstellend. Notwehransätze sind besonders plausibel, weil sie dem Menschenrechtsschutz als einem zentralen moralischen Zweck des Völkerrechts am besten entsprechen. Da Sezessionsprozesse selbst häufig mit schwerwiegenden Rechtskonflikten einhergehen, bergen alle weitergehenden Theorien die Gefahr, aufgrund einer damit einhergehenden Instabilität zu mehr Rechtsverletzungen zu führen (Buchanan 2004: 369-371). Demgegenüber beklagen Vertreter des plebiszitären Primärrechts jedoch zu Recht, dass bei einer Notwehrtheorie die kollektive Selbstbestimmung nicht hinreichend zur Geltung komme (Wellman 2005: Kap. 3). Schließlich ist Vertreterinnen von Ansätzen nationaler Selbstbestimmung zuzustimmen, wenn sie darauf verweisen, dass die Identifikation mit einer bestimmten Gruppe systematisch berücksichtigt werden sollte, um die von den Akteuren selbst vorgebrachten Rechtfertigungsgründe angemessen zu erfassen. Dies aber wird von den beiden anderen Ansätzen nicht gleistet (Moore 1998: 4-8). So unterschiedlich diese Ansätze auch sind - die meisten ihrer Vertreter verstehen sich als Liberale. Den im Liberalismus semantisch enthaltenen Wert der Freiheit verstehen sie dabei als eine Freiheit von äußeren Eingriffen, als autonome Selbstbestimmung oder als eine Kombination aus beidem. Ein derartiges Freiheitsverständnis wird dann von Ansätzen nationaler Selbstbestimmung mit gemeinschaftlichen Orientierungen verbunden (vgl. Dietrich 2010: 186-189). Darüber hinaus finden sich auch stärker kommunitaristische Theorien, die ihren Fokus von vorneherein auf den Wert kultureller Gemeinschaften legen. Werte wie Freiheit und Gleichheit interpretieren sie daher als Teil kultureller Kontexte, die für unterschiedliche Gemeinschaften spezifisch sind (Taylor 1993; Walzer 1996). Eine umfassende republikanische Sezessionstheorie wurde hingegen bislang nicht vorgelegt. Der Republikanismus lässt sich von den beiden soeben genannten Strömungen dadurch abgrenzen, dass er politischen Gemeinschaften einen stärkeren Wert beimisst als liberale Ansätze, ohne diese in kulturellen Gemeinschaften aufgehen zu lassen, wie das für kommunitaristische Ansätze charakteristisch ist. Wie ich in dieser Arbeit zeigen will, ist dies ein zentraler Grund dafür, dass eine republikanische Sezessionstheorie die Vorzüge der bestehenden Ansätze in eine umfassende Theorie zu integrieren vermag, ohne sich die jeweiligen Nachtteile mit einzukaufen. Die in dieser Arbeit entwickelte, republikanische Theorie der Sezession beruht auf dem in neueren Arbeiten zum Republikanismus im Mittelpunkt stehenden Begriff der Freiheit als Nicht-Beherrschung, wie er insbesondere von Philip Pettit (1997a; 2012; 2015a) systematisch entwickelt worden ist. Dieses Freiheitsideal ist dann verwirklicht, wenn niemand die Macht zu willkürlichen Eingriffen in den Handlungsspielraum von anderen hat. Entsprechend lassen sich Sezessionen als Abhilfe gegen unterschiedliche Formen von Beherrschung rechtfertigen. Entscheidend ist hierbei jedoch, dass Beherrschung in sehr unterschiedlichen Graden vorliegen kann. Wie insbesondere James Tully (2000; 2008a; 2009) zeigt, kann Beherrschung von kolonialer Herrschaft bis hin zu einer mangelnden Anfechtbarkeit einer demokratischen Verfassungsordnung reichen. Damit können sehr unterschiedliche Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung als Abhilfe gegen das gleiche Übel analytisch erfasst und normativ bewertet werden, so unterschiedlich ausgeprägt dieses Übel auch ist. Die zentrale These dieser Arbeit ist daher, dass mit der Freiheit als Nicht-Beherrschung die unterschiedlichen Ansprüche auf Sezession und Dekolonisation am besten machttheoretisch analysiert und normativ bewertet werden können. Zum Nachweis dieser These gehe ich in diesem einführenden Kapitel in zwei Schritten vor. Im ersten Teil des Kapitels diskutiere ich zunächst eingehender die drei paradigmatischen Theorien der Sezession. Anhand ihrer jeweils profiliertesten Vertreter Allen Buchanan, Christopher Wellman und David Miller will ich dabei die eingangs nur angedeuteten Vorzüge und Nachteile klarer herausarbeiten (1.1). Im zweiten Teil dieses Kapitels werde ich zunächst auf jene liberalen Grundlagen eingehen, die von den drei genannten Autoren geteilt werden. Sodann formuliere ich in Abgrenzung dazu das hier vertretene Verständnis republikanischer Freiheit. Das liefert die Basis, um den republikanischen Beitrag zur Sezessionsdebatte zu formulieren. Dies geschieht anhand zweier spezifischerer Thesen zu den unterschiedlichen Ansprüchen auf Sezession und Dekolonisation, die im weiteren Verlauf der Arbeit umfassend zu begründen sein werden (1.2). 1.1 Drei Theorien der Sezession Die grundlegende Fragestellung der normativen Sezessionsdebatte ist, unter welchen Bedingungen die unilaterale Sezession einer territorial konzentrierten Bevölkerung mit dem Ziel der Gründung eines eigenen Staates gerechtfertigt sein kann. Wie eingangs angeführt, unterteile ich die unterschiedlichen Ansätze in Theorien des Notwehrrechts, des plebiszitären Primärrechts und der nationalen Selbstbestimmung. Im Rahmen dieser drei Ansätze hat sich eine differenzierte Debatte entwickelt. Hier werde ich in diese Debatte anhand von drei paradigmatischen Vertretern einführen: Allen Buchanan (1997; 2004) für das Notwehrrecht, Andrew Altman und Christopher Wellman (Altman/Wellman 2009; Wellman 2005) für das plebiszitäre Primärrecht und David Miller (1995; 2000) für die nationale Selbstbestimmung. Diese drei Theorien sind deshalb ausgewählt, da es sich um besonders gute und umfassende Formulierungen der drei Sezessionsansätze handelt. Dies erlaubt es, zentrale Gesichtspunkte in die von mir entwickelte Sezessionstheorie zu übernehmen. Zugleich lassen sich anhand dieser drei Theorien Desiderate ausmachen, denen ich mit der von mir vorgeschlagenen, republikanischen Theorie Abhilfe verschaffen möchte. Zunächst werde ich Buchanans Sezession aus Notwehr mit einem besonderen Fokus auf das Völkerrecht darlegen (1.1.1). Bei meiner Diskussion des plebiszitären Primärrechts von Altman und Wellman liegt das Augenmerk auf ihrem Begriff kollektiver Selbstbestimmung (1.1.2). Millers Theorie steht mit seiner Diskussion von Nationalismus, Liberalismus und Republikanismus an einer Schnittstelle zum zweiten Teil dieses Kapitels (1.1.3). 1.1.1 Völkerrechtliche Sezession aus Notwehr Im englischen Original bezeichnet Buchanan (1997: 37, Hervorh. i. O.) seinen Ansatz als "Remedial Right Only Theory". Im Deutschen wird dies mitunter als Notwehrrecht bezeichnet (Schneckener 1997: 462; Schmücker 2006: 599; Oeter 2012: 91) und damit nicht mit Abhilfe die wortwörtliche Übersetzung von "remedy" verwendet. Dies bringt einen substantiellen Punkt zur Geltung, der im weiteren Verlauf der Arbeit von Bedeutung sein wird. Eine Sezession wird nur dann als gerechtfertigt erachtet, wenn sie das letzte Mittel gegen schwerwiegende Eingriffe darstellt, die basale Gerechtigkeitserfordernisse verletzen. Der Begriff der Abhilfe hingegen kann sich auch gegen weniger schwerwiegende Übel richten, wie ich im weiteren Verlauf an schwächeren Formen von Beherrschung zeigen will. Dafür gilt es zunächst, Buchanans Argumentation für die Einschränkung einer separatistischen Abhilfe auf schwerwiegende Ungerechtigkeiten zu diskutieren. In seiner ersten Monographie hat Buchanan (1991) diesen Punkt vor allem mit allgemeinen moralischen Erwägungen zu begründen versucht. Da sich dagegen Einwände auf Basis gegenläufiger moralischer Orientierungen vorbringen lassen, hat er sich im weiteren Verlauf stärker auf institutionelle Argumente im Rahmen einer moralischen Theorie des Völkerrechts verlegt (Buchanan 1997; 2004). Ausgangspunkt von Buchanans (2004: 23-25, 345-350) jüngeren Überlegungen ist, dass Sezessionsansprüche als institutionelle Ansprüche im Rahmen der internationalen Ordnung zu verstehen sind, da sie letztlich auf die internationale Anerkennung als neues Mitglied in der Staatengemeinschaft zielen Sezession ist daher ein international zu regelnder Sachverhalt. Die Frage, ob es ein Sezessionsrecht gibt, wird auf internationaler Ebene im Völkerrecht behandelt. Entsprechend ist das institutionelle Verständnis eines normativ begründeten Sezessionsrechts primär auf das Völkerrecht und dessen mögliche Reform bezogen. Sowohl für das Verständnis von Buchanans Ansatz im Besonderen als auch für die Sezessionsproblematik im Allgemeinen ist es hilfreich, sich zunächst die völkerrechtliche (Nicht-)Regulierung von Sezessionskonflikten vor Augen zu führen.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 141 x 214 mm
Gewicht 562 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Schlagworte Bevölkerung • Dekolonialisierung • Förderalismus • Grenze • Nationalismus • Republikanismus • Sezession • Staat • Volk
ISBN-10 3-593-51015-4 / 3593510154
ISBN-13 978-3-593-51015-6 / 9783593510156
Zustand Neuware
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
Mehr entdecken
aus dem Bereich
Geschichte, Vordenker, Organisationen

von Tilman Seidensticker

Buch | Softcover (2023)
C.H.Beck (Verlag)
12,00