Demonstrative Reproduktion - Johannes Diesing

Demonstrative Reproduktion

Politischen Handlungsformen von Occupy in London und New York
Buch | Softcover
366 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-51055-2 (ISBN)
46,00 inkl. MwSt
Die Occupy-Bewegung verbreitete sich ab Herbst 2011 global und bildete damit den Höhepunkt eines protestreichen Jahres. Anhand der Platzbesetzungen in New York und London arbeitet der Band die neue Form des politischen Handelns heraus, die aus die im kollektiven Experimentieren entstandene Praxis der Demonstrativen Reproduktion. Diese gewann für die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung eine größere Bedeutung für ihren politischen Protest als konkrete Forderungen an Regierung, Parteien und Wirtschaft.
Die Occupy-Bewegung verbreitete sich ab Herbst 2011 global und bildete damit den Höhepunkt eines protestreichen Jahres. Anhand der Platzbesetzungen in New York und London arbeitet der Band die neue Form des politischen Handelns heraus, die aus die im kollektiven Experimentieren entstandene Praxis der Demonstrativen Reproduktion. Diese gewann für die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung eine größere Bedeutung für ihren politischen Protest als konkrete Forderungen an Regierung, Parteien und Wirtschaft.

Johannes Diesing ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für das Politische und Soziales System Deutschlands/Vergleich politischer Systeme der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Inhalt

Vorwort von Claus Leggewie 9
1 Einleitung 11
2 Forschungsstand und theoretische Grundlagen 16
2 .1 Politisches Handeln 22
2 .1 .1 Politisches Handeln im Denken von Hannah Arendt 24
2 .1 .2 Aktivistisches Handeln in der Occupy-Bewegung 22
1 3 Fazit: Politisches Handeln 35
2 .2 Protestcamps als Räume 35
2 .2 .1 Raum und politisches Handeln 38
2 .2 .2 Fazit: Raumkonzeptionen 48
2 .3 Soziale Bewegung 49
2 .3 .1 Paradigmen der Bewegungsforschung 54
2 .3 .2 Synthese der Paradigmen 62
2 .4 Contentious Politics 62
2 .4 .1 Dynamics of Contention 65
2 .4 .2 Prozesse und Mechanismen der Contentious Politics 68
2 .5 Zusammenfassung 75
3 Methodischer Teil 78
3 .1 Datenerhebung 78
3 .1 .1 Interviews 79
3 .1 .2 Teilnehmende Beobachtungen 90
3 .1 .3 Quellen der Akteur*innen 92
3 .2 Auswertungsvorgehen 94
3 .2 .1 Grounded-Theory-Methode nach Anselm Strauss und Juliet Corbin 95
3 .2 .2 Situationsanalyse nach Adele Clarke 96
3.2.3 Auswertung mithilfe des Programms MAXQDA 96
3 .3 Zusammenfassung 96
4 Ergebnisdarstellung 97
4 .1 Occupy Wall Street (OWS) in New York 98
4 .1 .1 Ursache und Kontext der Entstehung von OWS 98
4 .1 .2 Entwicklungsdynamik und Konsequenzen von OWS 102
4 .1 .3 Die politischen Handlungsformen von OWS 153
4 .1 .4 Zusammenfassung: Occupy Wall Street in NYC 195
4 .2 Occupy London 197
4 .2 .1 Ursache und Kontext der Entstehung von OLSX 198
4 .2 .2 Entwicklungsdynamik und Konsequenzen von OLSX 203
4 .2 .3 Die politischen Handlungsformen von OLSX 237
4 .2 .4 Zusammenfassung: Occupy London 279
5 Diskussion 282
5 .1 Zusammenfassender Vergleich der beiden Fallstudien 282
5 .1 .1 Neu beginnen – Der Ursprung der Bewegungen in einer neuen Koordination 283
5 .1 .2 We, the people – Vergleich der Akteurskonstituierungsprozesse 284
5 .1 .3 Prozesse der Diffusion von Handlungsformen 287
5 .1 .4 Schrumpfen des Möglichkeitsraums – Demobilisierung der Bewegungen 289
5 .1 .5 Vergleich Demonstrativer Reproduktion 292
5 .1 .6 Vergleich räumlicher Dimensionen 294
5 .2 Interpretation der Ergebnisse der vergleichenden Untersuchung 297
5 .2 .1 Neue Koordinationen zwischen Kontinuität und Innovationen 300
5 .2 .2 Category Formation in Occupy als Rückkehr des Hauptwiderspruchs? 302
5 .2 .3 Unvollständig und dünn? – Transnationale Diffusion von New York nach London 304 5 .2 .4 Das Protestcamp-Paradox – Kollaps der Fähigkeit zur Reproduktion im präfigurierten Raum 310
5 .2 .5 Demonstrative Reproduktion 311
6 Fazit 333
Verzeichnisse 342
Literatur 342
Abbildungen 365
Tabellen 366

Vorwort Claus Leggewie Occupy ist eine viel beschworene und von Beginn an positiv wie pejorativ mystifizierte Bewegung, die man nach der Lektüre der Arbeit von Johannes Diesing besser versteht und beurteilen kann. Was aber ist der besondere mediale Zug dieser globalen Bewegung? Weil sie transnational ist, weil sie auf diskursiven Konsens setzt und weil sie ein hohes Maß an Wissen voraussetzt, ist sie im Grunde ideal für virtuellen, nicht ortsgebundenen und zeitversetzten Austausch und eine deliberative Demokratie, die digitale Informations- und Kommunikationstechnologien der Welt in den 1990er Jahren annonciert und versprochen hatten. Johannes Diesing zeigt nun aber, im Bezug auf raumsoziologische Studien von Martina Löw und anderen, wie wesentlich der Raum – hier ein konkreter Ort – handlungskonstitutiv auch für Protestbewegungen ist und ein Medium seiner Konstitution durch sayings and doings. Die Occupy Bewegung versuchte in der General Assembly die Kommunikation vor allem auf eine Nutzung von primären Medien aufzubauen. Das heißt das Gespräch face-to-face bzw. das unmittelbare Adressieren der Anwesenden in der Gruppe stand stets im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich aber nicht nur um eine pragmatische Entscheidung. Von den ersten Vorbereitungstreffen im August 2011 an, hat die versammelte Gruppe gleichzeitig immer auch eine Ausdrucksfunktion: Wir sind hier, wir besetzen diesen vor uns liegenden, einzusehenden und zu erspürenden Platz und nutzen seine »Aura«. Durch das Regime der Sicherheits- und Ordnungsgesetze in New York war diese nicht angemeldete Versammlung im Tompkins Square Park, Schauplatz zahlreicher historischer Auseinandersetzung vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, eine Form zivilen Ungehor- sams . Wichtig ist die personale Begegnung in der General Assembly als Forums-Öffentlichkeit, an dem verbindliche Absprachen getroffen werden, denn sie soll ganz praktisch den Bruch mit dem von der Occupy-Bewegung kritisierten Repräsentationsprinzip erfahrbar machen . Die Versammlung ist in diesem Sinne selbst ein Medium, das die Botschaft »Eine andere Welt/eine andere Politik ist möglich« plausibel machen kann. Buchstäblich auf die Spitze getrieben wurde die Medialität des Raumes in der Nutzung des Human Mic während einer General Assembly . Der Raum der Versammlung ist hier nicht nur ein Medium in der Weise, dass die Ansammlung von Menschen die Präsenz der Occupy Bewegung wahrnehmbar macht; vielmehr ist das gemeinsame Wiederholen der Wortmeldungen in einem ganz buchstäblichen Sinne ein akustischer Verstärker der jeweiligen Botschaft. Von diesem Lautsprecher-Effekt abgesehen erzeugt interaktionale Synchronisation Gefühle von Empathie und Verbundenheit und befördert prosoziales Verhalten. Die Occupy-Bewegung wollte nicht nur ihren Dissens zu bestehenden kapitalistischen Verhältnissen programmatisch deutlich machen, sie wollte ihre Absicht, Werte zu schaffen ohne die private Aneignung eines Profi gewissermaßen leben und lebendig demonstrieren. Der mediale Effekt zielt also nach innen und außen. Hier werden nicht Massenmedien für Programmatik, Mobilisierung und Kommunikation eingesetzt, sondern die Massen, besser das anwesende, überschaubare Kollektiv wird selbst zum Medium. Es gibt hier durchaus Berührungen mit der frühen Arbeiterbewegung und Anklänge an die »proletarische Gegenöffentlichkeit«, die Negt und Kluge in ihrem grundlegenden Werk »Öffentlichkeit und Erfahrung« (1972) beschrieben haben. Anzumerken wäre noch, dass die »Piraten«-Bewegung, die programmatisch in vieler Hinsicht ähnliche Ziele vertritt wie Occupy, einen anderen Weg gegangen ist. Während Occupy die Kommunikation gezielt »subjektiviert« hat, konstruiert »Liquid Democracy«, das von den Piraten bevorzugte und weiterentwickelte Format, eine algorithmische und insofern »objektivierte« Plattform. Jede Revolte frisst aber ihre Kinder. Aufgrund der intensiven Beobachtung von Occupy durch die elektronischen Massenmedien und die Binnenkommunikation über soziale Medien, die für die Mitwirkenden als generalisierte Kulturtechnik zur zweiten Natur geworden ist, wächst die extreme Aufmerksamkeit und gerät diese Strategie der unmittelbaren Begegnung in Schwierigkeiten . Die sozialen Medien geraten dadurch aus der Rolle der »technischen« Unterstützung lebensweltlicher Echtzeitkommunikation in ein selbst konstitutives Medium. Und dieses bleibt auch nicht »unschuldig«, denn der scheinbar von den Inhalten absehende Kommunikationsfluss digitaler Medien ist natürlich geprägt von den Eigentumsverhältnissen und der Kontrollmacht der Medienkonglomerate, die den Löwenanteil des Datenverkehrs in den sozialen Medien, Suchmaschinen und Online-Handelsunternehmen organisieren und für ihre Zwecke nutzen . Auch Occupy wurde ebenso wenig eine »facebook-Revolution« wie der arabische Frühling. Johannes Diesing hat eine Arbeit vorgelegt, die sowohl für Protest- und Raumforscher*innen interessant als auch unter medientheoretischen Gesichtspunkten von großem Interesse ist. 1 Einleitung »[Die] Gruppe der Steuerflüchtlinge umfasst in jedem Land nur einige Tausend oder Zehntausend Personen. Doch aufgrund ihrer klangvollen Namen, die für große Unternehmen oder herausragende Sportler- und Künstlerkarrieren stehen, sind sie zu skandalösen Symbolen des sich vollziehenden Separatismus geworden. Abgesehen von solch Extremen schafft die Distanzierung des einen Prozents der Superreichen vom Rest der Bevölkerung die generelle Voraussetzung für eine explosive Spaltung.« Rosanvallon 2013, S . 330 »Der Zynismus war überall, in den Wohnzimmern und Bars hörte sie nichts als Klagen, aber die Wut reichte nie ganz aus, um das knochentrockene Holz zu entzünden – bis zu jenem Samstag kurz nach dem zehnten Jahrestag von 9/11, als eine kleine Gruppe in unmittelbarer Nähe von Ground Zero das Feuer entfachte .« Packer 2014, S. 422 »And then every now and then, the possibilities explode. In these moments of rupture, people fi themselves members of a ›we‹ that did not until then exist […].« Solnit 2016, S . XXV In der vierten Folge der zweiten Staffel der amerikanischen Fernsehserie The Newsroom interviewt der von Jeff Daniels gespielte Will McAvoy eine Vertreterin von Occupy Wall Street (Sorkin 2013). Der Anchor der im Zentrum der Serie stehenden Sendung The Newsroom kritisiert dabei nicht nur mit einer herablassenden Haltung die Aktivistin, sondern demütigt sie vor laufenden Kameras mit Fangfragen . Diese 2013 ausgestrahlte Folge der erfolgreichen HBO-Serie setzt die ambivalente Beziehung zwischen den New Yorker Aktivist*innen und den Fernseh- und Printmedien in Szene. Occupy Wall Street wurde in der Presse u.a. als eine diffuse Versammlung von Aktivist*innen beschrieben, die nicht leicht von einem Straßentheater zu unterscheiden sei (Bellafante 2011). Die Besetzer*innen des Parks seien nicht nur unorganisiert, sondern wirkten bisweilen auch uninformiert (Goldstein 2011) . Daher sei es auch schwer, einen Protest ernst zu nehmen, der mehr wie ein Zirkus ausschaue (Weiss 2011). Diese in den Leitartikeln und Kommentarseiten geäußerte große Skepsis gegenüber Occupy fi Anfang Oktober 2011 in die Zeit einer vom Meinungsforschungsunter- nehmen ABT SRBI durchgeführten Telefonumfrage des Time Magazine, die einerseits großes Misstrauen in gewählte Politiker*innen offenbarte. 60 Prozent der Befragten fühlten sich in Bezug auf die eigenen Sorgen durch die politischen Debatten in Washington nicht repräsentiert (Time Magazine 2011). In derselben Umfrage äußerten andererseits 29 Prozent eine zustimmende Haltung zu den Protesten von Occupy Wall Street; 25 Prozent sogar eine sehr zustimmende Haltung (Time Magazine 2011). Eine Woche darauf veröffentlichte das Meinungsforschungsinstitut Gallup die Ergebnisse einer Telefon-Umfrage mit 1026 zufällig ausgewählten Erwachsenen. Nach dieser Befragung war die Mehrheit der interviewten amerikanischen Bürger*innen unsicher, worin die Ziele der Occupy-Bewegung bestehen würden (Jones 2011). All diesen Informationslücken, Kritik und Polemik zum Trotz breitete sich die Bewegung weiter aus. Die politikwissenschaftliche Erforschung des Entstehens von sozialen Bewegungen bezieht stets die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen für Erklärungen darüber ein, wann und warum es zum Auftreten neuer Bewegungen kommt oder warum Bewegungen Erfolge erringen können. Soziale Bewegungen reagieren auf bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen; dabei gelingt es einigen von ihnen teilweise, diese Umstände erfolgreich zu thematisieren. Sobald sich andere Akteure in einem politischen System dieser Themen annehmen, können die Anliegen von Bewegungen zu Outcomes verarbeitet werden. Dennoch lassen sich aus diesen Erkenntnissen der bisherigen Forschung keine Automatismen für das Entstehen und den Erfolg einer sozialen Bewegung ableiten. Auch eine vermeintlich noch so günstige Ausgangslage führt nicht automatisch zum Auftreten neuer Bewegungen, die sich diese günstigen Kontextbedingungen zunutze machen (McAdam, Tarrow & Tilly 2001, S. 43). Trotz aller Skepsis und Kritik schaffte es Occupy allerdings, sich im Herbst 2011 innerhalb eines Monats global zu verbreiten. Insofern muss es etwas geben, was die Occupy-Bewegung richtig gemacht hat, um so erfolgreich zu agieren. Vor dem Hintergrund dieser widersprüchlichen Ausgangslage – der Kritik an Occupy einerseits und der Erfolge von Occupy andererseits – wird in der nachfolgenden Analyse von Occupy London und Occupy New York die Frage bearbeitet, welche Formen des politischen Handelns Occupy als Soziale Bewegung in den beiden Städten nutzte . Die vorliegende Studie verbindet in der Bearbeitung dieser Fragestellung akteurszentrierte Theorien des politischen Handelns und Protest- und Bewegungsforschung und leistet über die empirische Analyse von Occupy hinaus einen relevanten Beitrag zur Demokratietheorie. Von der übergeordneten Fragestellung werden Teilfragen abgeleitet, die in den Kapiteln der vorliegenden Arbeit bearbeitet und beantwortet werden, bevor in der Zusammenschau aller einzelnen Stränge eine Antwort auf die Ausgangsfrage gegeben werden kann .Tab . 1: Überblick zu den Forschungsfragen der Arbeit (Diesing 2019)

Erscheinungsdatum
Reihe/Serie Interaktiva, Schriftenreihe des Zentrums für Medien und Interaktivität, Gießen ; 16
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 214 mm
Gewicht 455 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Soziologie Spezielle Soziologien
Schlagworte Bewegung • Bewegungsforschung • Demonstration • Occupy • Protest
ISBN-10 3-593-51055-3 / 3593510553
ISBN-13 978-3-593-51055-2 / 9783593510552
Zustand Neuware
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