Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass (eBook)

Herausgegeben und mit begleitenden Essays von Götz Aly
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
288 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491013-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Prophet der Vernichtung. Über Volksgeist und Judenhass -  Siegfried Lichtenstaedter
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Wie ein bayerisch-jüdischer Beamter den Holocaust vorhersagte: Scharf beobachtend und mit jüdischem Witz schrieb Siegfried Lichtenstaedter (1865-1942) Satiren und Prognosen, die so verblüffend hellsichtig sind, dass der Historiker Götz Aly sie ausgegraben und neu zusammengestellt hat. In drei begleitenden Essays schildert Götz Aly außerdem Lichtenstaedters Leben und zeigt, wie aktuell diese Texte über Antisemitismus, Völkermord und Hass heute wieder sind. 1923 hielt Siegfried Lichtenstaedter für möglich, was 1933 begann: Dass die Juden in Deutschland »totgeschlagen und ihre Güter den ?Ariern? gegeben« würden. 1926 beobachtete er, wie - »heimlich ersehnt und schmunzelnd erwähnt« - Vernichtungswünsche gegen die Juden immer populärer wurden. Damals erschien auch die Satire über die München sehr ähnliche Stadt Anthropopolis: Als hier die Stelle des Gerichtsvollziehers mit einem Juden besetzt wird, gerät »dieses Amt zu 100 Prozent in jüdische Hand«! Daraus entspinnt sich eine sich langsam radikalisierende Kampagne, die in der Forderung endet, »das ganze Volk Israels unschädlich zu machen«. »Als aktiver Beamter, noch dazu Jude« veröffentlichte Lichtenstaedter seine mit jüdischem Witz verfeinerten Geschichten und Prognosen unter Pseudonymen. Früh erkannte er die Gefahren des leisen, jedoch hinterhältigen deutschen Antisemitismus und des allgemeinen, oft unvermutet hervorbrechenden Minderheitenhasses. Heute drängen lange verdeckte ethnische und religiöse Konflikte wieder auf die politische Tagesordnung. Auch das motivierte Götz Aly, die wichtigsten Texte Lichtenstaedters auszuwählen. Sie lesen sich, als seien sie gestern für uns Heutige geschrieben - eine echte Entdeckung.

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ?Euthanasie? 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880-1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002 Marion-Samuel-Preis 2003 Bundesverdienstkreuz am Bande 2007 National Jewish Book Award, USA 2007 Ludwig-Börne-Preis 2012 Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018 Geschwister-Scholl-Preis 2018

Götz Aly ist Historiker und Journalist. Er arbeitete für die »taz«, die »Berliner Zeitung« und als Gastprofessor. Seine Bücher werden in viele Sprachen übersetzt. 2002 erhielt er den Heinrich-Mann-Preis, 2003 den Marion-Samuel-Preis, 2012 den Ludwig-Börne-Preis. Bei S. Fischer erschienen von ihm u.a. 2011 »Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800-1933« sowie 2013 »Die Belasteten. ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte«. Im Februar 2017 erschien seine große Studie über die europäische Geschichte von Antisemitismus und Holocaust »Europa gegen die Juden 1880–1945«. Für dieses Buch erhielt er 2018 den Geschwister-Scholl-Preis. Literaturpreise: Heinrich-Mann-Preis für Essayistik der Akademie der Künste Berlin 2002 Marion-Samuel-Preis 2003 Bundesverdienstkreuz am Bande 2007 National Jewish Book Award, USA 2007 Ludwig-Börne-Preis 2012 Estrongo Nachama Preis für Zivilcourage und Toleranz 2018 Geschwister-Scholl-Preis 2018

Lichtenstaedters Texte sind von einer manchmal den Atem raubenden Aktualität. Lichtenstaedter sah die Vernichtung der Juden voraus. Er entzifferte den völkischen Wahnsinn

Lichtenstaedters Texte sind Schriften zur Zeit, und wenn man ihnen das auch durchaus anmerkt, es bleiben ihre Diagnosestärke und ihre beklemmende Aktualität.

Lichtenstaedters Schriften waren unter den Nationalsozialisten verboten, doch sie überdauerten diese Zeit. Es lohnt sich, sie zu entdecken.

Die Bewunderung des analytischen Witzes, der scharfsichtigen Diagnose und die Beklemmung über ihre Vergeblichkeit bestimmen die Lektüre der von Aly hervorragend montierten und kommentierten Fragmente

Es ist das Verdienst Alys, dass er [...] diese Texte wieder zugänglich macht und die historische Patina durch seine klugen Interpretationen wegwischt. [...] Ein wichtiges Buch!

Götz Aly hat nun Lichtenstaedter, diesen eigenartigen, eigenwilligen, höchst interessanten "homo ignotus" der Vergessenheit entrissen.

Götz Aly

Ein Bayer, hellwach und jüdisch


Anfang Oktober 1923 verbot die Münchner Polizei für einige Wochen die Zeitung der noch kleinen NSDAP, den »Völkischen Beobachter«. Umgehend verlegten sich die nationalsozialistischen Propagandaleute auf das Ersatzblatt »Heimatland«. Ebendort, im unmittelbaren Umfeld Adolf Hitlers, erschien am 15. Oktober 1923 ein Aufsatz, der den 1915 von Türken begangenen Völkermord an etwa einer Million Armeniern als notwendige Tat verherrlichte. Verfasst hatte den Text ein gewisser Hauptmann Hans Tröbst. Dieser beschönigte den staatlich gewollten Massenmord nicht nur, sondern empfahl die Vernichtung »fremder« Menschen als vorbildlich, gefolgt von einem nur mäßig verdeckten Hinweis auf die Minderheit der deutschen Juden. »Die Türkei hat den Beweis geliefert«, so Tröbst, »dass die Reinigung eines Volkes im größten Stil von Fremdkörpern jeder Art sehr wohl möglich ist.«

Wie Adolf Hitler lebte damals auch Oberregierungsrat Dr. Siegfried Lichtenstaedter in München. Er arbeitete in der bayerischen Finanzverwaltung, war 58 Jahre alt, alleinstehend und las die rechtsradikale Presse regelmäßig und machte sich Gedanken darüber, was der zitierte Artikel im Klartext bedeutete: »Die 600000 Juden des Deutschen Reiches und die 200000 Juden Deutsch-Österreichs sollen totgeschlagen und ihre Güter den ›Ariern‹ gegeben werden. Hierzu bedarf es aber einer neuen Ethik. Diese lehrt: Die ›Fremdstämmigen‹ (= Fremdreligiösen), die im Vaterlande leben, darf und soll man totschlagen und ihrer Habe berauben.« (Der vollständige Text findet sich auf S. 196202 in diesem Buch.) Was später als Zivilisationsbruch bezeichnet wurde, hielt Lichtenstaedter schon 1923 für möglich. Als einer der Ersten erkannte er, wie – anfangs sehr diskret – im Deutschland der Weimarer Republik eine »neue Ethik« entstand, ein neues Wertesystem, das den späteren Massenraubmord an den Juden legitimierte.

Am 6. Dezember 1942 wurde auch Siegfried Lichtenstaedter, der so vieles vorhergesehen hatte, im Alter von knapp 78 Jahren im KZ Theresienstadt ermordet. Sein kleines Vermögen war bereits »dem Deutschen Reich verfallen«. Nach Angaben der Lagerverwaltung starb er um 1.00 Uhr nachts im Zimmer 41 der sogenannten Jägerkaserne (Block A II) an »Altersschwäche«.[1] In einer Selbstauskunft für die in Czernowitz herausgegebene »Grosse Jüdische Nationalbiographie« hatte er sich 1936 so präsentiert: Am 8. Januar 1865 als Jüngster von fünf Geschwistern[2] im mittelfränkischen Baiersdorf geboren, ansässig in München, Doktor phil. mit Liebe zur Orientalistik, Volljurist, königlich-bayerischer Oberregierungsrat seit 1914, Ende 1932 »unter Anerkennung seiner vorzüglichen Dienstleistung« pensioniert, darüber hinaus »sozialpolitischer Schriftsteller, Kulturkritiker und tapferer Kämpfer für die Interessen des Judentums«.

Bis 1932 hatte er die meisten seiner Werke unter Pseudonymen erscheinen lassen, weil er sie »als aktiver Beamter, noch dazu Jude, unmöglich unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlichen konnte«.[3] Doch kaum war er aus dem aktiven Staatsdienst ausgeschieden, teilte er in seinen weiteren Veröffentlichungen mit, welche dazu passenden Schriften er früher unter »Decknamen« publiziert hatte.

Sein seit 1885 hauptsächlich benutztes, gleichermaßen gelehrt, weise und orientalisch klingendes Pseudonym Dr. Mehemed Emin Efendi markierte mit dem substantivierten Adjektiv emin die Eigenschaften wahrheitsliebend und ehrlich. Ähnliches bedeutet das Pseudonym Ne’man, das unser Autor immer dann bevorzugte, wenn er seine jüdischen Glaubensbrüder unmittelbar ansprach, genauer gesagt: sie aufs Korn nahm. Manchmal nannte er sie auch Volksgenossen. Zum Pseudonym Ne’man teilte mir Chaim Moykopf mit: »Ne’man beziehungsweise ןמאנ bedeutet treu, aufrichtig, hingebungsvoll, zuverlässig. Das Wort geht auf die vielfältig verwendete Wurzel נ-מ-א (Alef, Mem, Nun) zurück, aus der auch das Wort Amen entstand. Das Pseudonym steht für die unverbrüchliche Zugehörigkeit des Autors zum Judentum, nicht im politisch-nationalen, sondern im geistigen und spirituellen Sinn.«

Insgesamt hinterließ Siegfried Lichtenstaedter drei größere Aufsätze und 43 mir bekannte Bücher und Broschüren, drei davon sind Übersetzungen. Seine Schriften enthalten engagierte Aufforderungen zum Naturschutz und zur Sparsamkeit; vor allem aber analysierte er nationalistische Streitigkeiten, ermahnte seine jüdischen Religionsgenossen und verfasste zeitkritische Satiren, in denen er sich mit jüdischem Witz und bayerischer Possenfreude den deutschen Antisemitismus vornahm. Die vorliegende Auswahl umfasst Schriften zum Antisemitismus und zu den ethnisch-nationalistisch motivierten Spannungen und Gewaltausbrüchen im 20. Jahrhundert.

Nach 120, 90 oder 80 Jahren lege ich sie erstmals wieder auf und möchte damit an einen kantigen, mit scharfer Beobachtungsgabe gesegneten bayerisch-jüdischen Autor erinnern. Das ist das eine. Zum anderen werden Sie, liebe Leser und Leserinnen, schnell erkennen, wie aktuell Lichtenstaedters Einsichten noch heute sind.

Seit einigen Jahren haben sich die schon fast besiegt geglaubten Gespenster Nationalismus, Minderheitenhass, Antiliberalismus und Intoleranz wieder in die politische Arena gedrängt, um dort ihre alten Stammplätze einzunehmen. Auf die wunderbar friedlichen Revolutionen von 1989/90 und die damit verbundenen Hoffnungen auf Ausgleich und Frieden überhaupt folgte das harte Erwachen. Politische, ethnische und religiöse Unduldsamkeit wuchern von neuem in einer Welt, die sehr viel komplizierter geworden ist. Und so lesen sich viele Texte des ungewöhnlichen Autors Siegfried Lichtenstaedter, als seien sie gestern für uns Heutige geschrieben worden.

In seinem letzten, 1941 erschienenen Buch »Sprachenpolitik (Forschungen und Forderungen)« tauschte Lichtenstaedter den Begriff Minderheit gegen den Begriff Fremdkörper aus. Wie in seinen früheren Arbeiten bezog er Zeiten ein, in denen die Konflikte »riesenhaft« waren und dann wieder »so winzig«, dass »sie fast nicht wahrgenommen, geschweige denn empfunden« wurden. Deshalb definierte er den Status rassischer, sprachlicher oder religiöser Minderheiten als »relativ, pendelnd, wie Ebbe und Flut den stärksten Schwankungen unterworfen«. Begründend führte er an, es handle sich dabei nicht um eine objektive, sondern um die rein volkspsychologische Frage: Inwieweit wird eine Minderheit »von den anderen, aber auch von sich selbst als Fremdkörper gefühlt«?

Auf seine Gegenwart von 1941 bezogen konstatierte er: Gäbe es ein Instrument, mit dem sich der Fremdheitsgrad messen ließe, »würde man staunen, welcher Wechsel hier möglich ist«, und feststellen, dass die deutschen Juden »in den 70er-Jahren des 19. Jahrhunderts durchschnittlich zu einem Zehntel, seit dem 5. März 1933 bis heute dagegen durchschnittlich zu acht oder sogar neun Zehnteln als Fremdkörper empfunden werden«. Jenseits des wechselnden allgemeinen Empfindens »sind und bleiben sie ›die anderen‹« – »wobei man natürlich zwischen dem chronischen, latenten, schlafenden Gegensatz und den akuten Ausbrüchen der Volksleidenschaft unterscheiden muss«. Ob eine Minderheit als nützlich oder unnütz empfunden werde, entscheide allein die Mehrheit. Fälle sie das Urteil »unnütz«, könne das schnell zum »Vernichtungskrieg gegen die Minderheiten« führen.[4]

Im September 1938 beantragte Lichtenstaedter, seinen betont deutschen, von seinen Eltern als assimilatorische Hilfe gedachten Vornamen Siegfried in Sami umzuwandeln. Da der Antragsteller vor der Errichtung der Standesämter (1876) geboren war, wurde die Änderung den Vorschriften entsprechend – Ordnung muss sein! – im Geburtsregister der Israelitischen Kultusgemeinde Baiersdorf vermerkt, ebenso wie die Zwangsvornamen Sara und Israel für die anderen noch in Deutschland lebenden, hier geborenen Juden jener Jahrgänge. Im Unterschied zu diesen steht dort für Lichtenstaedter: »Gemäß Beschluss des Polizeipräsidiums München vom 13. Oktober 1938, Nr. 37/38, Akt II, 114, wurde angezeigt, dass der am 8.1.1865 in Baiersdorf geborene Oberreg.Rat a.D. Dr. Siegfried Lichtenstaedter, wohnhaft St.-Pauls-Platz, No. 6, anstelle seines bisherigen Vornamens Siegfried den Vornamen ›Sami‹ führt.«

Die Korrekturen auf der sogenannten Judenkennkarte, ausgestellt am 8. September 1938, wurden gewiss auf Betreiben Lichtenstaedters vorgenommen: »Sami« statt »Siegfried«, »Ober Reg. Rat a.D.« statt »ehemals Reg. Rat« und als Namensteil »Dr. jur.«. Auf der Rückseite ist vermerkt: »26.6.39,...

Erscheint lt. Verlag 23.1.2019
Nachwort Götz Aly
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik 20. Jahrhundert bis 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antisemitismus • Armenier • Bayern • Deutschland • Ethnische Konflikte • Geschichtsvorhersage • Griechenland • Holocaust • Juden • München • Nationalsozialismus • Türkei • Völkerhass • Völkermord
ISBN-10 3-10-491013-8 / 3104910138
ISBN-13 978-3-10-491013-0 / 9783104910130
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