Integriert doch erst mal uns! (eBook)

Eine Streitschrift für den Osten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
208 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-430-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Integriert doch erst mal uns! - Petra Köpping
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Warum sind das Misstrauen und die Distanz zu Demokratie und Politik in Ostdeutschland so groß? Woher kommt all die Wut? Das fragt die sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin Petra Köpping. »Integriert doch erst mal uns!« - diesen Satz hat sie in Gesprächen mit Bürgern und Anhängern von Pegida immer wieder vernommen. Köpping fordert mit Nachdruck eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit. In den unbewältigten Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, in den Lebensbrüchen und Entwurzelungen der 1990er Jahre sieht sie eine wesentliche Ursache des heutigen Dilemmas. Ausführlich geht sie auf viele Probleme ein, die in der damaligen Zeit ausgeblendet oder bewusst verdrängt wurden - von der verfehlten Treuhand-Politik über den Elitenaustausch, die Abwertung von Berufsabschlüssen und den Verlust von Betriebsrenten bis hin zum Generalverdacht politischer Rückständigkeit, weil man in der DDR und damit in einer Diktatur gelebt habe. Entstanden ist eine Streitschrift, in der sie für einen neuen Blick auf die Situation in Ostdeutschland wirbt und konkrete Vorschläge zur Verbesserung des Verhältnisses von Ost und West unterbreitet.

Jahrgang 1958, Mitarbeiterin im Rat des Kreises Grimma, 1980 – 85 Fernstudium der Staats- und Rechtswissenschaften, 1989 – 90 Bürgermeisterin der Gemeinde Großpösna (Landkreis Leipzig), 1990 – 94 Außendienstmitarbeiterin der Deutschen Angestellten-Krankenkasse, danach kommunalberaterin der Sächsischen Aufbaubank; seit 2009 Mitglied des Sächsischen Landtags für die SPD und seit 2014 Sächsische Staatsministerin für Gleichstellung und Integration.

Ist nicht alles schon gesagt?


Warum eine Streitschrift über den Osten Deutschlands notwendig ist


Ich bin in den letzten vier Jahren als sächsische Integrations- und Gleichstellungsministerin im Land viel herumgekommen. Ich habe Hunderte von Gesprächen geführt, in Dutzenden offenen Bürgerrunden gesessen: in aufgebrachten und wutgeladenen Bürgerversammlungen genauso wie mit verzweifelten und hoffnungssuchenden Menschen in meinen Bürgersprechstunden, in Gesprächen am Rande von Veranstaltungen und Demonstrationen oder auch am mittlerweile fast schon legendären »Küchentisch« des sächsischen SPD-Vorsitzenden Martin Dulig.

Und natürlich war ich hier mit vielerlei massiver Kritik, Wut und sogar Hass konfrontiert. Das Thema der Geflüchteten war allgegenwärtig. Ein Zusammenhang wurde schnell hergestellt. Doch es wird dabei oft vergessen, dass die Demonstrationen von Pegida weit vor dem Sommer 2015 starteten, also bevor die vielen Geflüchteten ins Land kamen.

Als langjährige Landrätin und Bürgermeisterin entwickelt man sehr feine Sensoren für gesellschaftliche Stimmungen. Dass sich etwas zusammenbraut, habe ich schon vor sehr langer Zeit gespürt. Doch ich hielt vieles davon für das übliche Schimpfen und Murren, wie ich es seit den 1990er Jahren kenne. Immerhin gab es auch große Krisen und Probleme in den letzten Jahren, teilweise ausgelöst durch dubiose Finanzgeschäfte von Banken und Hedge-Fonds, die auch etwa in Sachsen zu Milliardenkosten für die Bürgerinnen und Bürger wegen des Landesbank-Desasters führten. Hinzu kam die vielfache Kritik an der Niedriglohnpolitik und den Hartz-IV-Regelungen gerade in Ostdeutschland.

Doch ich fühlte mich stets in Sicherheit. Sachsen ist ein Bundesland, dem es gut geht. In vielen Umfragen gaben die Leute an, sowohl mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation als auch mit der wirtschaftlichen Situation des Freistaats sehr zufrieden zu sein. Leicht schwächere, aber durchaus ähnliche Daten gab es im ganzen Osten. Wir haben in Sachsen die geringste Pro-Kopf-Verschuldung aller Bundesländer in Deutschland, im Osten nahmen wir bislang die beste Wirtschaftsentwicklung. Unsere Kommunen haben enorm viel geleistet, auch wenn sie finanziell nicht immer gut dastehen. Und wenn man durch die Dörfer und Städte fährt, sieht man das auch. Ist damit nicht »alles in Butter«?

Offensichtlich nicht. Irgendwann war es nicht mehr das »normale« Murren und Schimpfen. Es schwoll an in einer ungeahnten öffentlichen Erregung, die sich in Bürgerversammlungen, Demonstrationen und Protestwahl zeigte. Ich ging hin, um mehr zu erfahren und das Gespräch anzubieten. So stand ich auch am Rande vieler Pegida-Demonstrationen. Hier und bei anderen Gelegenheiten kamen viele aufgebrachte Menschen auf mich zu und schimpften auf »die da oben«, auf Flüchtlinge und auf »das System«. Einige meinten, die Stimmung sei die gleiche wie 1989.

Keine leichten Gespräche, die ich und viele andere versuchten zu führen. Doch ich habe die Angewohnheit, dass ich mein Gegenüber meist frage »Wer sind Sie?« und damit versuche herauszufinden, welche Menschen eigentlich vor mir stehen. Und fast in allen Fällen war recht schnell nicht mehr die »Flüchtlingsproblematik« das alles entscheidende Thema. Es ging um etwas viel tiefer Liegendes. Etwas Grundlegenderes. Die Flüchtlinge waren der Anlass, doch der Grund der Erregung war bei vielen offensichtlich älter.

Und da war es wieder: Fast alle Gespräche endeten mit den persönlichen Erlebnissen der Menschen während der Nachwendezeit. Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Es ging in fast allen Gesprächen um Lebensbrüche. Vor allem berufliche, aber auch private.

An einem Tag raunte mir dann ein aufgebrachter Demonstrant zu: »Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!« Diese Aussage brachte es auf den Punkt: Hier geht es anscheinend bei vielen gar nicht um das Thema Flüchtlinge. Diese waren nur Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik. Damit will ich überhaupt nicht die vielen echten Rassisten entschuldigen oder relativieren. Die NPD, eine klar antidemokratische und faschistische Partei, hat in Sachsen schon einmal 9,2 Prozent erhalten. Mir ist klar, wir haben ein dramatisches Rechtsextremismus-Problem bei uns.

Und dennoch sah ich bei vielen »besorgten Bürgern« eine andere Motivation: Denn bei diesen Menschen, die reden wollen, zeigt sich schnell, dass ihnen in der Vergangenheit nicht zugehört wurde. Niemand hat ihre konkreten Probleme wirklich ernst genommen. Niemand hat ihre Lebensgeschichten gewürdigt. Niemand ist auf sie eingegangen.

Schon sehr lange wird in Deutschland über Fortschritt, Digitalisierung, Globalisierung und all die anderen Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Doch die jüngste Vergangenheit hat bislang niemanden so recht interessiert.

Am Reformationstag, am 31. Oktober 2016, hielt ich meine inzwischen viel zitierte Leipziger Rede. Ich forderte damals: »Die Nachwendezeit muss wieder auf den Tisch!« Wir müssen uns mit den Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten aus jener Zeit beschäftigen. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit.

Ich bin froh, dass diese Rede einen so großen Widerhall gefunden hat. Ich war mir einerseits sicher, dass ich damit ein wichtiges Thema anspreche. Aber ich war mir andererseits unsicher, wie stark auch andere diese Einschätzung teilen. Und dann zeigte sich: Ich hatte einen wunden Punkt getroffen. Seitdem habe ich Hunderte von Briefen, E-Mails und Nachrichten bekommen, zumeist gefüllt mit Tränen, Wut, Fragen und Hoffnungen. Ich bekam viele Briefe, die mich unterstützen. Übrigens auch aus Westdeutschland. Viele Gesprächspartner waren völlig überrascht, als sie etwa von dem »Problem der geschiedenen Frauen in der DDR« hörten. Davon hatten sie noch nie etwas erfahren. Mancher Journalist schaut nun anders auf Ostdeutschland.

Diese Rede hat eine Debatte angestoßen, die bis heute anhält. Es ist nicht eine dieser schnelllebigen Debatten, die am nächsten Tag durch ein anderes Thema ersetzt wird. Nein, dieses Mal ist es anders: Man redet wieder über den Osten! Und man redet über das Thema der Nachwendeungerechtigkeiten.

Allerdings wurde die Debatte bislang fast ausschließlich im Osten geführt – im Westen hat davon kaum jemand etwas mitbekommen. Im Gegenteil. Im Zuge der Aufmärsche von Pegida und der Wahlerfolge der AfD ergoss sich erneut Spott, Schulmeisterei und Häme über den Osten, was hierzulande zu einer typischen Wagenburg-Mentalität – wie meist in solchen Fällen – führte. In Wagenburgen beginnt man aber keine kritischen Diskussionen unter sich, sondern man verteidigt sich verbissen gegen alle Angriffe. Aber so kommen wir nicht weiter.

Deswegen habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben. Eine Streitschrift für den Osten. Ein Buch, das den Osten versucht zu erklären, aber nicht gegen den Westen gerichtet ist.

Ich weiß: Viele können mit einer Ost-West-Debatte nur wenig anfangen: »Spaltet nicht weiter zwischen Ost und West«, sagen mir immer wieder viele, vor allem jüngere Leute. Andere schrieben mir, man soll doch die Vergangenheit ruhen lassen. Man verstehe nicht, wie das den Leuten helfen solle, wenn man deren durchaus nachvollziehbare Trauer jetzt wiederbelebt und ihnen womöglich falsche Hoffnungen macht. Andere sagen: »Das ist 30 Jahre her, kümmert euch um die Zukunft!« Wieder andere entgegnen: »Es ist zu spät, heute aufzuklären«. Und manche sagten mir, wenn man über das Thema rede, dann öffne man die Büchse der Pandora.

Doch es gibt eine Version des griechischen Mythos, dass aus der Büchse der Pandora eben nicht nur alles Übel in die Welt stieg, sondern auch die »Hoffnung« entweichen konnte und so die Trostlosigkeit auf der Erde ein Ende fand. Das Verschweigen hat nichts geändert. Es ist eben nicht alles in Ordnung.

Und ich spüre, dass die bloße Anerkennung der Probleme als solche schon vielen ostdeutschen Bürgerinnen und Bürgern gut tut – und sie allein dadurch schon eine gewisse Wertschätzung spüren. Nicht alle brauchen das, aber viele erleben das sehr positiv. Es gibt die Bereitschaft, Verhärtung und Sprachlosigkeit zu überwinden. Gewiss, Kränkungen und Scham sitzen bis heute tief. Man redet nicht gerne über die damalige Zeit. Die Bezeichnung als »Wendeverlierer«, »DDR-Nostalgiker« oder »Jammer-Ossis« hat die Leute still und stumm gemacht. Und es machte die Menschen erst richtig wütend.

Viele dieser Menschen hatten schlicht keine Lobby. Ihre Probleme wurden negiert, unter den Tisch gekehrt und mit ihren Biografien entwertet. Was sie zu sagen hatten, war es offenkundig nicht wert, verbreitet zu werden. Diese Erfahrung mussten sie immer wieder machen. Und es wird im Nachhinein oft übersehen, wie hart es viele damals traf. Familien gingen kaputt. Arbeitslosigkeit, Scheidungen und psychische Belastungen – das betraf sehr viele. Heute sind die meisten zwar wieder gesundet, aber der Hass auf »das Westdeutsche« und »die Politik« ist bei nicht Wenigen geblieben. Diese Gefühle werden verdeckt von den Umfragen, welche von einer hohen Zufriedenheit der Leute...

Erscheint lt. Verlag 5.9.2018
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Aufbau Ost • Betriebsrenten • DDR • Deutschland • elitenaustausch • Geschiedene Frauen • Ostdeutschland • Pegida • Soziale Ungerechtigkeit • Treuhandanstalt • Wende • Zusatzrenten
ISBN-10 3-86284-430-7 / 3862844307
ISBN-13 978-3-86284-430-2 / 9783862844302
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