Die Spionin (eBook)

Olga Raue - CIA-Agentin im Kalten Krieg
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
608 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00099-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Spionin -  Stefan Appelius
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Die Entdeckung eines der größten deutschen Spionagefälle der Nachkriegszeit und ein spannendes Stück Zeitgeschichte - so packend wie ein Agententhriller. Die frühen Jahren des Kalten Krieges in Berlin: Olga Raue, ihr Mann und ihr Schwager spionieren für die CIA, zuerst in der DDR, später in Moskau. Als eine Freundin sie verrät, wird Olga inhaftiert. Sechs Jahre später kauft die Bundesrepublik Olga frei, 1977 darf sie die DDR verlassen. Olga schweigt über ihre Mission - mehr als 50 Jahre lang. Doch als der Politikwissenschaftler Stefan Appelius auf den «Spionagering Raue» stößt, beginnt sie zu erzählen. Appelius hat die politischen Wellen, die die Spione auslösten, nachgezeichnet. Doch die menschlichen Hintergründe - die kann nur Olga Raue schildern.

Prof. Dr. Stefan Appelius, geboren 1963, lebt als selbständiger Wissenschaftler und Publizist in Berlin; seine Forschungsschwerpunkte sind Zeitgeschichte, Parteien und politisch-soziale Bewegungen. Er ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und arbeitet im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin.

Prof. Dr. Stefan Appelius, geboren 1963, lebt als selbständiger Wissenschaftler und Publizist in Berlin; seine Forschungsschwerpunkte sind Zeitgeschichte, Parteien und politisch-soziale Bewegungen. Er ist außerplanmäßiger Professor für Politikwissenschaft an der Universität Oldenburg und arbeitet im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin.

Erstes Kapitel Von Akten und Menschen


Auge in Auge


Kann man einen anderen Menschen durch Stasi-Akten kennenlernen? Man kann vielleicht einen ersten Eindruck gewinnen, findet ein paar Rahmendaten über den zeitlichen Hintergrund heraus. Hundertprozentig verlassen kann man sich auf die Daten in diesen Dokumenten allerdings nicht. Vieles stimmt einfach nicht, zudem war die Aktenführung häufig nachlässig.

Und wie könnte man Menschen kennenlernen, die heimlich beobachtet wurden oder die nach ihrer Festnahme aus politischen Gründen vom Arbeiter- und Bauernstaat als Verbrecher drangsaliert und schikaniert wurden? Menschen, die verzweifelt waren und Angst hatten. Die sich an jeden Strohhalm klammerten, den man ihnen bot. Das ist es aber nicht allein. Was in diesen Akten steht, ist stets aus dem Blickwinkel und mit dem Vokabular der «staatlichen Organe» geschrieben. Kennenlernen würde man nicht einmal einen ihrer Hauptamtlichen, wenn man dessen Kader-Akte vor sich hätte.

Ich sitze im Auto und bin auf dem Weg nach Norddeutschland. Während der mehrstündigen Fahrt, an deren Ziel ich Olga Raue persönlich kennenlernen werde, frage ich mich, wie es kommt, dass sie mir schon so vertraut ist. Ich habe eine Erwartung, eine Vorstellung, was für ein Mensch sie sein muss. Es wird an den zahlreichen Telefonaten liegen, die wir in der Zwischenzeit geführt haben. Es ergibt sich aber auch aus dem, was ich über Heinz und Gerd Raue in Erfahrung gebracht habe. Einer der beiden Brüder soll die Hauptperson in meinem Buch werden. Wahrscheinlich der charismatische Gerd. Olga Raue jedenfalls nicht. Sie ist ein bescheidener Mensch und steht nicht gerne in der ersten Reihe. Und anscheinend hat sie fast alles vergessen, was damals geschah.

Tatsächlich gibt es keinerlei Fremdheit, als sie schließlich in ihrer Wohnungstür vor mir steht. Wir begrüßen uns wie alte Bekannte. Vor mir steht eine geschmackvoll gekleidete und gepflegte ältere Dame. Ein bisschen hört man ihre Herkunft aus Sachsen-Anhalt heraus, obwohl sie schon vor gut sechzig Jahren von dort wegging. Ich sehe weder den Gehstock noch den Rollator, den sie am Telefon immer leicht spöttisch ihren Wagen nennt.

Sie hat Kaffee und Kekse vorbereitet. «Da, auf dem Sofa», zeigt sie mir einen Platz auf der Wohnzimmercouch, gleich beim Fenster. Soll ich mich dort hinsetzen, frage ich mich. Nein. Schon folgt die Erklärung: «Dort saß der Raue, als er mich mit seiner Frau das letzte Mal besuchte. Meine Güte, das ist jetzt auch schon fast dreißig Jahre her. Meine Schwester und mein Mann waren auch dabei. Heute ist ja niemand mehr da, der diese alten Geschichten noch kennt.»

Ich liebe es, direkt in eine Geschichte einzutauchen.

«Schauen Sie mal. Die habe ich vorhin im Arbeitszimmer noch gefunden.» Sie hält mir einige alte Postkarten entgegen. «Die sind vom Raue.» Ich nehme das Päckchen andächtig in die Hand und frage, ob ich sie lesen darf. Sie nickt.

Er muss viel auf Reisen gewesen sein, als er im Westen lebte. Die Karten sind aus Österreich, Italien, Norwegen, aus der Schweiz und auch aus den USA. Am 22. April 1981 schreibt er ihr aus San Francisco. Das war nur ein paar Tage nach Gerd Raues Tod. Aber seine Frau hatte ihn nicht darüber informiert, sie wollte ihm seine schöne Reise nicht verderben, hat sie mir erklärt. Oder ahnte sie, dass er selbst dort mit seinen Gedanken noch immer in der Vergangenheit und bei seiner Exfrau war, die er jetzt die «liebe Olga Freundin» nennt? «Im schönen Kalifornien, in dem wir einst unsere Zelte aufschlagen wollten, lasse ich wenigstens meine Augen übergehen – und kann nichts finden, was mir nicht gefällt!», schreibt er.

Ein leichter Schauer überfällt mich, während ich diese melancholischen Zeilen lese. Im Grunde steht ihre ganze Geschichte darin, vor allem aber seine Traurigkeit. Und seine Sehnsucht. Sie wollten damals gemeinsam mit ihrem Freund Hänschen in die Vereinigten Staaten gehen. Die amerikanische Staatsbürgerschaft hatten sie schon Jahre vor ihrer Festnahme beantragt.

Auf einer anderen Postkarte ist Weihnachten 1968 als Datum angegeben. War Heinz Raue da nicht noch in der Sonderhaftanstalt Bautzen II inhaftiert? Tatsächlich. Er schreibt, dass es die einzige Weihnachtskarte ist, die er in diesem Jahr verschicken darf. Die bekommt die Frau, die, wenn ich mich richtig erinnere, ein paar Wochen zuvor die Scheidung von ihm eingereicht hat.

Meine Augen fliegen über die Zeilen. «Ich trage Dir den Schmerz nicht nach, den Du mir zufügen musstest, um selbst glücklich sein zu können. Bitte verzeih auch Du mir allen Schmerz, den ich Dir angetan habe.»

Hat er sie immer geliebt? Bis zuletzt? Und sie hat ihn trotzdem verlassen. Für ihn muss es die Hölle gewesen sein. Ein Wunder, dass er nicht daran zerbrochen ist. Leicht war es sicher auch nicht für sie. Vielleicht spricht sie ja deshalb immer nur von «dem» Raue. Als wäre er im Grunde immer ein Fremder gewesen und nicht ihr Mann. Es ist vielleicht eine Art emotionaler Schutzschild. Zudem haben sie in all den Jahren nie zusammengelebt. Hatten nie eine gemeinsame Wohnung. Er studierte in Leipzig, sie in Moskau.

Die Postkarten haben mich völlig in ihren Bann gezogen. Im Februar 1978 schreibt er ihr nach einem Besuch in Pontresina: «Hier musste ich viel an Dich denken.» 1956 waren sie dort gemeinsam mit Hänschen gewesen. Und aus Tirol erinnert er sie im Sommer 1993 an «Bergwanderungen wie zu Hänschens Zeiten».

Ich fühle mich Heinz Raue, je mehr ich über ihn erfahre, eigentümlich verbunden. Kein Wunder, wird mir Olga Raue ein paar Minuten später erklären. Er sei ein Schreiber gewesen. Ihre Männer aber, die waren Techniker. Die haben Häuser gebaut. Dazu wäre der Raue nie imstande gewesen. Ich auch nicht, denke ich und fühle Solidarität mit Heinz Raue. Mittlerweile hat sie einige alte Fotografien hervorgeholt. Darunter auch eine, auf der sie im Trainingsanzug zu sehen ist, wie sie auf einem Feldweg einen Fahrradschlauch flickt. 1952 steht auf der Rückseite. Da waren sie auf einer Radtour in Thüringen. Heinz hatte einen Platten, aber keine Ahnung, wie man den Schaden behebt. Wie kann ein Mann nur so unbeholfen sein? In ihrer ersten Nacht in einer großen Getreidegarbe hätte er wegen der Mäuse keine Ruhe gegeben, sodass sie danach immer in Scheunen übernachten mussten, erzählt mir Olga Raue mit einem Kopfschütteln. Dafür, dass sich ihre Wege schon vor so langer Zeit trennten, dafür, dass es so wenig Gemeinsames in ihrem Leben gab, erinnert sie sich doch an eine ganze Menge.

Warum er ein Schreiber war, verstehe ich zuerst nicht. Heinz Raue war Absolvent der Journalistischen Fakultät der Karl-Marx-Universität. Und er hat nach seiner Haftentlassung Mitte, Ende der siebziger Jahre bei Axel Springer in Westberlin gearbeitet. Aber keiner seiner Kollegen erinnert sich, dass er dort viel geschrieben hat. Einer sagte mir mit einem verständnisvollen Lächeln, er habe Heinz Raue damals für einen Sozialfall gehalten. Wieso also Schreiber?

«Weil er seit seiner Inhaftierung Gedichte schrieb», erklärt Olga Raue und reicht mir ein gefaltetes, vergilbtes Blatt. «Später hat er auch wunderschöne Märchen und Kurzgeschichten geschrieben.» Das wusste ich nicht. Andächtig entfalte ich das Papier. Es ist mit blauer Tinte beschrieben, in einer schönen, geschwungenen Handschrift. Unten steht: «Zum 29. Juni 1966». An jenem Tage wurde Olga Raue achtunddreißig Jahre alt. Das Blatt ist in Bautzen II entstanden, in seiner Zelle. Es ist ein Liebesgedicht, in dem er ihr schreibt, dass das Leben nur in ihrer Nähe ein wirkliches Leben ist. Für einen Augenblick ist es so, als säße er mit uns gemeinsam am Couchtisch.

Im Laufe unseres Gespräches fallen ihr immer mehr Einzelheiten ein. Sie berichtet, dass ihnen die Amerikaner in Westberlin falsche westdeutsche Pässe gaben. «Sie hatten ein ganz leicht zu merkendes System. Das Geburtsdatum wurde einfach plus eins geändert. So wurde bei mir aus dem 29. Juni 1928 der 30. Juli 1929», erzählt sie mit einem verschmitzten Lächeln, als wäre sie ein ausgebuffter Ganove. «Und unser Deckname war Homann.»

Ich bin beeindruckt. So dezidiert steht es nicht in den Akten. Das System mit den falschen Pässen hat die CIA damals in Westberlin nur bei ihren Topagenten praktiziert. Eine Zeitlang vorher galt auch die Regel, dass diese Leute bei ihren Aufenthalten in Westberlin keine ostdeutschen Ausweise mit sich führen durften. Sie sollten nicht durch einen unglücklichen Zufall von der Westberliner Polizei verhaftet und aktenkundig werden. Die Amerikaner trauten den westdeutschen Behörden nicht, sie gingen davon aus, dass diese Bereiche von der Staatssicherheit durchsetzt waren. Die andere Seite verfuhr übrigens nicht anders. Östliche Agenten folgten bei ihren Einsätzen in Westdeutschland viele Jahre derselben Regel und hatten nichts bei sich, was ihre ostdeutsche Identität offenbart hätte.

Auch Olga Raue wurde komplett westlich ausstaffiert. Das habe Hänschen persönlich übernommen. «Damit reduzieren wir das Risiko, dass Leute von drüben Sie zufällig wiedererkennen», habe er ihr erklärt. «Wir werden alles hier für Sie verwahren, sodass Sie, immer wenn Sie zu uns kommen, gleichzeitig nach Hause kommen.»

Offensichtlich hatte er Freude an diesem Einsatz, denn die beiden verbrachten einen ganzen Tag auf dem Ku’damm, Westberlins nobelster Einkaufsstraße, und spazierten von einem Geschäft zum nächsten, um Kleider, Schuhe, Handtaschen, Unterwäsche, zwei Mäntel und natürlich auch Kosmetikartikel zu erstehen, erzählt sie amüsiert. Hänschen...

Erscheint lt. Verlag 18.12.2018
Zusatzinfo Zahlr. s/w Fotos
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Agenten • CIA • DDR • Fünfziger Jahre • Geheimdienst • Hohenschönhausen • Kalter Krieg • Moskau • Ost-Berlin • SED • Sowjetunion • Spionage • Stasi • undercover • USA
ISBN-10 3-644-00099-9 / 3644000999
ISBN-13 978-3-644-00099-5 / 9783644000995
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