Wer vertritt das Volk? (eBook)

Reden über unser Land

(Autor)

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2017 | 1., Originalausgabe
319 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75748-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wer vertritt das Volk? - Norbert Lammert
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Zwölf Jahre war Norbert Lammert zweiter Mann im Staat, Bundestagspräsident und bester Redner im Hohen Haus. Seine Worte verschafften ihm Respekt über alle politischen Lager hinweg und verliehen ihm höchstes Ansehen, nicht nur in Deutschland. Dieser Band versammelt seine bedeutendsten Reden und ist Weckruf und Appell in schwierigen Zeiten.
Seit 1980 gehörte Norbert Lammert dem Deutschen Bundestag an. Die großen parlamentarischen Auseinandersetzungen der jüngeren Geschichte prägten ihn - Nato-Doppelbeschluss, Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, Irak-Konflikt -, sie überzeugten ihn von der Lebensnotwendigkeit der Debatte. Eine Überzeugung, die er in seinen Jahren als Bundestagspräsident wie kein zweiter verkörperte. Als Vorsitzender empfing er Gäste, Papst Benedikt XVI, Schimon Peres, Navid Kermani, Wolf Biermann. Und als Redner mahnte er unmissverständlich an, sich auseinanderzusetzen. Mit der Demokratie, mit deutscher Erinnerung, Europa und der Migration.



<p>Norbert Lammert, 1948 in Bochum geboren, war unter Helmut Kohl Parlamentarischer Staatssekret&auml;r in drei Bildungsministerien. Von 2005 bis 2017 bekleidete er das Amt des Bundestagspr&auml;sidenten.</p>

Norbert Lammert, 1948 in Bochum geboren, war unter Helmut Kohl Parlamentarischer Staatssekretär in drei Bildungsministerien. Von 2005 bis 2017 bekleidete er das Amt des Bundestagspräsidenten.

Die Demokratie steht und fällt mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger


Abschiedsrede zu Beginn der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode, 5. September 2017


Ich begrüße Sie alle herzlich zur letzten Plenarsitzung des Deutschen Bundestages in der 18. Wahlperiode. Für viele Kolleginnen und Kollegen – auch für mich – ist dies zugleich die letzte Sitzung als gewählte Abgeordnete hier im Hohen Haus. Nicht wenige von uns haben in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag mit der Überwindung der Teilung unseres Landes die größte, spektakulärste und zugleich friedliche Veränderung in der jüngeren Geschichte unseres Landes nicht nur miterlebt, sondern auch aktiv mitgestaltet.

Um zu würdigen, was wir heute längst für selbstverständlich halten, muss man gelegentlich daran erinnern, wie es vorher war. Als ich 1980 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag gewählt wurde, war Deutschland geteilt und Europa auch, in zwei rivalisierenden Militärbündnissen organisiert, die sich bis an die Zähne bewaffnet an einer durch Mauer und Stacheldrahtzäune befestigten deutsch-deutschen Grenze gegenüberstanden. Damals, Anfang der 1980er-Jahre – Bundeskanzler war Helmut Schmidt –, wurde innerhalb und außerhalb des Parlamentes leidenschaftlich über den sogenannten NATO-Doppelbeschluss gestritten, den die einen für den Anfang vom Ende der westlichen Zivilisation hielten und bekämpften und die anderen für die Voraussetzung der territorialen Integrität der westlichen Staatengemeinschaft.

Unter den Bedingungen des Kalten Krieges und – wie fast alle glaubten – den damit verbundenen unverrückbaren Verhältnissen im eigenen Land wie in Europa haben wir in den 1980er-Jahren im Deutschen Bundestag vorsichtig damit begonnen, dem zunächst in einer ehemaligen Pädagogischen Akademie provisorisch untergebrachten Deutschen Bundestag angemessene Arbeitsbedingungen zu verschaffen, und haben schließlich den Bau eines neuen Plenarsaales beschlossen, der, als er fertig war, nicht mehr gebraucht wurde. Denn inzwischen war die Mauer in Berlin gefallen und mit der Mauer zugleich die Verhältnisse, die scheinbar ein für alle Mal in Beton gegossen waren. Wenn wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Jahr, wie in jedem Jahr, am 9. November an den Fall der Mauer 1989 erinnern, dann ist seitdem so viel Zeit vergangen, wie die Mauer überhaupt gestanden hat: 28 Jahre.

Der Bau wie der Fall der Mauer waren das Symbol der politischen Kräfteverhältnisse in Europa und ihrer Veränderungen. Auch der Deutsche Bundestag hat sich in dieser Zeit, vor und nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit und nach dem Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin, natürlich immer wieder verändert, sich immer wieder neu zusammengesetzt; aber im Wesentlichen arbeitet er in Berlin ganz genau so, wie es in Bonn eingeübt worden war. Vieles hat sich verändert, vieles hat sich bewährt und ist geblieben.

Der Deutsche Bundestag ist im Vergleich zu anderen Parlamenten innerhalb und außerhalb der Europäischen Union in seinen verfassungsmäßigen Aufgaben, in seiner Zusammensetzung und in seiner Ausstattung stärker und einflussreicher als die meisten Parlamente auf diesem Globus. Für Minderwertigkeitskomplexe besteht kein Anlass. Aber der Deutsche Bundestag ist nicht immer so gut, wie er sein könnte und vielleicht auch sein sollte. Dass Parlamente Regierungen nicht nur bestellen, sondern auch kontrollieren, ist im Allgemeinen unbestritten; im konkreten parlamentarischen Alltag ist der Eifer bei der zweiten Aufgabe nicht immer so ausgeprägt wie bei der ersten.

»Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.«

So steht es im Grundgesetz. Und ganz genau so ist es auch gemeint.

Dass die Regierungsbefragung in jeder Sitzungswoche des Deutschen Bundestages noch immer zu den Themen stattfindet, die die Regierung vorgibt und nicht das Parlament, ist unter den Mindestansprüchen, die ein selbstbewusstes Parlament für sich gelten lassen muss.

Das wird auch dadurch nicht völlig ausgeglichen, dass es inzwischen immerhin gelungen ist, sicherzustellen, dass leibhaftige Mitglieder der Bundesregierung an der Regierungsbefragung teilnehmen.

Wir haben, liebe Kolleginnen und Kollegen, in diesem Haus zweifellos immer wieder herausragende Debatten erlebt; aber bei selbstkritischer Betrachtung sollten wir einräumen, dass in der Regel hier im Hause immer noch zu häufig geredet und zu wenig debattiert wird.

Wir beraten in jeder Legislaturperiode einige Hundert Gesetzentwürfe; ich glaube, eher zu viele als zu wenige.

Dass wir gelegentlich offensichtlich Dringliches vertagen und dafür weniger Wichtiges für dringlich erklären, dazu fällt mir mindestens ein prominentes Beispiel ein, das ich jetzt nicht mehr ausdrücklich vortrage.

Wir haben uns, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, von der Asylgesetzgebung in den 1990er-Jahren über die Föderalismusreformen bis hin zum kürzlich verabschiedeten neuen Länderfinanzausgleich einen allzu großzügigen Umgang mit unserer Verfassung angewöhnt und sie häufiger und immer umfangreicher, regelmäßig auch komplizierter verändert, als es ihrem überragenden Rang und dem Respekt entspricht, den wir dem Gestaltungsanspruch künftiger Parlamente und ihrer Mehrheiten schulden.

Hier im Deutschen Bundestag schlägt das Herz der Demokratie, und hier im Bundestag heißt auch hier im Bundestag, nicht in der Geheimschutzstelle des Deutschen Bundestages.

Verlässlich kann und muss es in dem gemeinsamen, aber nicht immer präsenten Bewusstsein schlagen, dass eine vitale Demokratie nicht daran zu erkennen ist, dass am Ende Mehrheiten entscheiden, sondern daran, dass auf dem Weg bis zur Entscheidung Minderheiten ihre Rechte wahrnehmen können.

Dafür zu sorgen, ist die nicht immer einfache, aber nach meinem Verständnis vornehmste Aufgabe des Parlamentspräsidenten.

Umso dankbarer bin ich Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen dieser wie der beiden vorhergehenden Legislaturperioden, dass Sie mich gleich dreimal, für insgesamt zwölf Jahre, in dieses Amt gewählt haben. Ich habe es gerne, nach besten Kräften und gelegentlich auch mit einem gewissen Vergnügen ausgeübt, und ich empfinde es als Privileg meiner Biografie – neben dem Glück, in einem freien Lande zu leben –, meinem Land an dieser prominenten Stelle dienen zu können.

Eine schönere, anspruchsvollere Aufgabe hätte es für mich nicht geben können. Deswegen möchte ich mich bei allen bedanken, die mich dabei in diesen Jahren begleitet und unterstützt haben: bei Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei den Fraktionen, bei den Parteien, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bundestagsverwaltung, den vielen Unsichtbaren, ohne die dieses Parlament nicht so leistungsfähig sein könnte, wie es glücklicherweise ist, bei den Medien für mal diese und mal andere Berichterstattungen und insbesondere bei den Wählerinnen und Wählern.

Vieles aus diesen Jahren wird mir und vermutlich all denen, die dabei gewesen sind, ganz gewiss in Erinnerung bleiben: die erste Rede eines deutschen Papstes vor einem gewählten deutschen Parlament – auch das –, die denkwürdige gemeinsame Sitzung des Deutschen Bundestages mit der französischen Nationalversammlung hier im Reichstagsgebäude aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages – damals konnte man gewissermaßen besichtigen, wie nahe wir uns inzwischen sind und wie gründlich sich dieses Europa verändert hat –,...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Bundestag • Bundestagspräsident • Debatte • Demokratie • Deutschland • Erinnerung • Europa • Migration • Parlament • Politik • Redner • ST 4887 • ST4887 • suhrkamp taschenbuch 4887
ISBN-10 3-518-75748-2 / 3518757482
ISBN-13 978-3-518-75748-2 / 9783518757482
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