Demokratischer Abbruch (eBook)

Von Trümmern und Tabus

(Autor)

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2017 | 1. Auflage
158 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10681-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratischer Abbruch -  Daniela Dahn
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Die Texte in diesem Buch stehen in einem inneren Zusammenhang. Daniela Dahn, in der DDR Gründungsmitglied der Bürgerbewegung «Demokratischer Aufbruch», zieht fünfzehn Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung eine ernüchternde Bilanz: Auf den «Demokratischen Aufbruch», den sie verließ, weil er schon die sozialistischen Träume von der Gleichheit hinter sich ließ, scheint der «demokratische Abbruch» zu folgen, die Zerstörung auch noch von Freiheiten und Rechten im Zeichen eines unbezähmbaren Turbokapitalismus. Was ist noch übrig von der Glaubwürdigkeit unseres politischen Systems? Doch die Autorin begnügt sich nicht damit, auch Ermutigendes zu beschreiben, sondern formuliert selbst Forderungen und Vorschläge, etwa zu einer Gegenöffentlichkeit, zu einer Friedensordnung und dem Umgang mit Terroristen, zur Umverteilung von Besitzständen. Neben Essays und Reden zur inneren Lage der Republik und zur Globalisierung stehen auch in diesem Band wieder kunstvolle Portraits von Zeitgenossen, darunter Günter Grass und Christa Wolf.

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Mitglied des PEN sowie Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt sind bislang vierzehn Essay- und Sachbücher erschienen, zuletzt «Im Krieg verlieren auch die Sieger» (2022).

Daniela Dahn, geboren in Berlin, studierte Journalistik in Leipzig und war Fernsehjournalistin. 1981 kündigte sie und arbeitet seitdem als freie Schriftstellerin und Publizistin. Sie war Gründungsmitglied des «Demokratischen Aufbruchs» und hatte mehrere Gastdozenturen in den USA und Großbritannien. Sie ist Mitglied des PEN sowie Trägerin unter anderem des Fontane-Preises, des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Luise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises. Bei Rowohlt sind bislang vierzehn Essay- und Sachbücher erschienen, zuletzt «Im Krieg verlieren auch die Sieger» (2022).

Demokratischer Abbruch


Günter Gaus bedenkend

Ich wollte immer in einer Demokratie leben. Aber nie im Kapitalismus. Westliches Selbstverständnis, das nur angeblich ideologiefrei ist, behauptet gern, der Kapitalismus brauche die Demokratie wie die Luft zum Atmen. Demokratie habe bisher überhaupt nur unter kapitalistischen Spielregeln funktioniert. Beides gehöre unabdingbar zusammen. Doch das ist ein Ammenmärchen.

Zunächst bleibt festzustellen: Die reine Lehre der Demokratie als Volksherrschaft ist vorerst noch nirgends realisiert gewesen. Das hehre Ideal zeigt sich in der Praxis, wie alle Ideale, immer als mehr oder weniger gelungene Annäherung. Wann wäre schon die jakobinische Forderung erfüllt gewesen, nach der das Parlament garantiert, dass die Legitimität der Regierung allein vom Volk ausgeht? In ihren günstigsten Momenten sind republikanische Staatsformen bisher zu wirtschaftlichem Gemeinwohl und zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung gezwungene Oligarchien gewesen. Einigen wir uns, dem allgemeinen Sprachverständnis folgend, großzügig darauf, diesen Sternstunden bereits das Gütesiegel Demokratie zu verleihen. Wohl wissend, dass in Sternstunden naturgemäß nicht auch noch die Sonne scheint.

Des Weiteren ist anzumerken: In Reinform hat auch der Kapitalismus nie existiert. Denn das Recht des Staates, Steuern zu erheben, ist das demokratisch legitimierte Recht zu permanenter Enteignung. Und wer gerade mehr oder weniger enteignet wird – das ist ein sicheres Indiz dafür, wer eine stärkere oder schwächere Lobby in der Regierung hat. Umgekehrt haben sich die Steuerzahler so ihr Recht auf politische Mitsprache erkauft: «No taxation without representation». Was in einer langen Phase als privilegiertes «je mehr Steuern, je mehr Mitsprache» missbraucht wurde, ist heute für viele Unternehmer sogar zu einem komfortablen «Erpressung ohne Steuern» geworden. Aber so weit sind wir im Text noch nicht. Zuvor ist nicht nur des Staates, sondern auch der Arbeiterbewegung zu gedenken; beide haben dem, was als Manchester-Kapitalismus begann, einen langen Lernprozess aufgenötigt.

Der Kapitalismus hat etwa hundert Jahre gebraucht, bis er für die Mehrheit der Bevölkerung ökonomisch offensichtlich attraktiv wurde. Obwohl in der Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA bereits Demokratie im oben genannten Sinne herrschte, war die Kombination mit dem aufkommenden Kapitalismus noch lange kein alle beglückendes Erfolgsmodell. Und auch in Europa gab es in diesen hundert Jahren freiheitliche, liberale Staatsformen, in denen der Kapitalismus keine Steigerung des Wohlstandes brachte, sondern in zwei Weltkriege führte: In Deutschland ist das reale Einkommen der Menschen zwischen 1914 und 1951 nicht gestiegen. Vielmehr haben viele alles verloren.

1947, als die CDU ihr Ahlener Programm verabschiedete, war selbst in Kirchen und konservativen Parteien Konsens, dass während der NS-Diktatur «das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben» verhängnisvoll gedeihen konnte: «Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden», hieß es dort. «Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen.» Folgerichtig vergatterte das Grundgesetz, wie übrigens auch schon die Weimarer Verfassung nach der Novemberrevolution, Eigentümer zur Sozialpflichtigkeit. Sie erließ die Spielregeln für demokratische Enteignungen. Von Privatisierungen war keine Rede. Dafür stellte 1952 auch das Betriebsverfassungsgesetz mit seinen weitgehenden Zugeständnissen für Mitbestimmung die Weichen in Richtung auf einen partnerschaftlichen «Rheinischen Kapitalismus».

Die soziale Marktwirtschaft begann ihren Siegeszug erst in den 50er Jahren – begünstigt durch die anziehende Konjunktur und den Konkurrenzdruck des sich ausbreitenden sozialistischen Weltsystems. (Obwohl, der Vollständigkeit halber sei der Allgemeinplatz angefügt, auch die Bedeutung «sozialistisch», gemessen am Ideal, beträchtliche Defizite aufwies. Die freiheitlichen Menschenrechte wurden weitgehend missachtet, dafür aber erstmalig der Beweis erbracht, dass die sozialen Menschenrechte nicht unerfüllbar sind.)

Die Siegermacht Sowjetunion hatte nicht nur den Sozialismus über Steppe und Tundra ausgeweitet, sondern auch den antikolonialen Bewegungen das Lied von der Freiheit gespielt und Gewerkschaften und kommunistischen Parteien in den westlichen Staaten die Arbeiterfaust geballt. Der Sozialstaat ist einst nicht vom Himmel gefallen, er war das Resultat harter sozialer Kämpfe, Streiks und Verhandlungen.

Derart in die Zange genommen, war es mehr als gutmütige Einsicht, dass die Kapitaleigner auf nicht unerhebliche Teile ihres Gewinnes zugunsten von Löhnen und Sozialleistungen verzichteten. Angesichts der Verhältnisse im Kräfteparallelogramm der Welt wäre alles andere ein unabsehbares Risiko gewesen. Unter dem Druck der Gegenbewegung war der Verzicht das sicherste Mittel der Gewinnoptimierung. Betriebswirtschaftlich denken hieß volkswirtschaftlich denken. Dem Gemeinwohl galt notgedrungen mehr Aufmerksamkeit als den Kapitalrenditen, und alle staunten: So also funktioniert Demokratie.

Und tatsächlich, zu ihren stabilisierenden Vorzügen gehört das System der checks and balances, das Eindämmen unbändiger Kräfte durch ausgleichende Gegenkräfte. Auf eine Demokratisierung der Produktionsmittel hat man in der Ära dieses Sozialvertrages verzichtet, was vielleicht leichtfertig war. Denn 94 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik haben keinen Anteil am Betriebsvermögen. Die kleine Gruppe der Eigentümer, früher Klasse genannt, erwirkte mit ihrer Kompromissbereitschaft eine Entpolitisierung und Entradikalisierung der Arbeiterbewegung und der Gewerkschaften. Antikapitalismus schien überflüssig geworden zu sein. In diesem blinden Winkel entwickelten sich nicht nur Privilegien und Korruption der Nomenklatura – der politischen Klasse, wie man heute sagt. Auch der Gewinn wurde allmählich wieder optimiert, was sich unter anderem in zunehmender Arbeitslosigkeit niederschlug. Und kaum war der Druck des Realsozialismus verpufft und das Vakuum mit erstarktem Neoliberalismus gefüllt, knallten die Peitschen der Ausbeuter wieder in der Luft, die die Profitmaximierung zum Atmen braucht.

Ob der Kapitalismus ohne das Gegengewicht eines nahen und mächtigen Sozialismus überhaupt sozial und demokratisch sein kann, ist nicht bewiesen. Die Indizien sprechen eher dagegen. Dass die amerikanische Variante immer härter war als die westeuropäische, hatte mit dem Radius der sozialen Strahlkraft des Realsozialismus zu tun. Ebenso der Umstand, dass beinahe zeitgleich mit dem sowjetischen Imperium auch das viel gepriesene skandinavische Modell in die Krise geriet, bald darauf auch andernorts für selbstverständlich gehaltene Errungenschaften der Arbeiterbewegung ein Ende fanden und schließlich das ganze Zeitalter der Sozialdemokratie.

Soziale Demokratie – entweder ist der Begriff eine Tautologie, oder er enthält das Eingeständnis, dass es auch unsoziale Demokratien gibt. Aber kann denn eine Politik, die vom Volke ausgeht, unsozial sein? Globalisierung bedeutet die ungebremste Ausdehnung der Profitmaximierung auf den ganzen Globus. Eine repressive Restauration. «Mehr Armut wagen – SPD», las ich unlängst auf Transparenten einer Protestdemo. Dabei gehören die exportstarken und subventionierten Großkonzerne Deutschlands ganz klar zu den Gewinnern der Globalisierung. Die Logik, einheimische Politik müsse urkapitalistischer werden, weil die Welt urkapitalistischer wird, ist ein Zirkelschluss, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, die bereit ist, die Demokratie zu opfern.

Demokratie bedeutet Volkssouveränität. Sie findet ihren Ausdruck in der Gesetzgebung. Politisch haben alle Menschen die gleichen Teilhaberechte, ihre Würde soll unverletzbar sein. Gleichzeitig der Profitwirtschaft ausgesetzt, sind sie aber weitgehend Mittel zum Zweck, Produktionsmittel, die austauschbar und verzichtbar sind. Ihre Erpressbarkeit macht ihnen Angst. Sie stehen in existenzieller Abhängigkeit von demokratisch nicht legitimierten Eigentümern, und das ist ein würdeloser Zustand. Die Freiheit, moralisch das Richtige zu tun, wird reduziert auf die Marktfreiheit. Souverän ist einzig der Eigentümer. Die politische Freiheit setzt die soziale voraus.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Die Teilung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative soll Missbrauch verhindern. Doch die Parlamente haben Macht an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben, alle haben also Macht an die Profitwirtschaft abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er guckt in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals?

Demokratie bedeutet Wahrung der Menschenrechte. Deren erstes, das Recht auf würdiges Leben in gesunder Umwelt ist absolut unvereinbar mit dem permanenten marktwirtschaftlichen Streben nach Maximalprofit und Wachstum. Reichtum gebiert Armut und Wachstum Erwärmung. Schmelzende Polkappen sind wie brennende Zündschnüre.

Demokratie bedeutet Rechtsstaatlichkeit. Doch emanzipatorische, soziale, demokratische, kulturelle und ökologische Standards gefährden den Standort. Da der immer gewaltsamer werdende Verteilungskampf um die Güter der...

Erscheint lt. Verlag 17.11.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte BRD • Christa • Christa Wolf • DDR • Demokratie • Demokratischer Aufbruch • Deutschland • Essays • Glaubwürdigkeit • Globalisierung • GRASS • Grass, Günter • Günter • Günter Grass • Kapitalismus • Portraits • Recht • Westliche Grundwerte • Wiedervereinigung • Wolf • Wolf, Christa
ISBN-10 3-688-10681-4 / 3688106814
ISBN-13 978-3-688-10681-3 / 9783688106813
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