Wo die Ostsee Westsee heißt (eBook)

Baltikum für Anfänger

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
256 Seiten
btb Verlag
978-3-641-22353-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wo die Ostsee Westsee heißt - Tilmann Bünz
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Für dieses Buch hat sich Tilmann Bünz in den Sattel geschwungen und ist von der kurischen Nehrung bis nach Narva gereist, mal mitten durch Estland, Lettland und Litauen, mal entlang einer Küste, die im Dornröschenschlaf liegt. Er erzählt von Erlebnissen und Begegnungen, von den verschwundenen Synagogen von Vilnius und der Renaissance der Holzhäuser von Riga, er verrät, wie man auf dem Kurischen Haff bei 20 Grad minus Stinte fangen kann und weshalb jeden Tag 100 Menschen aus Litauen auswandern. Und er erinnert an die größte Menschenkette aller Zeiten, die kurz vor dem Mauerfall den Anfang vom Ende der Sowjetunion bedeutete. Ein hintergründiges und aktuelles Geschichtenbuch für alle, die das Baltikum nicht nur bereisen, sondern verstehen wollen.

Tilmann Bu?nz, 1957 geboren, war lange Jahre ARD-Korrespondent für Skandinavien und die baltischen Staaten. Er ist Autor und Dokumentarfilmer. Für dieses Buch schwang er sich in den Sattel und radelte von Litauen über Lettland nach Estland. Er lebt in Hamburg und in den Schären vor Stockholm.

Erstes Kapitel


Onkel Toms Hütte und die Sahara des Nordens

Jenseits der Grenze ist Russland, links das Haff und rechts die Ostsee. Die Kurische Nehrung ist ein langer schmaler Sandstreifen, den man zu Fuß in einer halben Stunde durchqueren kann.

Ein magischer Ort, mit Sanddünen wie sonst nirgends in Europa. »Großartig und primitiv«, notierte Sommergast Thomas Mann Anfang der dreißiger Jahre. Schön und karg. Die Dünen der Nehrung sind so einzigartig in der Welt, dass die UNESCO sie zum Weltkulturerbe erklärt hat.

Von Kiel sind es 560 Seemeilen – ein Abend, eine Nacht und ein ganzer Tag auf dem Meer, die Fahrräder unten im Bauch der Fähre, vorbei an Bornholm und der polnischen Küste. Endstation ist Klaipėda, die Stadt an der Memelmündung. Früher hieß sie Memel und war Deutschlands nördlichster Hafen.

Von dort aus ist es nur ein Katzensprung auf die Kurische Nehrung, eine fast hundert Kilometer lange Sandbank im Memel-Delta, die nie zur Ruhe kommt. Die Weststürme treiben Sand heran, der Wind weht sie durch die Luft und setzt sie weiter ostwärts wieder ab. Eine Sandbank auf Wanderschaft. Die Menschen auf der Kurischen Nehrung sind es gewöhnt, dem Sand zu weichen. Wer zur größten Wanderdüne Nordeuropas will, läuft, ohne es zu ahnen, über drei versunkene Vorläufer des Ortes Nidden.

Nach zwei Kilometern zu Fuß durch die Dünen kommt man an einen Zaun, ein paar Windlichter an Kreuzen, Schilder, die mahnen, ja nicht weiter zu gehen. Dies ist die Außengrenze der EU.

Links runter führt Wanderweg 11 zum Haff – und plötzlich öffnet sich ein Durchschlupf zu einem kleinen Strand. Am äußeren Ende der Bucht wartet ein russisches Patrouillenboot auf Grenzverletzer, und aus dem Haff steigt die berühmte Hohe Düne. Aus der Ferne lässt sie an eine langgestreckte Majestät auf dem Diwan denken.

Den besten Blick auf die Schönheit hat man vom Wasser. Es bleibt lange flach und erinnert darin an das Steinhuder Meer bei Hannover, in dem, wie die Legende sagt, Ertrinkende durch einen Zuruf vom Ufer gerettet wurden: Versuch’s doch mal mit Laufen.

Den ersten Kilometer reicht das Wasser bis zum Knie, dann bis zu den Hüften. Die Dünenberge mit dem blauen Himmel erinnern tatsächlich an die Sahara. Oben, man ahnt sie mehr, als dass man sie sehen könnte, gehen die Litauer täglich auf Patrouille. Manchmal nehmen sie Ausra mit, dann darf auch ein reisender Reporter mit.

Ausra bedeutet »die Morgenröte«, mit vollem Namen heißt sie Ausra Feser, sie leitet den Nationalpark, durch den quer eine Grenze verläuft. Drüben ist der Oblast Kaliningrad, früher hieß Kaliningrad Königsberg. Immanuel Kant ist dort geboren.

Der Name sagt schon, dass es früher zu Ostpreußen gehörte. Die eine Hälfte der Nehrung ist russisch, die andere ist litauisch, bei Nidden verläuft die Grenze.

Ausra ist eine blonde, einnehmende Frau in den besten Jahren, gewitzt und durchaus machtbewusst. Was nicht wichtig ist, kann liegen bleiben. Da ist sie unbekümmert. Eine heitere Person mit einem Sinn fürs Absurde. Sie ist keine Karriere-Beamtin, sie lebt gerne hier auf dem letzten Zipfel Litauens, 360 Kilometer von der Regierung entfernt, auf ihrer geliebten Nehrung.

Als sie vor 26 Jahren nach Nidden kam, mit dem Geografie-Diplom aus Vilnius in der Tasche, traf sie bald den Reiseführer Werner, einen Deutschen. Bevor sie heirateten, sagte sie: »Glaub nicht, dass du mich hier jemals wegkriegst. Mach dir keine Hoffnung. Hier will ich leben.« Werner blieb, und sie kümmerten sich fortan gemeinsam um deutschsprachige Touristen auf der Nehrung, bis Ausra dann vor ein paar Jahren zur Oberaufseherin des Nationalparks ernannt wurde.

Wenn Ausra nicht einen der neben der Altstadt von Vilnius größten Schätze Litauens hütet, macht sie gerne ausgedehnte Wanderungen auf der Nehrung. Resolut wie sie ist, nimmt sie bei den Streifzügen auch gerne ein paar junge Fichten mit. »Es ist ein Jammer. Die Dünen verschwinden, und die Pflanzen breiten sich aus. Sehen Sie nur, alles grün und grau.« Tatsächlich sind Dünen eindrucksvoller, wenn sie aus reinem Sand bestehen. Wenn die ersten Pflanzen wachsen, verfärben sich die Dünen. Es ist ein Wettlauf: Sand gegen Pflanze – und Ausra kämpft für den Sand. Sie reißt die Bäumchen aus, damit das kleine Land an der Ostsee sein Stück Sahara behält.

Vom Winde verweht

Die Wanderdünen sind nicht von Anfang da gewesen, ebenso wenig wie der Wald. Es handelt sich eher um ein Ringen, um einen Zweikampf, ein ewiges Unentschieden. Die Eiszeit, so vermuten Forscher, hinterließ einen Binnensee, das heutige Haff. Durch Strömungen und Verwerfungen entstand ein langer Sandstreifen, der die Lagune vom Meer abtrennte. Dieser Sandstreifen wurde langsam zum Wald. Bis sich die Schiffbauer der wechselnden Reiche (Deutscher Ritterorden, Herzogtum Kurland und Zarenreich) ihre Planken und Masthölzer aus den Wäldern schlugen. Offenbar taten sie das so gründlich, dass die Nehrung Ende des 18. Jahrhunderts unbewohnbar wurde. Kein Wald schützte mehr die Handvoll Fischerdörfer wie Nidden und Schwarzort. Kein Wald hielt die Wanderdünen auf.

Bezeichnenderweise war es ein deutscher Postbeamter, der die Nehrung vor dem Schicksaal bewahrte, zur Wüste zu werden. Für die Postkutschen jener Zeit war die Fahrt über die Nehrung ein Albtraum. Die Fahrzeuge blieben stecken, der Sand drang überall ein. Ein Postweg, der die Postillione zur Verzweiflung trieb, liest man bei der litauischen Historikerin Nijole Strakauskeite: »Die Räder der Postkutsche waren halb im Wasser, halb im Sand, dazu pfiff den Boten ununterbrochen der Wind um die Ohren, dass sie davon halb verrückt wurden.« Georg David Kuwert, der damalige Leiter der Poststation in Nidden, begann 1825 mit der Aufforstung. Er pflanzte Bäume, ebenso tüchtig und systematisch, wie Ausra heute die Bäume wieder aus den Dünen rupft.

Sandkastenspiele

Es ist noch nicht lange her, da war dies ein belebter Grenzübergang, vor allem nachts und bei Nebel. Heute haben die Schmuggler schlechte Karten. Drohnen fliegen, Kameras drehen sich, alles wird erfasst. Ab und zu wird ein Urlauber mit unklaren Absichten aufgegriffen und sorgt für ein bisschen Unruhe auf beiden Seiten: Ein japanischer Tourist nachts um vier, angeblich auf Bernsteinsuche, aber ohne Taschenlampe. Ein Deutscher im Schlauchboot, aber ohne Karte.

Früher kamen Tausende aus Kaliningrad illegal und reichlich beladen. Sie brachten tonnenweise Zigaretten und Alkohol, aber auch synthetische Drogen und Blüten.

Als Litauen sich 2004 der Europäischen Union anschloss, hatte die EU plötzlich eine Außengrenze mit Russland – und Litauen war gehalten, diese Grenze zu schützen. Newcomer Litauen wollte zeigen, wie ernst es diese Grenze nimmt. Einst großer Bruder, jetzt Außenposten Moskaus mit viel Militär und Sitz der Russischen Ostseeflotte. Eine spannende Zeit, die ich als ARD-Auslandskorrespondent verfolgen durfte. Mit Estland, Lettland und Litauen traten drei ehemalige Sowjetrepubliken in die Europäische Gemeinschaft und in die NATO ein – eine heikle Operation direkt vor der Nase Moskaus. Das hatte es noch nie gegeben. Einer, der die Wiedergeburt des unabhängigen Litauens aus nächster Nähe miterlebt hat, ist der litauische Fernsehjournalist und Bürgerrechtler der ersten Stunde, Albinas Pilipauskas, ein mutiger, gewitzter Mann, mit wunderbar rollendem »R«, dunklem Schopf, dem Habitus eines Gentlemans und der seltenen Gabe, alle Türen zu öffnen. Im Zweifelfall stellte er sich aber auch vor die Türen, so geschehen, als sowjetische Truppen im Januar 1991 versuchten, das Parlament in Vilnius zu stürmen und die Unabhängigkeit zurückzudrehen.

Durch Albinas Vermittlung und mit amtlicher Genehmigung drehten wir den Alltag der Zöllner, flogen im Tiefflug knapp über dem Haff und dann in 30 Meter Höhe über die Dünen, Gebiete, die man sonst selten zu sehen bekommt. Sehenswert war auch unser Fluggerät, ein Hubschrauber sowjetischer Bauart, der viele Jahre lang als Ernteflugzeug gedient hat. Unverwüstlich und leicht zu orten an den schwarzen Abgasfahnen von unverbranntem Treibstoff, die er hinter sich herzog. Vorne gab es zwei Sitze und hinten zwei Bänke, so dass sich die Passagiere ins Gesicht gucken konnten, während ihnen langsam übel wurde. Wir flogen enge Kreise, sausten im Sinkflug Richtung Boden, stiegen ebenso schnell wieder auf und hielten uns an den Gurten fest. Der Pilot Wladimir Charcenko hatte eine Vergangenheit als sowjetischer Meister im Kunstflug.

An diesem Tag wurden wir Zeugen litauischer Umsicht. Zwei Grenzsoldaten, Mindaugas und Audrius, marschierten durch den Sand. Sie gingen tatsächlich zu Fuß, mit Rücksicht auf das Weltkulturerbe – Kilometer um Kilometer durchs Sperrgebiet an der Grenze. Am Ende ihrer Wüstenpatrouille verwischten sie sogar die eigenen Spuren. Sie pflegten die Wüste wie andere ihren Vorgarten. Sie nahmen Sand mit der Schaufel auf und streuten ihn über die eigenen Fußabdrücke – der jungfräuliche Sand soll ihnen helfen, Schmuggler schneller zu orten. Aber warum zu Fuß, warum nicht auf einem Kamel? Da grinsten beide – und sagten unisono: »Geschenkt würden wir ein Kamel schon nehmen.« Leider hatten wir gerade keins dabei.

Überflüssig zu sagen, dass der sowjetische Oldtimer so viel Lärm machte, dass sich weit und breit kein Schmuggler zeigte.

Schmuggler leben übrigens nicht ungefährlich. Das Betreten der Dünen ist streng verboten, sagt Ausra. »Da können Ladungen von mehreren Tonnen runterkommen, wenn jemand zu...

Erscheint lt. Verlag 11.6.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber
Reisen Reiseberichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Baltikum • eBooks • Estland • Lettland • Litauen • Reisen
ISBN-10 3-641-22353-9 / 3641223539
ISBN-13 978-3-641-22353-3 / 9783641223533
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