Buenos días, Kuba (eBook)

Reise durch ein Land im Umbruch
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2018 | 1. Auflage
352 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-1463-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Buenos días, Kuba - Landolf Scherzer
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Landolf Scherzer hat bei Reisen den Zufall auf seiner Seite. Kaum ist er auf Kuba, stirbt Fidel Castro, und er erlebt er ein Land im Ausnahmezustand. Um so drängender wird die Frage, wie die Ideale der Revolution in der Gegenwart bestehen. Wer in Kuba viel fragt, dem wird wenig erlaubt, lernt Scherzer schon am ersten Tag in Havanna. Also macht er es bei seinen Recherchen wie die Kubaner, er geht Umwege und improvisiert. Jede Busfahrt, jeder Einkauf, jeder Spaziergang beschert ihm überraschende Begegnungen und Lebensberichte. Er bewundert, wie unkonventionell die Kubaner den problematischen Alltag meistern und wie ungebrochen der Stolz auf die Revolution und ihre Errungenschaften ist. Aber mit Schlitzohrigkeit und Optimismus allein lassen sich die Konflikte, die die Öffnung Kubas mit sich bringt, nicht lösen. Was also muss bewahrt, was soll verändert werden?

Landolf Scherzer, 1941 in Dresden geboren, lebt in Thüringen. In seinen großen Langzeitreportagen wie »Der Erste«, »Der Zweite« und »Der Letzte« hat er seinen besonderen Blick für brisante Themen bewiesen. Ob nach China, Griechenland oder Kuba, immer wieder bricht er auf, um sich auf faszinierende Begegnungen und Alltagsabenteuer einzulassen, die der Zufall und seine Neugier ihm zuspielen.

Im Aufbau Verlag sind von ihm lieferbar: »Fänger & Gefangene. 2386 Stunden vor Labrador und anderswo«, »Die Fremden. Unerwünschte Begegnungen und verbotene Protokolle«, »Der Grenzgänger«, »Immer geradeaus. Zu Fuß durch Europas Osten«, »Letzte Helden«, »Urlaub für rote Engel«, »Madame Zhou und der Fahrradfriseur. Auf den Spuren des chinesischen Wunders«, »Stürzt die Götter vom Olymp. Das andere Griechenland«, »Der Rote. Macht und Ohnmacht des Regierens«, »Buenos días, Kuba. Reise durch ein Land im Umbruch«, »Weltraum der Provinzen. Ein Reporterleben« (zus. mit Hans-Dieter Schütt) und »Leben im Schatten der Stürme - Erkundungen auf der Krim«.

Von meinem Flug als Briefträger nach Havanna, einer kubanischen Methode, Autos zu reparieren, und gesparten 5 Euro beim Besuch des zweitgrößten Friedhofs von Amerika


Am Morgen nach meiner nächtlichen Ankunft in Havanna stehe ich auf Migdalias schmalem Balkon.

Ich blicke ungläubig in den von keinem Wölkchen getrübten azurblauen Novemberhimmel, blinzele in die schon heiße Sonne und sage laut und glücklich: »Buenos días, Havanna!«

Dann schaue ich von dem Balkon im dritten Stock hinunter auf eine von schwarzen Auspuffwolken der Autoschlangen vernebelte vierspurige Hauptstraße und, nur durch eine gelbe Mauer abgegrenzt, ein Meer von sarkophagähnlichen Grabstätten, gewaltigen Marmorplatten, Mausoleen, Denkmälern und sich auf Säulen zum Himmel reckenden Engeln. Ich wohne neben dem Friedhof.

Migdalia erklärt mir stolz, dass der Cementerio Cristóbal Colón, der Friedhof Christoph Kolumbus, der zweitgrößte Friedhof Amerikas ist.

»Über 50 Hektar. Fast 1 Million Tote liegen hier. Auch mein geschiedener Mann. Wir haben es nicht weit«, sagt sie.

Ich weiß nicht, ob ich darüber froh sein soll. Und vielleicht hätte ich an meinem ersten Tag auf Kuba, am 25. November 2016, alles andere machen sollen, als nach dem Frühstück in der ungewohnten Hitze stundenlang den zweitgrößten Friedhof Amerikas zu erkunden. Ich hätte zum Beispiel meine Arbeit als Postbote beginnen können, denn ich bin nicht nur als Tourist, sondern auch als ehrenamtlicher Eilbriefträger (ansonsten ist ein Brief 2 bis 3 Monate unterwegs) nach Kuba geflogen.

Der erste Blick vom Balkon: der Cementerio Cristóbal Colón

In meinem Handgepäck, einem roten Rucksack, lag bis zur Ankunft zuoberst ein unterschriebener Scheck über 30000 Euro. Das Geld hatten Mitglieder und Freunde des deutschen Solidaritätsvereins KarEn gespendet, damit im Osten von Kuba Wohnhäuser, Fabriken und Ställe, die der Hurrikan »Matthew« vor 3 Monaten zerstört hat, wieder aufgebaut werden können. Den Scheck sollte ich, falls der sozialistische Zoll ihn nicht beschlagnahmen würde, Hilda, der kubanischen Kontaktperson von KarEn, bei der Ankunft auf dem Flughafen aushändigen.

Im dicksten Kuvert schickte ein Kubaner, der in Berlin lebt, an Carlos Manuel Menéndez, einen ehemaligen Mitarbeiter des kubanischen Außenhandelsministeriums, ein Manuskript und Fotos vom gemeinsamen Ökonomiestudium in der DDR.

Egon Hammerschmied hat mich beauftragt, dem früheren Reiseleiter Alberto Suzarte, dessen Auto nicht mehr anspringt, eine neue Batterie zu kaufen oder ihm 100 Euro dafür zu übergeben.

In zwei kleinen Frachtbriefen habe ich für meine Ansprechpartner in Havanna, den Korrespondenten Andreas Knobloch und die seit über einem Jahr hier unter anderem Marxismus studierende Julie, fleischlose Wurst eingepackt.

Der 91-jährige Erfurter Rentner Karl-Heinz Voigt hatte 2015 seinen Garten verkauft und den Erlös KarEn gespendet. Davon sollten für kubanische Bauern, die in den Bergen von Candelaria noch ohne Elektrizität leben mussten, Solaranlagen errichtet werden. Eine Lageskizze habe ich nicht, nur den Namen eines der Dörfer: La Guinea, westlich von Havanna gelegen. Ich werde also suchen müssen.

Die Thüringer Parlamentsabgeordnete Ina Leukefeld hat mir die Telefonnummer von Anna-Maria geschickt und gebeten, der Frau, die sie 2004 bei einem Besuch in Havanna kennengelernt und danach nie wieder gesehen hat, ihre Mailadresse und 50 Euro zu geben.

Die beiden politisch gewichtigsten Briefe erhielt ich vom Vorstand der VR-Bank Bad Salzungen/Schmalkalden. Adressiert sind sie an die kubanischen Ministerien für Wirtschaft und Tourismus. Die Thüringer Genossenschaftsbank schlägt darin vor, Windräder und Ferienhäuser zu finanzieren. Was nicht einfach ist, denn die schon vor 56 Jahren von den USA erlassene Wirtschaftsblockade verbietet Banken, in Kuba zu investieren. (Im vergangenen Jahr musste die Commerzbank wegen Zuwiderhandlung 1,7 Milliarden Dollar Strafe zahlen.) Ich soll diese Briefe in den Ministerien persönlich abgeben und mir die Aushändigung bestätigen lassen. Doch ich habe nur ein Touristenvisum …

Von Gitarrensaiten und Kabelbindern, die Claudia Fenske aus Berlin ihrem Salsa-Tanzlehrer Miguel schenken will, konnte ich in der Hektik vor dem Abflug nur noch einen Beutel Kabelbinder besorgen.

Für den »Chef der kubanischen Vegetarier« Tito Núñez nahm ich im Auftrag der deutschen Gruppe »Gesünder leben« ein Dutzend Wiesenkräuterrezepte mit, und schließlich hatte mir Maikel, ein ehemaliger Mitarbeiter von ICAP, dem kubanischen Institut für Völkerfreundschaft, versprochen, nach den ersten Tagen ein preiswertes Quartier zu besorgen. Er bat dafür lediglich um ein Sitzkeilkissen gegen seine Rückenschmerzen.

Diese ganze »Post« sollte ich in Havanna zustellen. Ich dachte, dass es schnell gehen würde. Das war falsch. Genauso falsch wie die Ratschläge von Kuba-Experten in verschiedenen Reiseführern. Sie schrieben, dass sich die Kubaner trotz des Mangels im Land immer akkurat kleiden. Bei privaten Verabredungen und offiziellen Begegnungen würden sie nur lange Hosen und Hemden tragen. Ich hatte also 2 lange Hosen und 3 Hemden mitgenommen. Nicht eine kurze Hose. Außerdem wird in einem aktuellen Reiseführer behauptet, dass Männer in Kuba keine Sandalen anziehen. Sandalen wären ein Zeichen für Homosexualität, und Homosexuelle würden nach wie vor ausgegrenzt. Ich packte anstelle der bequemen Sandalen Turnschuhe und ein Paar glänzende Lederhalbschuhe ein. Ich wollte alles richtig machen.

Am schwierigsten war es, das sperrige Kissen für Maikel, für das der Rucksack zu klein war, nicht irgendwo liegenzulassen. Zuerst im Zug nach Berlin. Danach im Treptower Nachtquartier. Oder im Taxi, in dem mich ein Türke in aller Herrgottsfrühe zum Flughafen Tegel fuhr. Im Check-in-Wartesaal. Bei der Gepäckaufgabe, der Personenkontrolle, im Abflugraum. Jedes Mal schaute ich auf meine Hände und zählte eins und zwei: Rucksack und Kissen. Nur einmal habe ich das Zählen vergessen: in unserer Zubringermaschine von Berlin nach Düsseldorf.

Wir saßen schon angeschnallt im Flugzeug. Doch bevor die Stewardess ihre Sicherheitsgymnastik absolvierte, teilte sie mit, dass die Funkanlage wahrscheinlich falsch geschaltet sei. Man werde den Fehler sehr schnell finden. Eine Viertelstunde später informierte sie die »verehrten Fluggäste«, dass die Anlage defekt sei. Sie würde sofort repariert. Nach 10 Minuten schlurften zwei Handwerker mit Werkzeugkoffern ins Cockpit. Unruhige Blicke auf die Uhren. Bereits 25 Minuten Verspätung. Wenn der Flieger nach Havanna pünktlich in Düsseldorf startete …

Als die Stewardess sich im Namen des Kapitäns erst auf Deutsch, dann auf Englisch entschuldigte, dass die Reparatur länger als erwartet dauern könnte, aber kein Wort über den Weiterflug nach Havanna verlor, begannen die ersten Fluggäste zu murren und endlich laut zu schimpfen. Der Kubaner neben mir, dessen sonst kahlgeschorenen dunklen Kopf ein glänzender schwarzer Irokesenkamm zierte, blieb dagegen seelenruhig. Ich nahm an, dass er weder des Deutschen noch des Englischen mächtig war und die Situation deshalb nicht einschätzen konnte. Ich irrte mich. Er legte seine Hand auf mein Bein und sagte auf Spanisch: »Vamos a ver« und wiederholte auf Deutsch: »Wir werden sehen.« Es sei doch alles gut, es werde schon repariert. Und wie um mich zu trösten, stellte er sein abgeschaltetes Smartphone noch einmal an, wischte sehr lange und zeigte mir ein Video von der Reparatur seines 40 Jahre alten Autos in Havanna.

Sich gegenseitig anschreiende Männer zogen das Hinterteil des Transporters auf einen Mauervorsprung. Deutlich war zu erkennen, dass der Auspuff an mehreren Stellen gerissen war und nur noch von blanken Elektrokabeln gehalten wurde. Durch die Bodenplatte konnte man das Innere des Autos und durch das Dach sogar den blauen Himmel sehen. Um das Loch zu flicken, schlugen die Männer einen defekten Toilettenspülkasten platt, und weil auch Schrauben fehlten, befestigten sie die Ersatzplatte mit krummen Nägeln, die mein Nachbar mit einer Zange zusammenrödelte. Den Auspuff ersetzten sie durch ein dickes Rohr, das sie wahrscheinlich von einer alten Belüftungsanlage abmontiert hatten. Die Erneuerung der Kabel war in dem 3-Minuten-Video nicht mehr zu sehen.

Der Kubaner versicherte lachend: »Alles wird gut. Man muss nur Geduld haben.«

Die Monteure der Funkanlage hatten keine Geduld. Als sie ausgestiegen waren, bat die Stewardess auch die »verehrten Fluggäste«, das Flugzeug zu verlassen. Ich vergaß dabei, bis zwei zu zählen, und musste mich gegen den Strom der Aussteigenden bis zu meinem Platz zurückdrängeln. Das Keilkissen lag noch auf dem Sitz.

Eine halbe Stunde später stand ein Ersatzflugzeug bereit, und der Jumbojet nach Havanna wartete in Düsseldorf. Nach dem Start klopfte mir der Kubaner, der nun hinter mir saß, auf die Schulter. Er strich sein T-Shirt, auf dem sich die USA-Flagge über Brust und Rücken spannte, glatt, bestellte bei der Stewardess einen Cuba Libre, den er nicht bekam, schaltete den Rücksitzbildschirm an, wählte nicht den Tarzan-Dschungelkrimi, sondern eine englische Serie über superreiche Villenbesitzer und sagte wieder lachend: »Siehst du, alles wird immer gut!« Ich hätte ihm am liebsten die für Miguel bestimmten 100 Kabelbinder geschenkt. Doch die lagen im Koffer. Das bewahrte mich davor, meine Vertrauensstellung als Briefträger schon auf dem Hinflug in Frage zu stellen.

Für den...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2018
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Sachbuch/Ratgeber
Geisteswissenschaften
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte che • Che Guevara • Fidel • Fidel Castro • Havanna • Kuba • Landolf Scherzer • Lebensbericht • Lebensberichte • Lebenssituationen • Reisebericht • Revolution • Santeria • Sozialismus • Umbruch • Voodoo
ISBN-10 3-8412-1463-0 / 3841214630
ISBN-13 978-3-8412-1463-8 / 9783841214638
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