Aus dem Volkskörper entfernt?

Homosexuelle Männer im Nationalsozialismus

(Autor)

Buch | Hardcover
695 Seiten
2018
Campus (Verlag)
978-3-593-50863-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Aus dem Volkskörper entfernt? - Alexander Zinn
49,95 inkl. MwSt
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Über Jahrzehnte tabuisiert, rückt die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Diktatur erst in jüngster Zeit ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Woran es bislang mangelte, waren überregionale Untersuchungen, die einen Überblick über Alltag und Verfolgung Homosexueller im "Dritten Reich" geben. Alexander Zinn legt nun eine Studie vor, die eine neue und umfassende Sicht auf dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte ermöglicht. Im Fokus stehen nicht nur das Verfolgungsprogramm der Machthaber, das sich immer weiter radikalisierte, sondern auch die Rolle von Polizei, Justiz und Bevölkerung sowie - nicht zuletzt - die der Betroffenen selbst. Mit überraschenden Ergebnissen: So klafften Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgungspolitik oft eklatant auseinander. Denn nicht immer erwiesen sich die Behörden als die "willigen Vollstrecker", als die man sie heute meist sieht. Und auch die Bevölkerung arbeitete dem Verfolgungsapparat in weit geringerem Maße zu, als bislang oft unterstellt.
Über Jahrzehnte tabuisiert, rückt die Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Diktatur erst in jüngster Zeit ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Woran es bislang mangelte, waren überregionale Untersuchungen, die einen Überblick über Alltag und Verfolgung Homosexueller im »Dritten Reich« geben. Alexander Zinn legt nun eine Studie vor, die eine neue und umfassende Sicht auf dieses dunkle Kapitel der deutschen Geschichte ermöglicht. Im Fokus stehen nicht nur das Verfolgungsprogramm der Machthaber, das sich immer weiter radikalisierte, sondern auch die Rolle von Polizei, Justiz und Bevölkerung sowie - nicht zuletzt - die der Betroffenen selbst. Mit überraschenden Ergebnissen: So klafften Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgungspolitik oft eklatant auseinander. Denn nicht immer erwiesen sich die Behörden als die »willigen Vollstrecker«, als die man sie heute meist sieht. Und auch die Bevölkerung arbeitete dem Verfolgungsapparat in weit geringerem Maße zu, als bislang oft unterstellt.

Alexander Zinn, Dr. phil., ist Soziologe und Historiker.

Inhalt
Vorwort 9
1. Einführung 11
1.1 Überblick über den Forschungsstand 11
1.2 Thema, Fragestellung und Thesen 16
a) Alltag: Freiräume und Beschränkungen homosexuellen Lebens 17
b) Verfolgung: Umsetzung und Wirkung im regionalen Vergleich 19
1.3 Quellen, Begriffe und Methoden 24
1.4 Konstruktivismus versus Essentialismus 32
1.5 Homosexualität als Stigma 37
a) Visibilität 39
b) Stigma-Management 40
c) Strategien und Risiken der Täuschung 43
d) Die Diskreditierung: Enttarnung und Offenbarung 45
e) Die Technik des Kuvrierens 48
f) Entziffern und Enttarnen - die Rolle des Publikums 51
g) Seinesgleichen und Weise 53
h) Das Stigma-Konzept als Instrument der historischen Analyse 57
2. Homosexualität in den Jahren 1871-1930 58
2.1 Kriminalisierung: Der § 175 und seine Folgen 58
2.2 Fremdbilder: Gängige Klischees und Diskurse 63
2.3 Selbstbilder: Identitäts- und Emanzipationskonzepte 71
3. Homosexueller Alltag in den 30er Jahren 79
3.1 Zur Sozialstruktur des Altenburger Landes 81
3.2 Differenzerfahrung und Geschlechtsidentität 83
3.3 Erste sexuelle Erfahrungen 94
3.4 Erste Kontakte mit "seinesgleichen" 101
3.5 Homosexuelle Welten: Milieus und Stigma-Management 106
3.6 Bäuerlich-ländliches Milieu 111
3.7 Proletarisch-urbanes Milieu 125
3.8 Kleinbürgerliches Milieu 161
3.9 Bildungs- und großbürgerliches Milieu 192
3.10 Resümee: Stigma-Management und Milieu 230
4. Verfolgung auf Reichsebene 243
4.1 Positionen und Konflikte innerhalb der NSDAP 243
4.2 Repression, Anpassung, Hoffnung: Die Jahre 1933/34 250
4.3 Der "Röhm-Putsch" und die Folgen 260
4.4 Beginn der Homosexuellenverfolgung durch die Gestapo 265
4.5 Die Verschärfung des § 175 und die Rolle der Justiz 279
4.6 Intensivierung und Institutionalisierung: 1936-1939 289
4.7 Homosexuelle in Straf- und Konzentrationslagern 309
4.8 Zwischen Pragmatismus und Radikalisierung: 1939-1945 320
4.9 Verfolgung aus ideologischen oder taktischen Gründen? 328
5. Verfolgung auf Landesebene: Thüringen 343
5.1 Zwischen Hoffnung und Anpassung: 1930-1934 343
5.2 Der Fall Ziegler und die Folgen: 1934/35 350
5.3 Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgung: 1936-1939 358
a) Auftakt der Verfolgung in Weimar und Altenburg 359
b) Schulungen von Staatsanwaltschaft und Polizei 362
c) Die Entwicklung der Verfolgung in den Jahren 1938/39 366
d) Sozial- und Altersstruktur der Beschuldigten 372
e) Die Rolle der Bevölkerung 378
f) Die Rolle von Presse und Öffentlichkeit 383
g) Die Reaktionen der Betroffenen 387
h) Dienststrafverfahren als Instrument der Verfolgungspolitik 391
i) "Erforschung" der Homosexualität 396
5.4 Bedeutungsverlust und Radikalisierung: 1939-1945 401
6. Verfolgung auf lokaler Ebene: Altenburg 411
6.1 Zwischen Kontinuität und Gleichschaltung: 1930-1934 411
a) Strafverfolgung und Repressionen 411
b) Gleichschaltung von Polizei und Justiz 415
c) Reaktionen der Homosexuellen 419
6.2 Verfolgung und Verunsicherung: 1934-1936 422
a) Stimmungsumschwung nach dem "Röhm-Putsch" 422
b) Razzien und Verhaftungen in den Nachbarländern 424
c) Verfolgungstätigkeit der Altenburger Behörden 425
d) Personelle Entwicklung der Verfolgungsbehörden 427
e) Reaktionen Homosexueller 432
6.3 Die Verfolgungswelle von 1937 434
a) Ursachen und Ablauf der Ermittlungen 434
b) Reaktionen von Beschuldigten und Angehörigen 444
c) Prozesse und Urteile 454
d) Reaktionen von Presse und Öffentlichkeit 461
e) Strafvollstreckung, Begnadigungen und KZ-Einweisungen 467
f) Ehren- und berufsrechtliche Konsequenzen 476
6.4 Ruhe nach dem Sturm? Die Jahre 1938-1945 480
a) Alltag und Stigma-Management nach den Prozessen von 1937 480
b) "Ganz oder fast ganz abgeschlossen" - die Verfolgung seit 1938 488
6.5 Homosexualität, Pädophilie und Propaganda 492
7. Rehabilitierung? Die Situation nach 1945 500
7.1 Der Kampf um eine Entnazifizierung des Strafrechts 500
7.2 Maßnahmen zur Entnazifizierung der Justiz 510
7.3 Bemühungen um Rehabilitierung und Wiedergutmachung 520
8. Resümee 532
9. Anmerkungen 546
10. Literatur und Quellen 636
10.1 Ungedruckte Quellen 636
10.2 Periodika, Adressbücher und Entscheidungssammlungen 639
10.3 Gedruckte Quellen und Literatur 642
11. Abkürzungen 664
12. Tabellen 666
13. Verfolgte aus dem Altenburger Land 687
13.1 In Altenburg 1935-1944 nach §§ 175/175a Verurteilte 687
13.2 Häftlinge in Straf- und Konzentrationslagern 689
13.3 Todesfälle im Zuge der Homosexuellenverfolgung 693
Danksagung 695

»Das Schicksal homosexueller Männer im NS-Staat hat bis heute nicht nur von der Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit erhalten, sondern auch von der Forschung. Dieses Werk eines Historikers arbeitet die Verfolgung profund auf und macht das Leid mit vielen Beispielen anschaulich.« P.M., 15.09.2018»Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Das ist die Quintessenz von Alexander Zinns Dissertation über homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Man sollte den Gegenstand nicht mehr nur aus der Opferperspektive betrachten. [...] Zinns differenzierte Darstellung ist ein Grundlagenwerk, mit den von ihm benannten Forschungslücken ermuntert er zur Weiterarbeit.« Sabine Lueken, konkret, 10.10.2018»Verfolgung und Alltag Homosexueller im Nationalsozialismus blieben noch jahrzehntelang Tabuthemen. Der Historiker und Soziologe Zinn legt eine sehr umfassende Studie vor, die das Zeug zum Standardwerk hat und einige überraschende Fakten aufbieten kann.« P.M. History, 15.09.2018»Zinn [gelingt es] in beeindruckender Weise, Netzwerke zu rekonstruieren, Räume der Konraktanbahnung aufzufinden - vom Kunstverein über Lokale bis hin zu öffentlichen Toiletten - und das wissende Beschweigen der Homosexualität im familiären und sozialen Umfeld zu analysieren. Dabei zeigt sich immer wieder ein aus heutiger Sicht überraschendes Selbstbewusstsein.« Benno Gammerl, Jahrbuch Sexualitäten, 11.07.2019»Die vielen Fakten und Zahlen [bekommen] noch einmal einen Namen und eine individuelle Geschichte, sowohl für jene, die nicht überlebten, aber auch die anderen, für die die strafrechtliche Verfolgung unter unverändertem Nazi-Paragraphen nach 1945 weiterging.« Elmar Kraushaar, Berliner Zeitung, 11.06.2018»[Zinns] bemerkenswerte Studie 'Aus dem Volkskörper entfernt'? beleuchtet nicht nur Einzelaspekte der Homosexuellenverfolgung, und das - man glaubt es kaum - zum ersten Mal ausführlich seit der Arbeit von Burkhard Jellonnek 1990. Zudem handelt es sich erstmals um einen überregionalen Ansatz, der sich von der Opferperspektive löst.« Florentine Kutscher, Die WELT, 22.04.2018»Facettenreich zeichnet [Alexander Zinn] ein umfassendes Bild der Lebenssituation homosexueller Manner verschiedener sozialer Milieus im 'Dritten Reich'. Sie werden nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteure mit Handlungsspielraum gezeigt.« Johann Karl Kirchknopf, L'Homme, 1/2020

»Das Schicksal homosexueller Männer im NS-Staat hat bis heute nicht nur von der Gesellschaft wenig Aufmerksamkeit erhalten, sondern auch von der Forschung. Dieses Werk eines Historikers arbeitet die Verfolgung profund auf und macht das Leid mit vielen Beispielen anschaulich.« P.M., 15.09.2018

»Es ist Zeit für einen Paradigmenwechsel. Das ist die Quintessenz von Alexander Zinns Dissertation über homosexuelle Männer im Nationalsozialismus. Man sollte den Gegenstand nicht mehr nur aus der Opferperspektive betrachten. [...] Zinns differenzierte Darstellung ist ein Grundlagenwerk, mit den von ihm benannten Forschungslücken ermuntert er zur Weiterarbeit.« Sabine Lueken, konkret, 10.10.2018

»Verfolgung und Alltag Homosexueller im Nationalsozialismus blieben noch jahrzehntelang Tabuthemen. Der Historiker und Soziologe Zinn legt eine sehr umfassende Studie vor, die das Zeug zum Standardwerk hat und einige überraschende Fakten aufbieten kann.« P.M. History, 15.09.2018

»Zinn [gelingt es] in beeindruckender Weise, Netzwerke zu rekonstruieren, Räume der Konraktanbahnung aufzufinden – vom Kunstverein über Lokale bis hin zu öffentlichen Toiletten – und das wissende Beschweigen der Homosexualität im familiären und sozialen Umfeld zu analysieren. Dabei zeigt sich immer wieder ein aus heutiger Sicht überraschendes Selbstbewusstsein.« Benno Gammerl, Jahrbuch Sexualitäten, 11.07.2019

»Die vielen Fakten und Zahlen [bekommen] noch einmal einen Namen und eine individuelle Geschichte, sowohl für jene, die nicht überlebten, aber auch die anderen, für die die strafrechtliche Verfolgung unter unverändertem Nazi-Paragraphen nach 1945 weiterging.« Elmar Kraushaar, Berliner Zeitung, 11.06.2018

»[Zinns] bemerkenswerte Studie ›Aus dem Volkskörper entfernt‹? beleuchtet nicht nur Einzelaspekte der Homosexuellenverfolgung, und das – man glaubt es kaum – zum ersten Mal ausführlich seit der Arbeit von Burkhard Jellonnek 1990. Zudem handelt es sich erstmals um einen überregionalen Ansatz, der sich von der Opferperspektive löst.« Florentine Kutscher, Die WELT, 22.04.2018

»Facettenreich zeichnet [Alexander Zinn] ein umfassendes Bild der Lebenssituation homosexueller Manner verschiedener sozialer Milieus im ›Dritten Reich‹. Sie werden nicht nur als Opfer, sondern auch als Akteure mit Handlungsspielraum gezeigt.« Johann Karl Kirchknopf, L'Homme, 1/2020

Vorwort Über Jahrzehnte tabuisiert, rückt die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung erst seit den neunziger Jahren ins Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Auch die historische Forschung tat sich lange schwer mit dem Thema. Inzwischen liegt zwar eine ganze Reihe von Detail- und Regionalstudien vor, insbesondere zur Situation in einigen Großstädten. Woran es jedoch mangelt, sind überregionale Untersuchungen, die einen Überblick über Alltag und Verfolgung Homosexueller im "Dritten Reich" geben. Mit diesem Buch wird das Thema nun neu und umfassend in den Blick genommen. Im Fokus steht dabei nicht nur die Verfolgungspolitik der Machthaber, die sich in den Jahren der NS-Herrschaft immer weiter radikalisierte, sondern auch die Rolle von Polizei, Justiz und Bevölkerung sowie - nicht zuletzt - die der Betroffenen selbst. Konzentrierte sich die Aufarbeitung der Homosexuellenverfolgung bislang auf das wahnwitzige Verfolgungsprogramm der Gestapo und dessen Opfer, so nimmt diese Studie verstärkt die Probleme in den Blick, die es bei der praktischen Umsetzung gab und fragt nach den Auswirkungen auf das alltägliche Leben. Mit welchem Elan setzten Polizei- und Justizbehörden den 1935 verschärften § 175 des Strafgesetzbuches durch, der die "Unzucht" unter Männern mit Gefängnis bedrohte? Wie viele Homosexuelle gerieten in das Visier der Verfolgungsbehörden und wie hoch war der Anteil derjenigen, die sich einer Bestrafung entziehen konnten? Wie reagierte die Bevölkerung und welche Spielräume gab es - trotz alledem - für homosexuelles Leben? Die Untersuchung kommt zu teilweise überraschenden Ergebnissen: Anders als gemeinhin angenommen, klafften Anspruch und Wirklichkeit der Verfolgungspolitik oft eklatant auseinander. Die radikale Rhetorik, mit der SS und Gestapo versuchten, den Verfolgungseifer anzuheizen, täuscht leicht darüber hinweg, dass es in der Praxis massive Probleme gab. Denn nicht immer erwiesen sich die regulären Polizei- und Justizbehörden als die ›willigen Vollstrecker‹, als die man sie heute oft wahrnimmt. Und auch die Bevölkerung arbeitete dem Verfolgungsapparat keineswegs in dem Maße zu, wie es bislang meist unterstellt wurde. Diese Studie soll dazu beitragen, eine differenziertere Perspektive auf die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung zu gewinnen. Dazu gehört auch eine kritische Betrachtung der Überschneidungen von NS-Bewegung und Homosexuellenszene. Dass sich SS-Chef Heinrich Himmler mit der von ihm konzipierten Verfolgungspolitik durchsetzen konnte, war kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis eines harten Machtkampfes, der im Juli 1934 in der Ermordung des homosexuellen SA-Stabschefs Ernst Röhm gipfelte. Die Verschwörungstheorie einer Unterwanderung des NS-Staates durch Homosexuelle, mit der die Verfolgung gerechtfertigt wurde, ist ohne dieses Vorspiel ebenso wenig verständlich wie der daraus resultierende Verfolgungseifer Himmlers und der Gestapo. Alexander Zinn, Berlin im März 2018 1. Einführung 1.1 Überblick über den Forschungsstand Die nationalsozialistische Verfolgung homosexueller Männer ist, im Gegensatz zur Geschichte vieler anderer Verfolgtengruppen, auch siebzig Jahre nach der Befreiung nur lückenhaft erforscht. Die Ursachen dafür sind vielfältig. In den ersten drei Jahrzehnten bestand allein schon auf-grund der fortgesetzten Kriminalisierung und Stigmatisierung Homosexueller kaum ein Interesse an einer historischen Aufarbeitung. In der Bundesrepublik wurden die Paragrafen 175 und 175a des Strafgesetzbuches in der von den Nationalsozialisten 1935 geschaffenen Fassung noch bis 1969 angewandt. Eine Anerkennung als Verfolgte blieb den Homosexuellen ebenso versagt wie eine angemessene Entschädigung. Und auch in der DDR, in der der § 175 bis 1968 in der etwas milderen Weimarer Fassung weiter bestand, verweigerte man den "Rosa-Winkel-Häftlingen" die Anerkennung als "Opfer des Faschismus". Unter diesen Rahmenbedingungen konnten und wollten die meisten Verfolgten über ihr Schicksal keine Auskunft geben. Die historische Aufarbeitung scheiterte jedoch nicht nur an einem Mangel an biografischen Quellen. Erschwert wurde sie auch dadurch, dass wichtige amtliche Quellen vernichtet wurden. Ein Teil wurde von der SS verbrannt, ein Teil ging durch Kriegseinwirkung verloren und auch in der Nachkriegszeit wurden viele relevante Dokumente durch die Staatsanwaltschaften vernichtet oder durch Archive "kassiert". In der etablierten Geschichtswissenschaft zeigten sich aber auch große Berührungsängste gegenüber dem Thema. Lange Zeit wurde es weitgehend tabuisiert. Wenn Homosexualität eine Rolle spielte, dann lediglich bei den Ereignissen, bei denen sie den Nationalsozialisten dazu diente, die Verfolgung (vermeintlicher) Gegner zu begründen: beim "Röhm-Putsch" 1934, beim Kampf gegen die bündische Jugend und bei den Sittlichkeitsprozessen gegen katholische Ordensangehörige. Wie auch bei der Absetzung des Generalobersten von Fritsch etablierte sich die Sichtweise, der Vorwurf der Homosexualität sei lediglich als ein "Vorwand" genutzt worden, um politische Gegner auszuschalten - ein hartnäckiges Paradigma, das lange den Blick auf die breit angelegte Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten verstellte. Dass die NS-Führung in der Homosexualität, wie es der Gestapo-Mitarbeiter Gerhard Kanthack 1935 formulierte, eine "Staatsgefahr mindestens vom gleichen Umfange wie der Kommunismus" gesehen haben könnte, wurde nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Bis Mitte der siebziger Jahre war die Homosexuellenverfolgung für die Geschichtswissenschaft kein ernstzunehmender Gegenstand. Und auch danach waren es nur einige wenige Wissenschaftler, vor allem aber die "Betroffenen" selbst, Vertreter der neuen deutschen Schwulenbewegung, die die historische Aufarbeitung vorantrieben. Bernd Hergemöllers Ein-schätzung aus dem Jahr 1999, die "deutschsprachige Historiographie" sei "noch weit davon entfernt, das Thema Homosexualitäten als gleichberechtigten und notwendigen Bestandteil des Wissenschaftskanons wahrzunehmen, zu akzeptieren und zu institutionalisieren", kann trotz einiger Fortschritte in den vergangenen Jahren auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. Als Standardwerk zum Thema gilt nach wie vor der von Rüdiger Lautmann 1977 veröffentlichte, gerade einmal 40 Druckseiten umfassende Beitrag zum "rosa Winkel in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern". Tatsächlich war Lautmanns Untersuchung bahnbrechend, hatten er und seine Forscherkollegen doch erstmals Zugang zum Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen bekommen und die dortigen Akten stichprobenartig auswerten können. Auf dieser Basis konnten wichtige Erkenntnisse gewonnen werden. Dennoch blieben Lautmanns Ergebnisse teilweise recht vage. Die Schätzung von 10.000 Rosa-Winkel-Häftlingen ist mit einem großen Unsicherheitsfaktor verknüpft, denn nach Lautmann könnten es ebenso "5.000, aber auch an die 15.000 gewesen sein". Es sagt viel über den Forschungsstand zur NS-Homosexuellenverfolgung, dass diese grobe Schätzung bislang nicht weiter präzisiert werden konnte und als das einzig seriöse Ergebnis gilt. Seit Lautmanns Studie ist eine ganze Reihe von Publikationen zu diversen Aspekten der NS-Homosexuellenverfolgung erschienen. Viele Studenten und Doktoranden haben an dem Thema gearbeitet. Ganz erheblich haben auch Geschichtsinitiativen, die aus der Schwulenbewegung entstanden sind, so zum Beispiel das Schwule Museum in Berlin, zur Aufarbeitung beigetragen. Nicht alle Publikationen genügen jedoch wissenschaftlichen Anforderungen. Der dürftige Forschungsstand führte mitunter auch zu starken Übertreibungen. In den siebziger und frühen achtziger Jahren wurde in einigen Büchern die hanebüchene Legende von einem schwulen "Homocaust" mit hunderttausenden KZ-Opfern verbreitet. Einige der Publikationen zur Situation lesbischer Frauen kolportierten die nicht zu belegende Legende über lesbische Frauen als Verfolgtengruppe in NS-Konzentrationslagern. Die bislang einzige seriöse Überblicksdarstellung über "Homosexuelle unter dem Hakenkreuz" publizierte Burkhard Jellonnek 1990. Neben den wichtigsten Entwicklungen auf Reichsebene untersuchte er die Ermittlungsmethoden der Gestapo in drei Regionen und erhob verschiedene Sozialdaten Verfolgter, anhand derer er Rückschlüsse auf die Lebenssituation männlicher Homosexueller im "Dritten Reich" zog. Eine von Günter Grau 1993 herausgegebene Dokumentensammlung zur "Homosexualität in der NS-Zeit" eröffnete schließlich weitere Forschungsperspektiven, die bislang aber nur wenig genutzt wurden. Inzwischen ist zwar eine ganze Reihe weiterer Forschungsarbeiten erschienen, die meisten beschäftigen sich aber nur mit Einzelaspekten der Verfolgungspolitik. Dabei dominieren Regionalstudien zur Verfolgung in verschiedenen deutschen Großstädten, so insbesondere in Düsseldorf, Köln, Berlin und Hamburg. Auch zur Situation homosexueller Häftlinge in Konzentrationslagern gab es weitere Publikationen, vor allem Erinnerungsberichte und Porträts von Überlebenden. Die ersten Biografien, für die neben persönlichen Erinnerungen auch umfangreiche Quellenbestände der Verfolgungsbehörden ausgewertet werden konnten, erschienen über den Buchenwald-Überlebenden Rudolf Brazda. Doch Untersuchungen, die auch die Strukturen und den Status homosexueller Häftlinge im Lagersystem in den Blick nehmen, sind bis heute rar gesät. Zieht man eine Bilanz der bisherigen Aufarbeitung der NS-Homosexuellenverfolgung, so wird deutlich, dass diese innerhalb der Forschung zum Nationalsozialismus nach wie vor ein "Schattendasein" führt. Micheler, Müller und Pretzel konstatierten bereits 2002, dass "die Zahl der Veröffentlichungen zu anderen Opfergruppen des NS-Regimes" in den vorangegangenen Jahren "sehr viel stärker gestiegen" sei als die zur Homosexuellenverfolgung. Für den Zeitraum seit 2002 gilt dieser Befund erst recht: Die Anzahl der einschlägigen Publikationen blieb in den vergangenen 15 Jahren deutlich hinter der der vorangegangenen Dekade zurück. Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass es auch inhaltlich noch große Mankos gibt. Die wohl größte Schwierigkeit der bisherigen Forschung ergibt sich aus ihrer Verquickung mit dem durchaus berechtigten Anliegen, zur Rehabilitierung der Verfolgten beizutragen. Das Resultat ist eine Konzentration auf die Geschichte der Opfer, die es mitunter schwer macht, den Überblick zu behalten und die Schicksale Einzelner richtig einzuordnen. Denn der Fokussierung auf Verfolgungsschicksale wohnt eine gewisse Tendenz zur Dramatisierung inne, die problematisch wird, wenn sie zur verallgemeinernden Beschreibung der Situation Homosexueller im "Dritten Reich" dienen soll. Ohne Frage hat die Aufklärung zahlreicher Einzelschicksale den Blick geöffnet für die fatalen Folgen, die mit der strafrechtlichen Verurteilung homosexueller Männer verbunden sein konnten, vom Verlust von Wohnung und Beruf über medizinische Eingriffe wie die "Entmannung" bis hin zu Einweisungen in Konzentrationslager, Hinrichtungen und Morden. Offen blieb aber zum Beispiel, inwieweit sich die Erkenntnisse, die bislang ganz überwiegend in Metropolen und Großstädten gewonnen wurden, "auf das ganze Deutsche Reich oder zumindest auf andere Großstädte übertragen lassen". Denn schon bei den Großstädten konnten Micheler, Müller und Pretzel "regionale Unterschiede" feststellen, die sie darauf zurückführten, dass "lokale Strukturen und Personen Einfluss auf Intensität und Umfang der Verfolgung hatten". Jellonnek, der mit Unterfranken und der Pfalz auch ländlichere Regionen untersucht hat, konstatierte ebenfalls deutliche regionale Unterschiede und schloss "für das Arbeitsgebiet ›Homosexuellenverfolgung‹ auf eine beträchtliche Eigenständigkeit der jeweiligen Dienststelle" der Gestapo. Problematisch ist auch, dass sich alle bisherigen Untersuchungen entweder direkt auf Gestapo-Akten oder aber auf Großstädte beziehen, in denen die Gestapo über Sonderdezernate und aus Berlin entsandte Sonderkommandos besondere Präsenz zeigte. Diese auf Gestapo-Aktivitäten konzentrierte Perspektive läuft Gefahr, das Gesamtbild zu verzerren. Denn es spricht viel dafür, dass die in ländlichen Regionen nur schwach aufgestellte Gestapo der Homosexuellenverfolgung nicht überall die gleiche Bedeutung beimaß. "In den meisten kleineren Städten und praktisch in sämtlichen Dörfern fehlten reguläre Gestapobeamte völlig", wie Gellately betont. In der 840.000 Einwohner zählenden Region Unterfranken verfügte die Gestapo zum Beispiel nur über 28 Beamte, die in Würzburg und Aschaffenburg konzentriert waren. Und so ist weiterhin offen, ob die Homosexuellenverfolgung im ganzen Reich mit der insgesamt doch großen Vehemenz betrieben wurde, die sich für einige Metropolen und Großstädte nachweisen lässt. Dennoch zeigt die bisherige Forschung eine deutliche Tendenz, regionale Befunde zu verallgemeinern. Dies gilt etwa für die Verfolgungsintensität und die Konsequenzen für das alltägliche Leben Homosexueller. So meint Jellonnek, die Verfolgung habe das Leben Homosexueller vollkommen bestimmt: "Für alle jedoch gilt, dass sie in ständiger Furcht vor der drohenden Verhaftung lebten, dass sie nicht in der Lage waren, ihr Homosexuellsein außerhalb von Krankheit und Verbrechen zu werten". Doch wie verträgt sich das damit, dass nicht wenige homosexuelle Männer insbesondere die Kriegsjahre in der Rückschau als "die schönste Zeit meines Lebens" beschrieben? Diese bemerkenswerte Sichtweise wurde zwar schon früh zur Kenntnis genommen, führte aber nicht dazu, das vorherrschende Paradigma einer "totalen Verfolgung" infrage zu stellen, das viele der überlieferten Dokumente zu suggerieren scheinen. Eine ähnlich problematische Verallgemeinerung betrifft die Frage, in-wieweit die Bevölkerung die von der NS-Führung propagierte Ausgrenzung Homosexueller aus der "Volksgemeinschaft" billigte oder unterstützte. Micheler, Müller und Pretzel gehen von einer "tief verwurzelten homophoben Tradition in der deutschen Gesellschaft" aus, auf die sich das NS-Regime "bei der Verfolgung homosexueller Menschen" habe stützen können. Auch Jellonnek unterstellt eine "Übereinstimmung zwischen den Machthabern und der Bevölkerung in der Frage der Notwendigkeit der Homosexuellenverfolgung" und eine "deutlich spürbare Homophobie breiter Bevölkerungskreise". Als Indikator dafür werden die Denunziationsquoten bei Strafverfahren gegen Homosexuelle angeführt. So verweisen Micheler, Müller und Pretzel darauf, in Berlin sei etwa ein Drittel, in Hamburg ein Viertel aller Ermittlungsverfahren auf Anzeigen unbeteiligter Dritter zurückgegangen. Doch ist es wirklich legitim, aus diesen Zahlen den Umkehrschluss zu ziehen, Homosexuellenfeindlichkeit sei in der deutschen Gesellschaft "tief verwurzelt" gewesen? Bernward Dörner warnt zu Recht, dass "das intensive Studium der Quantität und Qualität der Denunziationen" zu einer "Überbetonung dieses Phänomens" führen könne. Dabei werde "ausgeblendet, dass ein vermutlich außerordentlich großes Dunkelfeld strafbedrohter Handlungen nicht zur Anzeige gebracht wurde". Dass die Dunkelziffer aber gerade bei der Homosexualität sehr hoch gewesen sein muss, dafür sprechen schon die überlieferten Statistiken. Wenn bis 1940 mindestens 78.000 Homosexualitätsverdächtige ermittelt und 42.000 in einer "Reichskartei" registriert wurden, mag das zunächst viel erscheinen - ebenso wie die etwa 53.000 Urteile nach den §§ 175 und 175a, die es zwischen 1933 und 1945 gab. Gleichwohl zeigen diese Zahlen, dass ein sehr großer Teil, zumindest wohl drei Viertel der homosexuellen Männer, von der Verfolgung überhaupt nicht erfasst wurde. Doch Untersuchungen, die den Alltag und die Lebensbedingungen Homosexueller jenseits konkreter Verfolgungserfahrungen - und damit auch die Reaktionen und Einstellungen der Bevölkerung - in den Blick nehmen, gibt es bislang nur wenige. Die angesichts der schleppenden Aufarbeitung der NS-Homosexuellenverfolgung durchaus verständliche Fokussierung auf Opfer und Verfolgungsmaßnahmen, die die bisherige Forschung prägte, scheint also zu einer gewissen Verzerrung des Gesamtbildes beigetragen zu haben. Und so soll mit dieser Untersuchung auch der Versuch unternommen werden, das Bild an der einen oder anderen Stelle zurechtzurücken. 1.2 Thema, Fragestellung und Thesen Die oben skizzierten Fragen nach der Verfolgungsintensität, den Auswirkungen und regionalen Unterschieden, nach dem Ausmaß gesellschaftlicher Homophobie, der Zustimmung zur Verfolgungspolitik und dem Denunziationsverhalten der Bevölkerung zielen im Kern auf die historische Bewertung der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung: Handelte es sich, ähnlich wie Gellately es für die Rassenpolitik der Nationalsozialisten unterstellt, um eine von breiten Teilen der Bevölkerung gestützte und durch Denunziationen überhaupt erst ermöglichte Verfolgungspolitik, die homosexuelles Leben in der Konsequenz nahezu unmöglich machte? Kam es also zu einer regelrechten "Homosexuellenjagd", wie zum Beispiel Pretzel meint? Zielte die von der NS-Propaganda eingeforderte "Entfernung" Homosexueller aus dem "Volkskörper", wie etwa Micheler glaubt, auf die Konstituierung "einer homogenen ›reinen deutschen Volksgemeinschaft‹"? Handelte es sich somit auch um eine populistische Maßnahme, "um das Volk ›bei Laune‹ zu halten, Minderheitenverfolgung als nationalsozialistische Version antiker ›panem et circenses‹", wie Jellonnek schreibt? Ging es im Kern womöglich gar nicht um Homosexualität, sondern um eine machttaktische Frage der Herrschaftssicherung, war die Homosexuellenverfolgung vielleicht nur "ein beliebter Vorwand zur Verfolgung politischer Gegner", wie Buchheim es 1956 formulierte? Oder waren die Nationalsozialisten doch davon überzeugt, in der Homosexualität eine "Staatsgefahr" identifiziert zu haben, die den nationalsozialistischen "Männerstaat" in seinen Grundfesten bedroht? Ist die Verfolgungspolitik also eher als ein ideologisch begründetes Projekt des nationalsozialistischen "Maßnahmenstaates" zu verstehen, von Heinrich Himmler konzipiert, von der Gestapo massiv vorangetrieben, in der praktischen Umsetzung aber mit erheblichen Problemen behaftet, weil sie von Kriminalpolizei und Bevölkerung häufig nicht mit der gewünschten Verve unterstützt wurde, sodass die angestrebte Verfolgungsintensität in vielen Regionen des Reiches gar nicht erreicht wurde? Diese Studie soll zur Beantwortung der genannten Fragen beitragen. Zu diesem Zweck werden zwei Forschungsschwerpunkte gesetzt: Zum einen sollen die alltäglichen Erscheinungsformen von Homosexualität in den dreißiger Jahren untersucht werden: im Hinblick auf persönliches Stigma-Management, gesellschaftliche Freiräume und die Reaktionen des sozialen Umfeldes. Der zweite Fokus liegt auf den von der NS-Führung initiierten Sanktionsmaßnahmen, ihrer Umsetzung und ihren Auswirkun-gen auf Reichs-, Landes- und lokaler Ebene. a) Alltag: Freiräume und Beschränkungen homosexuellen Lebens Der erste Fokus der Untersuchung liegt auf dem Selbstverständnis und dem Alltag homosexueller Männer. Am Beispiel des in Thüringen gelegenen Landgerichtsbezirks Altenburg wird das Stigma-Management Homo-sexueller, ihr alltäglicher Umgang mit ihrer Veranlagung, mit gesellschaftlicher Ächtung und mit der Drohung strafrechtlicher Verfolgung unter-sucht. Beleuchtet werden vier gesellschaftliche Milieus im Hinblick auf Sozialisations- und Beziehungsformen, Identitäts- und Netzwerkbildung und die Muster verbaler und nonverbaler Kommunikation des Stigmas gegenüber Familie und Freunden, Vermietern und Nachbarn, Arbeitgebern und Kollegen. Verglichen werden das bäuerlich-ländliche, das proletarisch-urbane, das kleinbürgerliche und das bildungs- und großbürgerliche Milieu. Im Mittelpunkt dieses ersten Teils stehen also nicht Verfolgungsmaßnahmen, sondern die Spielräume homosexueller Männer, ihre erotischen und sexuellen Wünsche in ihr Leben zu integrieren. Welche gesellschaftlichen Nischen und Freiräume existierten? Wie reagierte das soziale Umfeld, welche Muster der Duldung, Anerkennung oder Reglementierung homosexueller Veranlagung und Praktiken sind erkennbar? Was sagt all das über die Einstellungen der Bevölkerung zu Homosexualität und Homosexuellen? Mit der Untersuchung des Alltagslebens wird in zweifacher Hinsicht wissenschaftliches Neuland betreten. Zum einen gibt es bislang kaum Studien zur Alltagsgeschichte, die über eine Beleuchtung der Treffpunkte, Zeitschriften und Vereine Homosexueller und ihre Zerstörung durch die Nationalsozialisten hinausreichen. Zum anderen wird mit dem Altenburger Land ein Mittelzentrum und dessen ländlich-kleinstädtisch geprägtes Umland in den Blick genommen und damit die in der einschlägigen Historiografie vorherrschende Fokussierung auf Großstädte und die dort vorzufindenden homosexuellen Subkulturen durchbrochen. Ermöglicht wird dieser neue Ansatz durch eine umfangreiche Überlieferung von Akten der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Altenburg, die im Zuge der 1937 durchgeführten Verfolgungsmaßnahmen angelegt wurden. Dieses Aktenkonvolut erlaubt eine Zeitreise in den Alltag der dreißiger Jahre, die wohl nur wenige Archivbestände zu diesem Thema ermöglichen. Die These dieser Studie, die nicht zuletzt auf Untersuchungen zur Biografie Rudolf Brazdas beruht, ist es, dass die Spielräume homosexuellen Lebens auch im "Dritten Reich" wesentlich größer waren als bislang angenommen. Dies ist insbesondere für die ersten Jahre der NS-Herrschaft zu vermuten. So deuten viele Erinnerungsberichte darauf hin, dass das Jahr 1933 für die meisten Homosexuellen keinen Bruch markierte, sondern für einige sogar mit der Hoffnung auf eine Abschaffung des § 175 verknüpft war. Geübt in einem vielschichtigen Stigma-Management vollbrachten sie bemerkenswerte Anpassungsleistungen, die auf ein Überwintern in gesellschaftlichen Nischen, mitunter aber auch auf ein Arrangement mit den neuen Machthabern zielten. Trotz zunehmender Repressionsmaßnahmen organisierten sie sich in Zirkeln, die sich durch milieuspezifische Distinktionsmechanismen und Erklärungsmuster der Homosexualität auszeichneten und zum Teil in breitere gesellschaftliche Netzwerke integriert waren. In solchen Netzwerken wurde Homosexualität weniger verborgen, tabuisiert oder unterdrückt, als über spezifische Formen der Andeutung und Chiffrierung kommuniziert. Die Reaktionen scheinen in der Regel nicht durch Aversionen und Hass geprägt gewesen zu sein, sondern eher zwischen Abwendung, Duldung und Anerkennung geschwankt zu haben, was auf ein gesellschaftliches Klima hindeutet, das man am ehesten als eine Mixtur aus Unwissenheit, Desinteresse und Indifferenz beschreiben könnte, das in Teilen aber auch durch wohlwollende Neugierde geprägt war. Die Ermordung des homosexuellen SA-Chefs Ernst Röhm Mitte 1934 und die Verschärfung des § 175 im Sommer 1935 wurden zwar durchaus als Zäsuren wahrgenommen. Einen wirklichen Bruch markierten aber erst jene lokalen Verfolgungswellen, die zur Zerstörung von etablierten Zirkeln und Netzwerken führten. Doch auch nach derartigen Brüchen scheinen homosexuelle Bedürfnisse mit teilweise erstaunlicher Offenheit artikuliert und realisiert worden zu sein, was die verbreitete Annahme, Homosexuelle hätten "in ständiger Furcht vor der drohenden Verhaftung" gelebt, relativiert. b) Verfolgung: Umsetzung und Wirkung im regionalen Vergleich Um die eingangs formulierte Frage nach dem Charakter der Homosexuellenverfolgung zu beantworten, konzentriert sich der zweite Teil der Untersuchung auf die Ursachen, Motive und Ziele wie auch auf die Umsetzung und die Auswirkungen der Verfolgungspolitik. Untersucht werden die Debatten über Homosexualität, die die NS-Bewegung prägten und schließlich in die Verfolgungspolitik mündeten, der zeitliche Ablauf der verschiedenen, zunehmend radikaleren Verfolgungsmaßnahmen, aber auch die praktische Umsetzung der einzelnen Maßnahmen durch Gestapo und Kriminalpolizei sowie Staatsanwaltschaften und Gerichte. Verglichen werden die Verfolgungsmaßnahmen auf Reichsebene, wobei die Gestapoaktivitäten in Metropolen wie Berlin, Hamburg oder München einbezogen werden, und die Situation auf Landes- und auf lokaler Ebene, die am Beispiel Thüringens und des Landgerichtsbezirks Altenburg beleuchtet wird. Bei der Betrachtung der Motive der Verfolgungspolitik wird ein Blick auf die Vorgeschichte unumgänglich. Im zweiten Kapitel werden deswegen zunächst die Geschichte der strafrechtlichen Verfolgung Homosexueller und die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gängigen Diskurse über Homosexualität resümiert. Welche Auswirkungen hatten die Debatten um die (Ent-)Kriminalisierung der Homosexualität auf das Weltbild der Nationalsozialisten? Welche Thesen treten in den religiösen, wissenschaftlichen, politischen und subkulturellen Diskursen zutage und inwiefern sind sie von Bedeutung für die Auseinandersetzungen, zu denen es später auch in der NS-Bewegung kommt? Im Kern geht es hier um die ideologische Verknüpfung von Homosexualität, Männerbund und Staatswesen, die den gesellschaftlichen Diskurs über 30 Jahre hinweg bestimmt und nicht nur das Selbstverständnis vieler Homosexueller, sondern auch das Weltbild Heinrich Himmlers nachhaltig prägt. Aber auch um die Vorstellung, durch die Homosexualität sei die deutsche Jugend, ja die gesamte Zeugungs- bzw. "Volkskraft" bedroht, sodass der Untergang des deutschen Volkes drohe. Welche Relevanz diese Vorstellungen für die Debatten innerhalb der NS-Bewegung und für die Durchsetzung der Verfolgungspolitik haben, wird dann im vierten Kapitel untersucht, das sich den Verfolgungsmaßnahmen auf Reichsebene widmet. Im Zentrum der Kapitel 4 bis 6 stehen die von der NS-Führung initiierten Verfolgungsmaßnahmen und ihre regionale Umsetzung. Untersucht wird, wie Heinrich Himmler und die Gestapo die Verfolgungspolitik vor-antrieben, welche Erwartungen mit den angeordneten Maßnahmen verknüpft und inwieweit sie von ›Erfolg‹ gekrönt waren. Beleuchtet werden die massiven Verfolgungswellen, die die Gestapo seit Herbst 1934 in Berlin und anderen Metropolen inszenierte, aber auch die Frage, inwieweit sich die Verfolgungspolitik jenseits der Reichshauptstadt durchsetzen ließ. Mit Thüringen steht dabei die regionale Umsetzung in einem Flächenland im Fokus, das weniger von Groß- als von Klein- und Mittelstädten geprägt war und dessen Sozialstruktur der des Reiches eher glich als die überwiegend proletarisch geprägter Metropolen. Als nationalsozialistischer "Mustergau", dessen Regierung bereits seit Sommer 1932 von der NSDAP geführt wurde, könnte man erwarten, dass die Verfolgungspolitik hier mit besonderem Nachdruck und mit großer Unterstützung der Bevölkerung betrieben wurde. Ein besonderes Augenmerk der Untersuchung liegt deswegen auf der Intensität der Verfolgungsmaßnahmen, ihrer quantitativen und qualitativen Umsetzung, dem Engagement von Kriminalpolizei, Staatsanwälten und Richtern und der Beteiligung der Bevölkerung über Denunziationen.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 152 x 219 mm
Gewicht 955 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte 1918 bis 1945
Sozialwissenschaften Soziologie Gender Studies
Schlagworte Altenburg • Berlin • Deutschland • Drittes Reich • Ernst Röhm • Geschichte • Geschlechtergeschichte • Homosexualität • Homosexuell • Homosexuelle • Mann • Männer • Nationalsozialismus • Schwule • Thüringen • Verfolgung
ISBN-10 3-593-50863-X / 359350863X
ISBN-13 978-3-593-50863-4 / 9783593508634
Zustand Neuware
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