Europa zuerst! (eBook)

Eine Unabhängigkeitserklärung
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
240 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1621-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Europa zuerst! -  Claus Leggewie
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In der heutigen politischen Debatte spielt der europäische Rechtspopulismus mit fremdenfeindlichen Parolen eine viel zu große Rolle. Doch Claus Leggewie zeigt: Längst haben sich starke Gegenbewegungen gebildet, die sich ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa nicht nehmen lassen wollen. Mit genauem Blick beschreibt und analysiert Claus Leggewie, einer der wichtigsten Politologen Deutschlands, verschiedene proeuropäische Basisbewegungen und Netzwerke in verschiedenen Ländern des Kontinents: neue Parteien, Vereinigungen und NGOs. Er macht deutlich, warum sie die wahren Europäer sind, wie sie europafeindlichen Strömungen entgegentreten, aber auch, wie man den Stillstand der europäischen Institutionen überwinden kann. Leggewie macht Hoffnung: Das Europa der Zukunft ist basisdemokratisch, kosmopolitisch, bürgernah und sozial gerecht.

Claus Leggewie, geboren 1950, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats 'Globale Umweltveränderungen' der Bundesregierung und des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.

Claus Leggewie, geboren 1950, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen. Er ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats "Globale Umweltveränderungen" der Bundesregierung und des Wissenschaftlichen Beirats von Attac.

I GEZEITENWECHSEL

… man muss auf eines setzen, darin ist man nicht frei.
Sie sind eingeschifft.
Blaise Pascal, Pensées, 16691

In frischer Erinnerung ist das Bild des Tsunami, der im Dezember 2004 die südasiatischen Küsten erreichte und Zehntausende von Toten und materielle Schäden in Milliardenhöhe hinterließ. Viele Zeitgenossen mag im letzten Jahrzehnt das Gefühl beschlichen haben, einer ebensolchen Flutwelle ausgesetzt zu sein. Übermächtig wirkende Kräfte – anonym-abstrakt die Globalisierung, symbolisch-konkret die Flüchtlinge, emotional-dramatisch der Terror – branden an die Küsten Europas, dessen Bewohner sich jahrzehntelang auf sicherem Grund, wie auf ­einer »Insel der Seligen« gefühlt hatten und nun den Eindruck gewinnen, auf einer schmelzenden Eisscholle durch eine aufgeheizte See zu treiben.

Metaphern der hohen See spielen in der Geschichte der Ideen seit der Antike und in vielen Kulturen eine große Rolle. Das Meer, dozierte Hegel in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte«, »gibt uns die Vorstellung des Unbestimmten, Unbeschränkten und Unendlichen, und indem der Mensch sich in diesem Unendlichen fühlt, so ermutigt dies ihn zum Hinaus über das Beschränkte«2. In der uferlosen Weite entfalten sich Menschen und überschätzen sich gern. »Schiffbruch mit Zuschauer« hat ein Nachfolger des Philosophen die Daseinsmetapher umschrieben und das Terrain, nein: die Ober­fläche der Welt abgesteckt: »Es gibt Küsten und Inseln, Hafen und hohes Meer, Riffe und Stürme, Untiefen und Windstillen, Segel und Steuerruder, Steuermänner und Ankergründe, Kompass und astronomische Navigation, Leuchttürme und Lotsen.«3 Wir können uns auch Europa einmal als Meer, als mare ­europaeicum ausmalen und uns dort Seeungeheuer und Korallenriffe, friedliche Strände und umtoste Inseln, Deiche und Leuchttürme, Passagiere, Kapitäne und Mannschaften vorstellen, die eingeschifft sind.

Nach 1989/90 schien Europa etwa ein Jahrzehnt lang in ruhigeres Fahrwasser zu steuern. Mit Genugtuung verzeichnete man das Ende der Teilung und der bipolaren Weltordnung und konnte sich an der Erfüllung einer kosmopolitischen Utopie ­erfreuen. Ihre Träger waren sympathische Demokratiebewegungen, die 1968 im »Prager Frühling« noch mit Panzern un­terdrückt wurden, ein gutes Jahrzehnt später aber mit der pol­nischen Gewerkschaft Solidarność kaum noch aufzuhalten waren. Flankiert durch den polnischen Papst Johannes Paul II. und geduldet durch Helden des Rückzugs wie Michail Gorba­tschow ging das lange Zeit als unsinkbar geltende Sowjetimperium unter. Der Hegelianer Francis Fukuyama sagte 1992 voraus, nach diesem »Ende der Geschichte« werde es nur noch Kapitalismus und Demokratie geben. Der erste Teil der Vorhersage erfüllte sich bis auf wenige Exklaven, doch während noch ein gutes Dutzend autoritärer Regime zu präsidialen und parlamentarischen Demokratien mutierte und eine »dritte Welle der Demokratisierung« um den Globus rauschte, traf der Tsunami der Freiheit auf eine mächtige autoritäre Unterströmung, die sich seit den späten 1970er Jahren aufgebaut hatte.

Erste Anzeichen gab es 1973 weit weg von Europa. In Chile wurde Salvador Allendes Linksregierung durch einen Militärputsch hinweggefegt und kreierte General Augusto Pinochet jenen Regierungsstil, der mittelfristig in vielen Weltregionen Einzug hielt: die Verbindung einer ultraliberalen Wirtschafts­politik, die Staatsinterventionen radikal herunterfährt, mit ­einer autoritären Sicherheitspolitik, die bürgerliche Freiheiten opfert. Eingeübt wurde dieser autoritäre Liberalismus4 durch eine von amerikanischen Beratern und europäischen Kollaborateuren unterstützte Militärjunta, die zwar die Inflation senkte und Investoren ins Land holte, aber zugleich die Friedhöfe und Gefängnisse füllte.

Im Dezember 1989 gehörten die chilenische Junta und ebenso die Diktaturen in den Nachbarländern Brasilien und Argentinien der Vergangenheit an, the third wave of democracy went global. Aber nicht überall kam sie an. Im Iran herrschte schon ein Jahrzehnt lang eine islamische Mullah-Elite, die das Land bis heute im Griff hat.5 In China stabilisierte sich seit der Macht­übernahme von Deng Xiaoping im Jahr 1979 die postmaoistische Elite, die das Land mit einer Kreuzung aus Parteistaat und Staatskapitalismus zur Weltmacht aufsteigen ließ. In Großbritannien und den USA beendete die Austeritätspolitik Margaret Thatchers bzw. Ronald Reagans die New-Deal-Ära, die soziale Ungleichheiten eingedämmt und Teilhabe auf vielen Ebenen ermöglicht hatte. Thatcherism und Reagonomics wurden stilbildend. Die 1981 in Frankreich an die Macht gelangte Linksunion aus Sozialisten und Eurokommunisten war eher ein Nachzügler als der von manchen erhoffte Beginn einer neuen Epoche, die ­Demokratie und Sozialismus vereinbaren würde.

Verharren wir noch einen Moment in der globalen Perspektive. Die wirtschaftlichen und psychologischen Folgen von Ölkrisen, weltweiten Rezessionen und der ungezügelten Dynamik des Finanzkapitalismus zogen europäische Mitte-Links-Regierungen sukzessive auf den nunmehr »neoliberal« genannten Kurs. In der Abwehr diverser terroristischer Bewegungen von den Roten Brigaden und der RAF über die ETA und PKK bis hin zu al-Qaida und zum Islamischen Staat (IS) entwickelten sich Sicher­heitsapparate, die bürgerliche Freiheitsrechte immer mehr außer Kraft setzten. Damit kehrte der Ausnahmezustand auch im Westen zurück, die Symbiose aus Autoritarismus und Marktradikalismus wurde zum wahren Signum des »Endes der Geschichte«.

Für Europa entscheidend: Die 1970er Jahre waren auch die Inkubationszeit eines neuen Populismus, der sich von älteren Bewegungen dieser Art in den Vereinigten Staaten, Russland und Südamerika unterscheidet. Der klassische Populismus war zumeist eine Defensivreaktion auf rasante kapitalistische Durchbrüche und rasanten sozialen Wandel – so in den Ver­einigten Staaten während des Gilded Age, im spätfeudalen Russland und in Lateinamerika zur Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929/30. People’s Party, Narodniki und Peronistas reagierten auf übermäßige soziale Ungleichheit und Ausbeutung und führten vor Augen, dass auch demokratisch gewählte Eliten das gemeine Volk nicht unbedingt repräsentieren. Die da oben gegen uns hier unten, das ist der Basisdiskurs des Populismus, seine so schlichte wie prätentiöse Scheidelinie des politischen Raumes. Von daher hatte er vor allem in seiner links-egalitären Ausprägung stets eine Funktion der politischen Hygiene und Kurs­korrektur, leitete über in sozial-progressive Bewegungen und beherzte Reformen. Aber er hatte immer auch eine hässliche Seite: aggressive Fremdenfeindlichkeit, völkischen Nationalismus, die Neigung zum totalitären Faschismus.

DIE AUTORITÄRE WELLE

Auf welche Seite der Populismus im heutigen Europa fällt, soll nun genauer untersucht werden, und daran entscheidet sich, ob der Begriff »Populismus«, in der aktuellen Debatte übermäßig strapaziert, die Lage überhaupt noch trifft.6 Im Folgenden betone ich vor allem die Schlagseite des neuen Populismus zum völkisch-autoritären Nationalismus. Das bedeutet: Die häss­liche Seite hat sich stärker ausgeprägt, der scheinbar klassenlose Gegensatz von Volk und Eliten schärft sich zur menschenfeindlichen Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, Einheimischen und Einwanderern, Christen und Muslimen, Freunden und Feinden. Diese schiefe Ebene ist in den meisten europäischen Gesellschaften anzutreffen, sie reicht über den jeweils nationalstaatlichen Rahmen hinaus und ergibt ein Gesamtbild, das sich wie in anderen – wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen – Dimensionen als »europäische Gesellschaft« (im Singular) fassen lässt. Jenseits der Nationen, die damit keineswegs obsolet geworden sind und verzweifelt von den völkisch-autoritären Nationalisten beschworen werden, erstreckt sich eine Vergesellschaftung, die sämtliche Institutionen erfasst und zur Europäisierung von Einstellungen, Verhaltensmustern und Alltagspraktiken geführt hat.

Auch der Populismus oder nun präziser: der völkisch-autoritäre Nationalismus ist ein gesamteuropäisches Phänomen mit unterschiedlichen nationalen Ausprägungen, die sich zu einer gemeinsamen Bewegung gegen Supra- und Transnationalisierung verbunden haben. Soziologisch gesehen stärkt diese Bewegung die segmentäre Abschottung von Nationalstaaten gegen die funktionale Arbeitsteilung der Weltwirtschaft, und zugleich bedeutet der kulturelle Fokus auf Europa eine Abschottung gegen die globale populäre Kultur und insbesondere gegen eine nichteuropäische Einwanderer-Population. Die Bezugsgröße ist damit die europäische Gesellschaft als ganze, nicht mehr allein die jeweils nationale politische Kultur von Nationalstaaten. Insofern ist der Populismus eine gesamteuropäische Erzählung, die sich ohne Widerspruch zur Bejahung, ja Heiligung der jeweils eigenen Nation selbstverständlich auch europäisch organisiert.

Schauen wir uns die Dramaturgie dieser Erzählung genauer an. Sie beginnt in den 1970er Jahren mit der Rebellion gegen zu hoch empfundene Steuersätze in den skandinavischen Wohlfahrtsstaaten und gegen die Abtretung politischer Souveränität an die ungeliebte Europäische Union, der »Volksferne« und Beamtenarroganz unterstellt wurden. Dabei blieb es nicht. In Jean-Marie Le Pens Front National (FN), Jörg Haiders...

Erscheint lt. Verlag 8.9.2017
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Europäische / Internationale Politik
Schlagworte AfD • ATTAC • Basisdemokratie • Brexit • Bundestagswahlen • Demokratisches Europa • EU • Europa • Europäische Union • europäische Zivilgesellschaft • Frankreich • Großbritannien • Italien • Linksintellektuell • Macron • Marine Le Pen • Plädoyer • Podemos • politische Entwicklungen • proeuropäisch • Pulse of Europe • Rechtspopulismus • Reform • Spanien • Streitschrift • Zukunft Europas
ISBN-10 3-8437-1621-8 / 3843716218
ISBN-13 978-3-8437-1621-5 / 9783843716215
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