Demokratischer Symbolismus (eBook)

Eine Theorie der Demokratie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2016 | 1., Originalausgabe
279 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-74856-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Demokratischer Symbolismus - Emanuel Richter
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Je häufiger sich politische Systeme, Medien oder Bürger in aller Welt auf die Demokratie berufen, desto mehr, so scheint es, schwindet ein klares Verständnis davon, was diese eigentlich sein soll. Wie Emanuel Richter in seinem originellen Buch zeigt, kann der »demokratische Symbolismus« eine grundlegende Funktionsbestimmung der Demokratie liefern, die auf einer allgemeinen, symbolischen Ebene als Handeln unter gleichrangigen Bürgern verstanden werden muss. Damit lassen sich erstens Kriterien und Bewertungen für alle politischen Vorgänge gewinnen, die beanspruchen, demokratisch zu sein. Zweitens lässt sich so die politische Teilhabe der Bürger als ein emanzipatorisches Projekt begreifen, das immer wieder aufs Neue die Herrschaft des Volkes zu verwirklichen sucht.

<p>Emanuel Richter ist Professor am Institut für Politische Wissenschaft der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen.</p>

312.1 Michel Foucaults »Gouvernementalität«


Der erste Schritt im Rahmen der Darlegung eines »demokratischen Symbolismus« besteht darin, das Erfordernis einer Beobachterperspektive gegenüber den Erscheinungsformen der Demokratie zu begründen und diese zu skizzieren. Nur so lässt sich jenseits willkürlicher Verständnisse, Ideale und Realisierungsstufen von Demokratie eine grundlegende Funktionsbestimmung vornehmen, die wiederum Beurteilungsmaßstäbe für die Manifestationen der Demokratie bereitstellt. Den Ausgangspunkt für dieses Vorhaben bildet das Aufzeigen von Möglichkeiten, wie man zu einer kritischen Position gegenüber den Erscheinungsformen der Demokratie vorstoßen kann. Dazu gibt es in der Demokratietheorie, Demokratiegeschichte und Gesellschaftstheorie zahlreiche Ansätze. Ich wähle im Folgenden zwei aus, die besonders anschaulich die ideologischen sowie praktischen Instrumentalisierungen der Demokratie aufzeigen und dabei die Maßstäbe für eine Praxiskritik kenntlich werden lassen. Die erste Referenz gilt Michel Foucault, insbesondere seiner Kategorie der »Gouvernementalität«. Die zweite ist Pierre Rosanvallon und seinen demokratiegeschichtlichen Befunden gewidmet. Beiden gelingt es, aus der Perspektive einer kritischen Gesellschafts-, Politik- und Demokratiegeschichte die Klärungsbedürftigkeit dessen deutlich zu machen, was unter »Demokratie« verstanden werden kann. Daraus leiten sie den Versuch einer differenzierten Betrachtung ab, die sorgfältig zwischen den Erscheinungsformen der Demokratie und ihren dahinter zum Vorschein kommenden symbolischen Funktionen unterscheidet. Ihre ideologiekritischen Analysen bilden eine Kontrastfolie, vor deren Hintergrund einseitige Verständnisse, aber auch allgemeinere Funktionen der Demokratie erkennbar werden.

Im ersten der beiden Kapitel rekapituliere ich die entsprechenden Argumentationslinien anhand der Kritik politischer Machtverhältnisse, die Foucault in seinem umfangreichen und facettenreichen Werk an verschiedenen Stellen formuliert hat. Für ihn steht die Kritik an instrumentalisierten Individuen im Mittelpunkt, die sich als politische Akteure – gewissermaßen entgegen ihrer eigenen Wahrnehmung – nicht etwa dem demokratischen Anliegen 32verschrieben haben, sondern eine Form der Selbstdisziplinierung betreiben, die letztendlich Demokratie verhindert. Auf der Basis ihrer unbewussten Anpassungsleistung an systemische Zwänge funktionieren sie als Bestandteile und Träger einer auf Sicherheit und Beherrschung gerichteten politischen Ordnung, die nur dem Anschein nach auf demokratischer Legitimation beruht. Der zentrale Begriff, den Foucault für diese Zusammenhänge einführt, ist die Wortschöpfung Gouvernementalität: ein Hinweis auf den von den Individuen verinnerlichten Modus des »Regierens« und auf die mentale Akzeptanz von Machtverhältnissen, die alle realen politischen Interaktionen durchdringen und von einem Rollenverständnis wegführen, das selbstbestimmte demokratische Akteure hervorbringt.

Die Darlegung des Schlüsselbegriffs der Gouvernementalität und der darin enthaltenen subtilen Herrschaftskritik geschieht in drei Stufen. Zunächst zeige ich anhand einer Zusammenfassung von Foucaults historischem Resümee, wie und warum in der Entwicklung der europäischen Gesellschaften die »Souveränität« nicht zu individueller Selbstbestimmung führt, sondern sich ein Verständnis von Souveränität als staatliche Verfügungsgewalt durchsetzt (a). Danach rückt der Begriff Gouvernementalität in den Mittelpunkt, als Verweis auf die Selbstdisziplinierung von Subjekten in Verbindung mit autoritativen politischen Herrschaftsverhältnissen (b). Schließlich ziehe ich daraus die Schlussfolgerungen für ein kritisches Demokratieverständnis, die allerdings Foucault selbst nur rudimentär ausformuliert hat (c).

a) Wenn es in der Demokratie um die öffentliche Präsenz von Individuen geht, die größtmögliche Freiheiten genießen, um sich als Teilhaber und Mitgestalter des politischen Geschehens einzubringen, dann muss dort eine Verwirklichung von Souveränität im Sinne eines Freiseins von Fremdbestimmung und einer gemeinschaftlichen Einflussnahme auf die Herrschaftsgestaltung angesiedelt sein, die sich mit einer entsprechenden politischen Praxis der Inklusion und Partizipation verbindet. Im häufig reklamierten Begriff der »Volkssouveränität« steckt nach Foucaults Einschätzung eigentlich genau diese Vorstellung. Er zeigt freilich auf, dass sich in der historischen Entwicklung westlicher Gesellschaftsformationen diese Auffassung nicht durchgesetzt hat. Es greifen stattdessen Suggestionen von individueller und kollektiver Selbstbestimmung, 33die nicht nur praktisch eine Entfaltung von Volkssouveränität verhindern, sondern auch die Einsicht in deren authentische Funktionalität. Auf der Basis von Foucaults Gesellschaftskritik lassen sich so die Instrumentalisierungen freilegen, denen die Souveränität im politischen Raum unterliegt.

Foucault hat in seiner Auseinandersetzung mit der Souveränität einen von den praktischen Entwicklungsdynamiken erzwungenen Reduktionismus aufgezeigt. Er entfaltet anhand von historischen Analysen die Beobachtung, dass die Souveränität mal monarchisch, mal antimonarchisch besetzt gewesen sei, aber immer als eine »Relation von Souverän und Untertan« umschrieben wurde, deren Summe die »Totalität des Gesellschaftskörpers« umfasse.[1] Diese Auffassung von Souveränität brachte ein Verständnis von Macht hervor, deren Erscheinungsform und Funktionalität mit der physischen Präsenz eines oder mehrerer »Herrscher« und einer »staatlichen« Handlungsvollmacht verbunden wurde, die kollektive Austauschprozesse im Rahmen von obrigkeitlich vollzogener Regulierung, Güterverteilung, Abgaben und Ordnungen zuließ. Im 17. und 18. Jahrhundert entwickelte sich eine »Machtmechanik«, die über dieses Souveränitätsverständnis sogar noch hinausreichte und in der Überwachung von Körpern ihren Ausdruck fand. Erst mit ihrer Hilfe ließ sich schließlich der Vorrang und Siegeszug einer kapitalistischen Ökonomie begründen. Diese Machtmechanik äußerte sich in Gestalt einer mehr und mehr von den Individuen internalisierten »Disziplinarmacht«.[2] Das alte Souveränitätsverständnis, das eigentlich im nachabsolutistischen Zeitalter das Potenzial zur Entfaltung demokratischer Verfügungsgewalt in sich getragen hatte, wurde von der neuen Disziplinarmacht, die sich wirtschaftspolitischen Effizienzerwägungen verdankte, überlagert: Die Disziplinarmacht wurde in Gestalt eines »Rechtssystems« und eines »juristischen Gesetzeswerkes« in die alte Souveränität inkorporiert; dadurch wurden neuartige Herrschaftstechniken der Disziplinierung verschleiert. Das Ergebnis war eine Theorie und Strategie der Souveränität des Staates – anstatt des Volkes.[3] Seit dem 3416. Jahrhundert spitzte sich die Frage nach der Souveränität auf das machtpolitische Kalkül zu: »Wie und unter welchen Bedingungen lässt sich die Souveränität eines Souveräns über einen Staat aufrechterhalten?«[4]

Die Souveränität wanderte aus der Vorstellung autonomer Gesetzgebung ab und siedelte sich rund um die Regierungstechnik von Staaten an. »Während das Ziel der Souveränität in ihr selbst liegt und sie ihre Instrumente in Gestalt des Gesetzes aus sich selbst ableitet, liegt das Ziel der Regierung in den Dingen, die sie lenkt; es ist in der Vollendung, in der Maximierung oder Intensivierung der von ihr gelenkten Vorgänge zu suchen, und anstelle der Gesetze werden verschiedenartige Taktiken die Instrumente der Regierung bilden.«[5] Seit dem 19. Jahrhundert lässt sich ein Verständnis von Souveränität beobachten, demgemäß das »souveräne« Volk zugleich Souveränität an den Staat abtritt, der durch rechtlich codierte Disziplinierungsmaßnahmen den Zusammenhalt des Gesellschaftskörpers sichert, aber gleichzeitig die Volkssouveränität massiv einschränkt. In das Selbstverständnis der in diese Herrschaftsformen inkorporierten Individuen wandert ein Imperativ der Selbstdisziplinierung ein. Ein auf das Funktionieren staatlicher Gewalt gerichtetes »Selbstmanagement« bringt fremdbestimmte Akteure hervor.[6] Die Merkmale der politischen Sphäre, die Foucault in der Moderne ausfindig macht, zeugen von einer tief greifenden Instrumentalisierung der Individuen durch politische Imperative, die keineswegs auf Volkssouveränität und politische Partizipation gerichtet sind, sondern auf die Festigung des Herrschaftsanspruchs und der Verwaltungshoheit staatlicher Institutionen. Die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die öffentliche Sphäre geschieht zwar unter der formalen Berufung auf demokratische Legitimationsgrundlagen, gehorcht faktisch aber einem Zwang zur Anpassung jedes Einzelnen an die staatlich vorgegebenen und instrumentalisierten Imperative der Disziplinierung, Kontrolle, Überwachung und Bestrafung. Das »Regieren« erstreckt sich nicht nur auf das 35exekutive Wirken der politischen Institutionen im engeren Sinn, sondern auf die gesamten Ordnungsfunktionen des Staates bis hin zur Kontrolle des Selbstmanagements der davon betroffenen Bürgerschaft. Foucault zeigt, wie sich über manipulative Vorstellungen von »Regieren« fragwürdige Beziehungen zwischen dem Einzelnen und der kollektiven »Macht« herstellen und »wie sich Herrschaftstechniken mit ›Technologien des Selbst‹ verknüpfen«.[7] Die Individuen treten in die politische Arena nicht als frei handelnde Akteure ein, sondern als Betroffene und freiwillig Unterworfene gegenüber staatlicher Regulation und staatlichen Herrschaftsimperativen. Die Interaktionen im politischen Raum vermögen...

Erscheint lt. Verlag 12.12.2016
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Systeme
Schlagworte Bürger • Demokratie • Politische Teilhabe • STW 2194 • STW2194 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2194
ISBN-10 3-518-74856-4 / 3518748564
ISBN-13 978-3-518-74856-5 / 9783518748565
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,4 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Eine Chronologie der Gesundheitsreformen der Bundesrepublik …

von Falk Illing

eBook Download (2022)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
46,99
Taschenbuch der europäischen Integration

von Werner Weidenfeld; Wolfgang Wessels; Funda Tekin

eBook Download (2023)
Springer Fachmedien Wiesbaden (Verlag)
29,99