Demokratie im Ausnahmezustand - Matthias Lemke

Demokratie im Ausnahmezustand

Wie Regierungen ihre Macht ausweiten

(Autor)

Buch | Softcover
304 Seiten
2017
Campus (Verlag)
978-3-593-50717-0 (ISBN)
52,00 inkl. MwSt
Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden: In Frankreich, der Türkei, aber auch in Spanien, Großbritannien und in den USA sind in jüngerer Vergangenheit in Reaktion auf Anschläge, Streiks und Putschversuche die politischen Verhältnisse in Bewegung geraten. Angesichts von Krisen ziehen Regierungen immer mehr Kompetenzen an sich. Durch verfassungsrechtliche Regelungen verschiebt sich das machtteilige Gefüge der Demokratie. Es steht zu befürchten - so dieses Buch -, dass nicht die Krise selbst, sondern die Verhängung des Ausnahmezustandes und deren Folgen zur zentralen Herausforderung demokratischen Regierens in den nächsten Jahren wird.
Der Ausnahmezustand ist zum Dauerzustand geworden: In Frankreich, der Türkei, aber auch in Spanien, Großbritannien und in den USA sind in jüngerer Vergangenheit in Reaktion auf Anschläge, Streiks und Putschversuche die politischen Verhältnisse in Bewegung geraten. Angesichts von Krisen ziehen Regierungen immer mehr Kompetenzen an sich. Durch verfassungsrechtliche Regelungen verschiebt sich das machtteilige Gefüge der Demokratie. Es steht zu befürchten - so dieses Buch -, dass nicht die Krise selbst, sondern die Verhängung des Ausnahmezustandes und deren Folgen zur zentralen Herausforderung demokratischen Regierens in den nächsten Jahren wird.

Matthias Lemke, PD Dr., ist Politikwissenschaftler; er lehrt und forscht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, in Lübeck.

Inhalt
Teil 1: Problemstellung, Methode, Theoriegeschichte
1. Demokratie im Ausnahmezustand13
1.1 Gegenwartsdiagnose15
1.2 Die Frage nach dem 'Wie'23
2. Plausibilisieren in der politischen Öffentlichkeit30
2.1 Kollektive Entscheidungsfindung in der politischen Öffentlichkeit34
2.2Explorative Diskursanalyse öffentlichen Plausibilisierens43
3.Theoriegeschichte des Ausnahmezustandes52
3.1Vorstaatliche Praxis53
3.1.1 Magistratus extraordinarius: Dictator53
3.1.2 Derogatio legis59
3.2 Staatserhalt durch Expansion der Exekutivkompetenzen63
3.2.1 Niccolò Machiavelli63
3.2.2 Jean Bodin68
3.2.3 Thomas Hobbes73
3.3 Prärogative: John Locke80
3.4 Expansion der Exekutivkompetenzen in der Entstehungsphase repräsentativer Demokratie84
3.4.1 Charles de Montesquieu84
3.4.2 Alexander Hamilton, James Madison, John Jay89
3.5 Souveräne und kommissarische Diktatur: Carl Schmitt94
3.6 Exekutivexpansion als Problem101
3.6.1 Michel Foucault101
3.6.2 Giorgio Agamben107
3.7 Zusammenfassung113
Teil 2: Länderstudien
4. Die Notstandsgesetzgebung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg121
4.1 Das Erbe von Weimar122
4.2 Die Notstandsgesetze im Überblick127
4.3 Notstand in der politischen Öffentlichkeit135
4.3.1 Debatte der Notstandsgesetze137
4.3.2 Schleyer-Urteil150
4.3.3 Luftsicherheitsgesetz156
4.4 Notstand - Ausnahmezustand als Kompromiss164
5. Fluglotsenstreik in Spanien167
5.1 Rechtsgrundlagen169
5.2 Alarmzustand durch Alterität171
6. Exekutivmacht: Ausnahmezustände in den USA177
6.1 Ex parte Lambdin P. Milligan180
6.2 Korematsu vs. United States187
6.3 National Emergencies Act192
6.4 Los Angeles Riots197
6.5 Hurrikan Katrina206
6.6 Boumediene vs. Bush213
6.7 Exekutivmacht im Ausnahmezustand217
7. Klimakatastrophe auf den Marshall-Inseln219
7.1 Rechtsgrundlagen220
7.2 Ausnahmezustand durch Verletzlichkeit223
8. Ausnahmezustände in der V. Französischen Republik227
8.1 Der Ausnahmezustand in der Verfassung229
8.2 Ausnahmezustand und Dekolonisierung233
8.2.1 Algerien235
8.2.2 Neukaledonien238
8.2.3 Banlieue241
8.3 Ausnahmezustand und Terrorismus246
8.3.1 François Hollande vor dem Congrès247
8.3.2 Manuel Valls vor der Assemblée Nationale252
8.4 Ausnahmezustand 2.0256
Teil 3: Systematisierung, Perspektiven
9. Systematisierung des 'alternate law' der Demokratie261
9.1 Plausibilisierungen262
9.1.1 Unterscheidung263
9.1.2 Alterität263
9.1.3 Notwendigkeit264
9.1.4 Effizienz (zeitlich)265
9.1.5 Effizienz (ökonomisch)265
9.1.6 Aktivität267
9.1.7 Verletzlichkeit267
9.1.8 Insuffizienz268
9.1.9 Übersicht269
9.2 Analytische Perspektiven271
9.2.1 Gegenstand271
9.2.2 Blended Reading274
9.3 Liminalität des Demokratischen im Ausnahmezustand280
10. Literatur284
11. Tabellen und Grafiken304

1. Demokratie im Ausnahmezustand
"Das positive Recht kann dem Souverän ... niemals absolute Schranken setzen."
Hermann Heller
Nachdenken über den Ausnahmezustand kommt an Plettenberg nicht vorbei, seine empirische Analyse schon. Warum? Der viel zitierte Satz aus Carl Schmitts Politischer Theologie, wonach "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (Schmitt 1922: 11), weist dem Ausnahmezustand einen festen Platz in der Machtarithmetik moderner Staatlichkeit zu. Die dem Ausnahmezustand attestierte Nähe zur Souveränität der Regierung leistet jedoch zu einem vertieften Verständnis seiner Anwendung in repräsentativen Demokratien keinen nennenswerten Beitrag. Schmitts dezisionistische Perspektive, die aus seiner ablehnenden Haltung der liberalen Demokratie gegenüber herrührt, verortet die 'kommissarische Diktatur' in der Exekutive und setzt diese mit dem Souverän gleich. Damit geht Schmitts Theorie an der Verfassungsnorm repräsentativer Demokratien vorbei. Denn nicht die Regierung, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung ist souverän, was etwa John Stuart Mill so formuliert:
"Repräsentativverfassung bedeutet, dass das Volk als Ganzes oder doch zu einem beträchtlichen Teil durch periodisch gewählte Vertreter die in jedem Verfassungssystem notwendige oberste Kontrollgewalt ausübt. Diese oberste Gewalt muss ungeteilt in den Händen des Volkes liegen. Es muss jede Regierungshandlung nach Belieben kontrollieren können. [...] Verfassungsregeln werden eingehalten und funktionieren in der Praxis nur, solange sie im Rahmen der Verfassung derjenigen Macht die Herrschaft sichern, die auch in der Verfassungswirklichkeit die stärkste ist. Diese Macht ist ... die Macht des Volkes." (Mill 1861: 86)
Dem souveränen Volk gegenüber ist die Exekutive - als von eben diesem Souverän (vgl. klassisch Bodin 1583: 122, 213 ; Jellinek 1960: 481f. ) beauftragter und legitimierter Agent - begründungspflichtig. Für eine solche, demokratisch wie rechtlich eingehegte Beziehung von Souverän und Exekutive ist diese Konstellation folgenreich: Aus dem Primat der Begründung entsteht eine aktiv eingebundene politische Öffentlichkeit (vgl. Habermas 1981, 1992), die sich als Raum rechtfertigender Plausibilisierung konstituiert. In diesem Raum erfolgt eine permanente Artikulation von und Auseinandersetzung mit politischen Belangen.
Der Ausnahmezustand, eine kriseninduzierte Expansion der Exekutivkompetenzen unter Inkaufnahme von Normsuspendierungen (vgl. Lemke 2012a: 308; Förster/Lemke 2015; Ferejohn/Pasquino 2006; Manin 2015), verändert in der Regierungspraxis das Macht- und Kompetenzgefüge zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer, also zwischen Souverän und Exekutive, zugunsten des Auftragnehmers. Da der Exekutive ein Mehr an Macht zugestanden wird, was gleichzeitig mit einem Weniger an Kontroll- und Freiheitsrechten auf Seiten des Souveräns einhergeht, entsteht, parallel zur Erklärung des Ausnahmezustandes und wegen der damit einhergehenden Verschiebung des Machtgefüges, ein erhöhter Plausibilisierungsdruck. Die Regierung, die als Verfassungsorgan über die Ausrufung eines Ausnahmezustandes entscheidet, muss ihre Entscheidung öffentlich nachvollziehbar und legitim erscheinen lassen. Trifft sie solche Entscheidungen, werfen diese eine Vielzahl von Fragen auf: Wie weit kann und darf eine demokratisch legitimierte Regierung gehen, um sich selbst und die Verfassungsordnung zu erhalten (vgl. Friedrich 1961; Lemke 2013: 185f.)? Wie ist die Existenz von Phasen außergewöhnlicher Exekutivkompetenzen jenseits geltender demokratischer Verfassungsnormen, noch dazu unter Umgehung legislativer Institutionen, plausibilisierbar? Welche demokratische Qualität ist einer Regierung beizumessen, die sich in ihrer Praxis zunehmend dem Exzeptionellen (vgl. Neal 2010) zuwendet? Diesen für das Selbstverständnis repräsentativer Demokratien als Rechtsstaaten zentralen Grenzfragen geht diese Studie nach.
1.1 Gegenwartsdiagnose
Wir reden imme

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 142 x 213 mm
Gewicht 389 g
Themenwelt Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Politische Theorie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung Staat / Verwaltung
Schlagworte 21. Jahrhundert • Agamben • alternate law • Ausnahmezustand • Corona • Demokratie • Deutschland • Diktatur • Diskursanalyse • Exekutive • Exekutivkompetenzen • Frankreich • Krise • Notstandsgesetze • Pandemie • Politik • Politik /Theorie • Politische Theorie • Regieren • Schmitt • USA
ISBN-10 3-593-50717-X / 359350717X
ISBN-13 978-3-593-50717-0 / 9783593507170
Zustand Neuware
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