Theorien Sozialer Bewegungen
Campus (Verlag)
978-3-593-50715-6 (ISBN)
Soziale Bewegungen haben eine lange Tradition als Agenten des sozialen Wandels. In den vergangenen Jahren haben sie wieder eine besondere öffentliche Sichtbarkeit erlangt, etwa durch den Arabischen Frühling, Occupy Wall Street oder Pegida. Die Sozialwissenschaften beschäftigen sich schon seit ihren Anfangstagen mit der Frage, unter welchen Umständen Soziale Bewegungen entstehen und erfolgreich sind. Dieser Band stellt einen Überblick der Theorien über Soziale Bewegungen zur Verfügung und bietet damit einen konzeptuellen Werkzeugkasten, mit dem sich aktuelle Phänomene erfassen, beschreiben und erklären lassen. Seine theorievergleichende Perspektive ermöglicht, nicht nur Soziale Bewegungen selbst, sondern auch ihre sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung im Wandel der Zeit zu beobachten und zu verstehen.
Heiko Beyer, PD Dr., ist Akademischer Oberrat auf Zeit am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Düsseldorf. Annette Schnabel ist Professorin für Soziologie an der Universität Düsseldorf.
Inhalt
1. Einleitung 9
1.1 Zur Brisanz Sozialer Bewegungen 9
1.2 Was sind Soziale Bewegungen? 13
1.3 Aufbau des Buchs 16
2. Die Geburt der Bewegungsforschung aus dem Geist des Marxismus 22
2.1 Karl Marx' Theorie(n) sozialen Wandels 23
2.1.1 Das Frühwerk 24
2.1.1 Das Spätwerk 27
2.2 Marxismus 31
2.2.1 Lenin und der Sowjetmarxismus 31
2.2.2 Georg Lukács und die Kritische Theorie 34
2.2.3 Antonio Gramsci und der Postmarxismus 39
2.3 Anknüpfungspunkte für die Bewegungsforschung 43
3. Die Rebellion der Unzufriedenen 46
3.1 Massenpsychologie - Die Macht der Masse 47
3.2 Collective Behavior - Die Masse wird zum soziologischen Phänomen 49
3.3 Social Strain - Soziale Bewegungen zum Abbau gesellschaftlicher Spannungen 55
3.4 Deprivation - Die Masse wird verabschiedet 59
4. Wie mobilisiert man rationale Akteur*innen? 66
4.1 Zur Organisation Sozialer Bewegungen - Die Ressourcenmobilisierungstheorie 67
4.2 Die Rationalität des Status quo - (Nicht-)Beteiligung als Rational Choice 74
4.2.1 Das Kollektivgutproblem 77
4.2.2 Lösungsvorschläge des Kollektivgutproblems 82
4.3 Die Leipziger Montagsdemonstrationen als Akte rationaler Handlungswahl 98
5. Der Einfluss politischer Strukturen und Prozesse auf Soziale Bewegungen 104
5.1 Zentrale Ansätze 105
5.1.1 Political Opportunity Structures 105
5.1.2 Political Process 111
5.1.3 Dynamics of Contention 118
5.2 Empirische Studien 124
5.2.1 Die Gelegenheitsstrukturen der Antiatomkraftbewegung 124
5.2.2 Der lange Weg der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung 127
5.2.3 Yes we can - Konfliktdynamiken im digitalen Wahlkampf 129
5.3 Kritik 132
6. Der Cultural Turn in der Bewegungsforschung 137
6.1 Zentrale Ansätze 138
6.1.1 Collective Identity und Neue Soziale Bewegungen 138
6.1.2 Framing 152
6.2 Empirische Studien 167
6.2.1 Kollektive Identitäten auf dem Prüfstand 167
6.2.2 Atomkraft, Frauenrechte und Globalisierung aus Sicht der Framing-Theorie 174
6.3 Kritik 183
6.3.1 Offene Fragen an die Collective Identity Theory 184
6.3.2 Probleme der Framing-Theorie 186
7. Ausblick: Jüngere theoretische Entwicklungen in der Bewegungsforschung 190
7.1 Soziale Bewegungen in einer neoliberalen und global vernetzten Welt 192
7.2 Die Digitalisierung der Social Networks 198
7.3 Judith Butler und die Theorie der Anerkennung 203
7.4 Körper, Emotionen, Atmosphären 207
Abbildungen 210
Literatur 211
»Beyer und Schnabel erweisen sich als gute Kenner der Forschungs- und Theoriegeschichte. Durch ihre ausgreifende Darstellung auf engem Raum ist ihnen eine sowohl für Einsteiger wie Kenner nützliche Überblicksdarstellung gelungen. Auch die Benennung von Kritik an den jeweiligen Theorien und eine Abklärung des Spannungsverhältnisses bei den Ansätzen sprechen für diese Einführung.« Armin Pfahl-Traughber, Humanistischer Pressedienst, 04.07.2017
»Den Autor_innen [ist] eine kenntnisreiche, konzise und - gemessen an der Informationsdichte - auch gut lesbare Einführung gelungen. Die Beschränkung auf Theorien hebt das Buch von anderen Einführungen zu sozialen Bewegungen in deutscher Sprache ab und ist Studierenden, Lehrenden und anderen Interessierten zur Einarbeitung in das ungemein breite Themenfeld sehr zu empfehlen.« Ulf Teichmann, Soziopolis, 26.04.2018
»Beyer und Schnabel erweisen sich als gute Kenner der Forschungs- und Theoriegeschichte. Durch ihre ausgreifende Darstellung auf engem Raum ist ihnen eine sowohl für Einsteiger wie Kenner nützliche Überblicksdarstellung gelungen. Auch die Benennung von Kritik an den jeweiligen Theorien und eine Abklärung des Spannungsverhältnisses bei den Ansätzen sprechen für diese Einführung.« Armin Pfahl-Traughber, Humanistischer Pressedienst, 04.07.2017
»Den Autor_innen [ist] eine kenntnisreiche, konzise und – gemessen an der Informationsdichte – auch gut lesbare Einführung gelungen. Die Beschränkung auf Theorien hebt das Buch von anderen Einführungen zu sozialen Bewegungen in deutscher Sprache ab und ist Studierenden, Lehrenden und anderen Interessierten zur Einarbeitung in das ungemein breite Themenfeld sehr zu empfehlen.« Ulf Teichmann, Soziopolis, 26.04.2018
1. Einleitung 1.1 Zur Brisanz Sozialer Bewegungen Im Morgengrauen des 15. August 1963 machten sich Lawrence Cumberbatch, ein sechzehnjähriger Teenager aus Brooklyn, und zwölf weitere Mitglieder der hiesigen Ortgruppe des Congress of Racial Equality (CORE) auf den Weg, um gemeinsam mit 250.000 anderen Aktivist*innen in Washington DC für die Bürgerrechte der schwarzen Bevölkerung der Vereinigten Staaten zu demonstrieren. Im Gegensatz zu vielen anderen Teilnehmer*innen traten Cumberbatch und seine Genoss*innen die Anreise jedoch nicht mit dem Bus oder in Autos an. Stattdessen hatten sie beschlossen, die Strecke von Brooklyn nach Washington zu Fuß zurückzulegen. Startpunkt war das heute noch existierende Downstate Hospital in der Lenox Road unweit des Prospect Parks, das damals gerade erbaut wurde und vor dem Cumberbatch mit seinen Freund*innen wochenlang protestiert hatte, da die State University, die auf dem Krankenhausgelände ein Wohnheim für ihre Medizinstudent*innen errichtete, Weiße bei der Job-Auswahl bevorzugt zu haben schien. An der Kundgebung in Washington teilnehmen wollte Cumberbatchs Ortgruppe dementsprechend vor allem, weil sie sich davon eine Verbesserung der Situation auf dem Arbeitsmarkt erhoffte. Ein Foto zeigt die vier Frauen und neun Männer mit selbstbemalten "Freedom Now"-Sweatshirts, Schlafsäcken und Reisetaschen am Morgen des 15. August aufbrechen. In den folgenden zwölf Tagen schlief die Gruppe auf Supermarktparkplätzen, ernährte sich hauptsächlich von Keksen und erfuhr von vorbeifahrenden Autofahrer*innen und Passant*innen immer wieder rassistische Beschimpfungen, manchmal jedoch auch Ermunterungen. Die dreißig Meilen durch Delaware mussten an einem einzigen Tag zurückgelegt werden, da die dortige Polizei den Aktivist*innen verboten hatte, ein Camp aufzuschlagen. Einige Menschen spendeten der Gruppe Geld oder luden sie zum Essen ein. Am Abend des 27. August erreichten die CORE-Mitglieder schließlich Washington. Sie übernachteten bei Gleichgesinnten in der Umgebung, begaben sich am nächsten Morgen zur Demonstration und wurden so Zeug*innen eines der wichtigsten Momente in der US-amerikanischen Geschichte. Da die Gruppe durch die wortwörtliche Umsetzung ihrer Aktion, "nach Washington zu marschieren", zu diesem Zeitpunkt bereits einige Bekanntheit erlangt hatte, durfte sie mit Martin Luther King jr. das Podium vor dem Lincoln Memorial betreten. Lawrence Cumberbatch erinnert sich an diesen Moment folgendermaßen: "›The only way I could explain the experience is that once we gathered from the different homes where we'd spent the night, we walked through the throngs of people, we were escorted up to the podium, and that's when it struck. You could see nothing but this landscape of people, nothing but people. It was really incredible. We were giddy. I can remember it.‹" (zit. nach Cumberbatch Anderson 2013) Der kurzfristige realpolitische Ertrag des March on Washington war weitaus weniger überwältigend, als die beschriebenen Erfahrungen, die Cumberbatch und andere Teilnehmer*innen in Bezug auf die Demonstration in Erinnerung behielten. Für die schwarzen Arbeiter*innen änderte sich zunächst wenig. Dennoch ist wohl unstrittig, dass der March on Washington einen der wichtigsten symbolischen Erfolge des civil rights movement darstellt. Vor allem dank Martin Luther Kings "I have a dream"-Rede steht das Ereignis bis heute weltweit als Sinnbild für das Aufbegehren einer unterdrückten Minderheit, die sich erfolgreich gesellschaftliche Teilhabe erkämpft hat. Soziale Bewegungen sind oftmals der einzige Weg für marginalisierte Bevölkerungsgruppen, gegen Diskriminierung und ungerechte Lebensbedingungen aufzubegehren. Bewegungsorganisationen sind im Vergleich zu staatlichen Akteur*innen weniger darauf angewiesen, Mehrheitsmeinungen und -interessen zu repräsentieren und fokussieren sich in der Regel gerade auf Themen, die nicht oder nur unzureichend von der Parteienlandschaft abgedeckt werden. In diesem Sinne sind sie ein bedeutender Bestandteil zivilgesellschaftlicher Mitbestimmung und eines der wichtigsten Werkzeuge demokratischer Gesellschaften, um Minderheitenforderungen in den öffentlichen Diskurs zu integrieren (Alexander 2006). In den letzten Jahren wurde der Bewegungsforschung jedoch von der politischen Realität eine bittere Lektion erteilt; nämlich jene, dass es sich bei Minderheitenmeinungen durchaus auch um solche handeln kann, die anderen Minderheiten ihre Rechte absprechen. War der Erfolg der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung unmittelbar an den Aufstieg der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre geknüpft gewesen, überschnitten sich häufig sogar die Rolle der Aktivist*in mit jener des Forschenden, so erscheint vor dem Hintergrund der aktuellen antiegalitären Bewegungen diese Überidentifikation mit den Untersuchungsobjekten als Ursache eines konzeptuellen blinden Flecks: Die normative Aufladung von Begriffen wie Soziale Bewegung, Zivilgesellschaft und Demokratie, die in den Sozialwissenschaften häufig zu beobachten ist, hat problematische Konsequenzen für die Analyse der neuesten Sozialen Bewegungen. Nicht, weil die zugrunde liegende Norm nicht potenziell begründungsfähig wäre - warum sollte man sich nicht darauf einigen können, dass zivilgesellschaftlicher Protest oft sozial erwünschte Folgen hervorbringt? -, sondern weil damit Phänomene wie Antisemitismus, Antiamerikanismus, Antifeminismus und Rassismus, die ideologischer Grundbestandteil auch einiger (nicht nur rechtsextremer) Sozialer Bewegungen waren und sind, aus dem Blick geraten. Diese operieren ironischerweise meist genau mit dem Argument, sie nähmen die Demokratie ernst. Ihre Positionen würden von den Eliten als ›politisch inkorrekt‹ gebrandmarkt, obwohl sie dem ›Willen des Volks‹ entsprächen. Der vorliegende Einführungsband ist uns nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Erfolgs neurechter und islamistischer Bewegungen in den letzten Jahren ein besonderes Anliegen. Konnten die Sozialwissenschaften durch die Civil-Rights-, Studenten-, Friedens-, Umwelt-, Frauen- und Gay-Rights-Bewegung der 1970er und 1980er Jahre das Phänomen der Sozialen Bewegungen gar nicht mehr übersehen, so sind es heute Pegida, Brexit und alt-right, aber auch ISIS, El Kaida und Salafismus, die das Thema wieder in den unmittelbaren Fokus der Forschung rücken. Unser Buch will hierfür einen theoretischen Werkzeugkasten zusammenstellen. Sein Gegenstand sind sozialwissenschaftliche Theorien über Soziale Bewegungen, angefangen bei den klassischen Schriften des Marxismus und der Massenpsychologie, bis hin zu aktuellen Ansätzen der Bewegungsforschung. Diese Ansätze sollen dabei helfen, Soziale Bewegungen, unabhängig von ihrer politischen Selbstbeschreibung, als soziale und politische Kräfte zu analysieren, die Gesellschaften prägen, indem sie diese verändern oder aber konservieren. 1.2 Was sind Soziale Bewegungen? Soziale Bewegungen sind Arten kollektiven Verhaltens, die es zunächst von ähnlichen Phänomenen des Sozialen wie Massenpaniken, Trends, Pogromen oder Revolutionen abzugrenzen gilt. Im Vergleich zum Beispiel zu Massenpaniken liegt bei Sozialen Bewegungen statt intuitiven Reaktionen ein mit "subjektive[m] Sinn" verbundenes Verhalten vor, das "auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist" (Weber 1985 [1922]: 542) - wir haben es also mit sozialem Handeln im Sinne Max Webers zu tun. Im Fall Sozialer Bewegungen sind nun die einzelnen Handlungen der Akteur*innen in einer besonderen Weise aufeinander bezogen: Die Mitglieder Sozialer Bewegungen beziehen ihre Handlungen aufeinander und auf Sympathisant*innen, die potenziell Mitglieder werden können (diese Bezüge sind theoretisch nicht einfach zu erklären, wie dieser Band zeigen wird), und sie handeln mit Bezug auf diejenigen, die als politische Gegner*innen identifiziert wurden. Insbesondere aus dieser letztgenannten ›sozialen Beziehung‹ im Weber'schen Sinne ergibt sich auch die Intentionalität oder Zielorientierung Sozialer Bewegungen, nämlich ihre Interessen gegen jene der Gegner durchzusetzen. Dies reicht jedoch für eine präzisere Bestimmung dessen, was Soziale Bewegungen nun gegenüber anderen Phänomenen kollektiven Handelns auszeichnet nicht hin: Betrachten wir für die weitere Bestimmung des Begriffs der Sozialen Bewegung daher einige für die vorliegende Literatur zum Thema maßgebliche Definitionen. Mayer N. Zald und Roberta Ash fassen den Begriff in ihrem paradigmatischen Aufsatz von 1966 Social Movement Organizations: Growth, Decay and Change zum Beispiel folgendermaßen: "A social movement is a purposive and collective attempt of a number of people to change individuals or societal institutions and structures." (Zald/Ash 1966: 329) Hier wird neben den bereits erwähnten Kriterien der Kollektivität und Intentionalität insbesondere betont, dass es den Akteur*innen um die Veränderung bestehender Verhältnisse geht. Fraglich ist, ob dieses Kriterium notwendigerweise vorliegen muss. In der Regel dürfte das Ziel Sozialer Bewegungen zwar fraglos darin bestehen, einen gesellschaftlichen Ist-Zustand zu verändern, es kommt aber durchaus vor, dass sich Soziale Bewegungen formieren um einen Ist-Zustand zu verteidigen. Bei solchen sozialen Bewegungen handelt es sich dann um sogenannte countermovements (Rohlinger 2002). Letztlich scheint es jedoch eine Frage der Perspektive, welche Bewegungsorganisationen als ›Bewegung‹ und welche als ›Gegenbewegung‹ angesehen werden können. Denn auch Gegenbewegungen zielen oft auf eine empfundene Meinungshoheit bestimmter Eliten, selbst wenn diese sich nicht in parlamentarischen Mehrheiten ausdrückt. Die von Sydney G. Tarrow in Power in Movement (erstmalig veröffentlicht im Jahr 1994) verwendete Definition berührt diesen Aspekt, indem sie Soziale Bewegungen als "collective challenges, based on common purposes and social solidarities, in sustained interaction with elites, opponents, and authorities" (Tarrow 2011: 9) beschreibt. Unter collective challenges werden dabei vor allem konflikthafte Kämpfe gegen eine in bestimmtem Sinne als machtvoll empfundene Gruppe verstanden. Diese können zum Beispiel in Form von konkreten Demonstrationen oder auch einer umfassenden symbolischen Gegenkultur zum Ausdruck gebracht werden. Wichtig scheint für Tarrow dabei neben dem hier in die Begriffe des common purpose und der social solidarity aufgespaltenen Moments der Kollektivität, dass der artikulierte Protest von einer gewissen Dauer ist. Darin unterscheiden sich laut Tarrow (2011: 11f.) Soziale Bewegungen von anderen Formen der contentious politics, etwa von spontanen Aufständen, Unruhen und Revolutionen. Das Konzept der contentious politics kann dabei gewissermaßen als Überkategorie begriffen werden, die an anderer Stelle als "episodic, public, collective interaction among makers of claims and their objects" (McAdam u.?a. 2001: 5) definiert wird. Auch Soziale Bewegungen sind damit nur als episodenhaft zu verstehen, gleichwohl diese Episoden mitunter recht lang andauern und Soziale Bewegungen sowohl untergehen als auch wiederauferstehen können. Um Episoden handelt es sind jedoch allein schon deshalb, weil ein längeres Überdauern einer Sozialen Bewegungen zu ihrer Institutionalisierung führen dürfte. Aus Bewegungsorganisationen erwachsen so schließlich Parteien, die sich in die staatliche Politik integrieren. Der ›Weg durch die Institutionen‹, den die Umweltbewegung zurückgelegt hat und der sich am Erfolg der Partei der Grünen manifestiert (vgl. Markovits/Gorski 1997), liefert diesbezüglich ein anschauliches Beispiel. Damit wird deutlich, dass Begriffe, die in einer festen Organisationsstruktur ein notwendiges Definitionskriterium Sozialer Bewegungen sehen, als problematisch gelten müssen, obschon dies für die Mehrzahl der Definitionen zutrifft und sogar ein gesamter Theoriestrang (nämlich der Ressourcenmobilisierungsansatz; siehe Kapitel 4) auf dieser Annahme aufbaut. Da sich jedoch Organisationen gerade durch das Auf-Dauer-Stellen der Zielverfolgung, formale Regeln der Mitgliedschaft und eine formalisierte Hierarchiestruktur auszeichnen (vgl. aus systemtheoretischer Perspektive die klassische Definition von Luhmann 2005: 12f.), scheint es prinzipiell nicht sinnvoll, nur dort von Sozialen Bewegungen zu sprechen, wo diese solchermaßen charakterisierte Organisationen aufbauen, sondern vielmehr analytisch auch den Fall diffus strukturierter Bewegungen zuzulassen. Auf Basis dieser Blütenlese von Begriffen lassen sich an dieser Stelle nun Soziale Bewegungen allgemein folgendermaßen definieren: Soziale Bewegungen umfassen Phänomene sozialen Handels, bei denen sich Akteur*innen aufgrund der Unterstellung gemeinsamer Ziele zumindest diffus organisieren und für eine längere Zeit zu einem Kollektiv zusammenschließen, um mit institutionalisierter Entscheidungsgewalt ausgestattete individuelle oder kollektive Akteur*innen im Modus des Konflikts zu beeinflussen. Jenes Bewegungskollektiv zerfällt dann oft wiederum in Teilgruppen, sogenannte Bewegungsorganisationen (McCarthy/Zald 1977), die mitunter durchaus unterschiedliche Vorstellungen hinsichtlich der strategischen und taktischen Ausrichtung, der konkreten Ziele und der Bewegungsidentität als solcher haben. Dennoch eint diese Organisationen im Normalfall ein gemeinsamer Feind sowie das sprichwörtliche große Ganze, also die abstrakte Idee des ersehnten Soll-Zustands. Doch dies sind Überlegungen, die nicht die Definition von Sozialen Bewegungen tangieren, sondern bereits auf die Ursachen ihres Erfolgs oder Scheiterns verweisen. Jene schöpfen, in anderen Worten, bereits aus den Erkenntnissen der Theorien, mit denen sich das vorliegende Buch nun erst eingehender beschäftigen will. 1.3 Aufbau des Buchs Genau wie alle anderen Sozialwissenschaften zeichnet sich auch die Forschung zu Sozialen Bewegungen durch das Ineinandergreifen von Theorie und Empirie aus. Die Dynamiken des Erkenntnisgewinns in diesem Feld werden einerseits durch Entwicklungen in der allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theorie vorangetrieben, den hier stattfindenden Debatten und den entsprechenden turns, die den Sozialwissenschaften in den letzten Jahrzehnten neue Impulse lieferten. So lassen sich enge Verzahnungen zwischen Interaktionismus und Collective-Behavior-Ansätzen der Bewegungsforschung, zwischen Organisationssoziologie und dem Ressourcenmobilisierungsansatz oder zwischen Theorien rationaler Handlungswahl und Critical-Mass-Ansätzen beobachten. Andererseits wird die Erforschung immer auch durch neue Beobachtungen und Veränderungen im Phänomenbereich der aktuell aktiven Sozialen Bewegungen initiiert. Hier lässt sich die Fokusverschiebung von individueller Unzufriedenheit zu organisationalen Formen der Mobilisierung in den späten 1970er Jahren, aber auch die Digitalisierung sozialer Protestbewegungen nennen. Gleichzeitig gehen von der Bewegungsforschung Impulse aus, die in der allgemeinen Sozialwissenschaft und ihren Teildisziplinen mehr oder minder enthusiastisch aufgenommen werden (zum Beispiel im Neo-Institutionalismus). Wir beschränken uns mit dem vorliegenden Band auf den ersten der drei Mechanismen der Wissensgenerierung: Uns interessiert die Geschichte der verschiedenen Theorien Sozialer Bewegungen, ihr Schicksal und ihre innere Dynamik. Auch wenn die Sozialgestalt der Sozialen Bewegung historisch bereits viel früher auftritt, beginnen wir mit einem Blick in das 19. Jahrhundert, als von den Sozialwissenschaften im heutigen Sinne noch nicht die Rede sein konnte. Dementsprechend waren die Reflexionen über Soziale Bewegungen vordergründig vor allem politische. Konkret erwuchs dieses Interesse aus der revolutionären Arbeiterbewegung, insbesondere aus dem Marxismus. Dass Karl Marx selbst zu den Gründungsvätern der Soziologie gehört, verdeutlicht, wie fest die Klassiker mit beiden Beinen auf dem Boden der damaligen Verhältnisse standen. Ihre Theorien entwickelten sie vor dem Hintergrund konkreter gesellschaftlicher Probleme des ausgehenden 19. Jahrhunderts: der sozialen Frage, des sozialen Wandels (›Modernisierung‹) sowie den Bedingungen und Grenzen sozialer Ordnung. Der Ursprung der Bewegungsforschung fällt dementsprechend kaum zufällig mit jenem der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, zusammen. Hatte der Namensgeber der Soziologie, Auguste Comte, gesellschaftlichen Wandel im Wesentlichen noch als erfahrungsbasierten Erkenntnisfortschritt beschrieben, so verstand Marx Geschichte als eine Abfolge von Konfliktverhältnissen, die von konkreten, handelnden Menschen inszeniert werden. Aus dem Kampf zwischen den etablierten Kräften der Bourgeoisie und der aufstrebenden Arbeiterklasse, so Marx' Hoffnung, sollte eine bessere, weil menschlichere Gesellschaft hervorgehen. Die Arbeiterbewegung galt ihm als eigentlicher (kollektiver) Akteur der Geschichte, als ›revolutionäres Subjekt‹. Das folgende, 2. Kapitel skizziert diesen und weiterführende Gedanken des Marx'schen Früh- und Spätwerks und beleuchtet zudem die wichtigsten Entwicklungen im Marxismus des 20. Jahrhunderts. Das 3. Kapitel beginnt mit einem ähnlich klassischen Ansatz, nämlich jenem von Gustave Le Bon, der Soziale Bewegungen aus Sicht der Massenpsychologie beschrieb. Soziale Bewegungen wurden von Le Bon als Gefährdungen der bestehenden Machtverhältnisse eingeschätzt. Ihre revolutionäre Kraft würden sie allein aus irrationalen Impulsen und Emotionen ziehen. Le Bon unterstellte, dass der Mensch sich in der Masse zu einem allein von Trieben gesteuerten Wesen verwandle. Diese Annahme sollte die Agenda für die folgenden siebzig Jahre Bewegungsforschung dominieren. Im Anschluss an die Massenpsychologie werden dementsprechend die Ansätze zu collective behavior von Robert E. Park und Ernest W. Burgess, von Herbert Blumer, Ralph H. Turner und Lewis M. Killian sowie Neil J. Smelser vorgestellt, die Soziale Bewegungen ebenfalls als eigenlogische Phänomene thematisieren, die individuelle Entscheidungsleistungen zu überschreiten vermögen. Diese Ansätze sind eng verzahnt mit der zum Zeitpunkt ihrer Entstehung in den USA prominentesten soziologischen Theorie, der Interaktionstheorie der Chicago-School. Das Kapitel schließt mit Ansätzen zu (relativer) Deprivation, die kritisch unmittelbar an die Collective-Behavior-Theorien anknüpfen. Sie stellen erstens (und erstmals) Soziale Bewegungen als eigenständiges Sozialphänomen heraus und machen, zweitens, die Eigenlogik individuellen Handelns gegen die Logik kollektiver Mobilisierung stark. Diese Theorien führen politischen Protest auf sozialen Wandel zurück, der wiederum zu Perzeptionen relativer Benachteiligung und infolgedessen zu Frustration, Wut und Aufbegehren führen könne. Das 4. Kapitel zeichnet einen der wichtigsten Paradigmenwechsel in der Bewegungsforschung nach. In den hier vorgestellten Theorien werden die Akteur*innen mitsamt ihren Ressourcen, ihrer Organisationsfähigkeit, ihren Zielen und Wünschen in den Vordergrund der Analysen gestellt. Sie gelten nicht länger als quasi-automatisch handelnde Teile eines hermetischen Kollektivs; die Mobilisierung wird vielmehr von den eigeninteressierten, rationalen Erwägungen der Akteur*innen abhängig gemacht. Während der Ressourcenmobilisierungsansatz - wie der Name schon sagt - auf die Ressourcen, ihre Zusammenführung und Organisation fokussiert, formulieren Ansätze rationaler Handlungswahl zunächst die Frage, ob rationale Akteur*innen überhaupt ›gute Gründe‹ für ein Bewegungsengagement haben. Mancur Olsons (1985 [1965]) Überlegungen zum Kollektivgutproblem hatten nahegelegt, dass diese eher einen Anreiz haben könnten, abzuwarten, bis andere sich engagieren, bevor sie selbst Zeit, Geld und kognitive Kapazitäten in den politischen Kampf investieren. Im Rahmen der Rational-Choice-Theorien (RC-Theorien) konnten jedoch Lösungsansätze für dieses Problem entwickelt werden, die zeigen, dass es durchaus ›gute Gründe‹ jenseits der Anreize zum ›Trittbrettfahren‹ geben könnte, einer Bewegung beizutreten und aktiv zu werden. Diese Ansätze legen allerdings auch nahe, dass gleiche Ziele eben nur unter sehr bestimmten Bedingungen auch zu gemeinsamen Zielen werden können und dass hierfür weder gleiche Lebenslagen noch ähnlich gelagerte Unzufriedenheiten hinreichend sind. Zum Abschluss des Kapitels wird anhand des Beispiels der Leipziger Montagsdemonstrationen von 1989 exemplifiziert, wie sich Theorien rationaler Handlungswahl zur Erklärung von Entscheidungen zur Teilnahme an politischen Protestaktionen nutzen lassen. Etwa zur selben Zeit, zu der verschiedene Autor*innen am Ressourcenmobilisierungsansatz arbeiteten, entstand die sogenannte Theorie der political opportunity structures, mit der sich das 5. Kapitel beschäftigt. Wie der Name schon verrät, interessiert sich dieser Ansatz vor allem für das politisch-institutionelle Umfeld, in dem Soziale Bewegungen und vor allem Proteste entstehen. Von Peter K. Eisinger, einem der Begründer des politischen Forschungsprogramms, wird etwa gezeigt, dass sowohl sehr offene als auch sehr geschlossene Strukturen Proteste gleichermaßen eher verhindern. Spätere Arbeiten von Doug McAdam, Charles Tilly und Sydney Tarrow weisen darauf hin, dass jene Strukturen jedoch immer erst von den Akteur*innen als ›geschlossen‹ oder ›offen‹ interpretiert werden müssen, damit sie überhaupt Handlungswirksamkeit erlangen. Und diese Interpretationen der Wirklichkeit können bisweilen sehr unterschiedlich ausfallen. Zudem versuchten sich die drei genannten Autoren Anfang der 2000er Jahre an einem sowohl theorieintegrativen als auch ›dynamischen‹ Modell, das auf ein breiteres Spektrum von Phänomenen, die in den Bereich contentious politics fallen, angewendet werden kann. Ihr Dynamics-of-Contention-Ansatz kann als umfassendste Weiterentwicklung des politischen Forschungsprogramms gelten und hat in der jüngsten Zeit zahlreiche empirische Untersuchungen inspiriert, von denen einige ebenfalls in Kapitel 5 vorgestellt werden. Eine Vielzahl an Studien haben auch die im 6. Kapitel zu behandelnden kultursoziologischen Ansätze des framing und der collective identity hervorgebracht. Sie gehören bis heute zu den populärsten Konzepten, wenn es darum geht, die Motive und Eigensinnigkeiten der sich in Sozialen Bewegungen engagierenden Menschen nachzuvollziehen. Auf den strukturellen Bias des Political-Opportunity-Structures-Ansatzes sowie den rationalistischen Duktus der Ressourcenmobilisierungstheorie reagierend, brachten es in den 1980er Jahren zunehmend Autor*innen zu Berühmtheit, die sich für die individuellen Sinn-Konstruktionen und die Interpretationsmuster von Akteur*innen interessierten. Die (eigene) Erfahrung in den ›Neuen Sozialen Bewegungen‹ hatte dazu geführt, dass man sich nun vermehrt den symbolischen Ausdrucksweisen der Protestierenden und ihrem Spiel mit Bedeutungen widmete. Kulturell expressive Bewegungen wie die Umwelt- oder Friedensbewegung zwangen den Forschenden gewissermaßen eine kulturelle Perspektive auf. Nicht überraschend wuchs sich dieser konzeptuelle Neuanfang zu einem paradigmatischen cultural turn aus, wie er sich auch in den Mainstream-Sozialwissenschaften in diesem Zeitraum finden lässt, sodass die Begriffe des framing und der collective identity über mehrere Jahrzehnte hinweg aus kaum einer Publikation zu Sozialen Bewegungen wegzudenken waren. Inzwischen hat sich einige Kritik an dieser Dominanz formiert, die am Ende des Kapitels kurz zu Gehör kommen soll. In Anbetracht der politischen und theoretischen Entwicklungen dieser Tage schließen wir den Band mit einem kursorischen Überblick über regimetransformierende Bewegungen in Osteuropa, den Arabischen Frühling, die antikapitalistische Occupybewegung und die rechtspopulistische Pegida-Bewegung in Deutschland. Als besonderes theoretisch interessierendes Phänomen wird die Digitalisierung dieser Bewegungen in den Blick genommen, da sich hierin unseres Erachtens einer der wichtigsten Unterschiede im Vergleich zu älteren Sozialen Bewegungen erkennen lässt. Das Buch endet mit zwei theoretischen Herausforderungen: einem Vorschlag, wie sich die Anerkennungstheorie von Judith Butler analytisch für die Bewegungsforschung nutzbar machen lassen könnte, sowie einigen theoriegeleiteten Überlegungen zur systematischen Inklusion von Körper, Emotionen und Raum in die Bewegungsforschung. Trotz einer langen, eigenständigen und multiperspektivischen Theorietradition bleibt das empirische Feld der Sozialen Bewegungen wie es scheint nicht zuletzt angesichts der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen komplex genug, um die Theoriebildung immer wieder vor neue Herausforderungen zu stellen. Gleichzeitig sind die theoretischen Impulse, die aus den allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theoriedebatten in jene der Bewegungsforschung ›herüberschwappen‹, inspirierend genug, immer wieder neue Aspekte des Phänomenbereichs Soziale Bewegungen aus neuen konzeptuellen Blickwinkeln zu betrachten.
Erscheinungsdatum | 02.06.2017 |
---|---|
Reihe/Serie | Reihe Campus Studium |
Verlagsort | Frankfurt |
Sprache | deutsch |
Maße | 136 x 207 mm |
Gewicht | 272 g |
Themenwelt | Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeines / Lexika |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Allgemeine Soziologie | |
Sozialwissenschaften ► Soziologie ► Spezielle Soziologien | |
Schlagworte | Bewegungsforschung • Black lives matter • Cultural Turn • Emanzipation • Gesellschaftlicher Wandel • Gesellschaftsanalyse • Gramsci • Grundlagen der Sozialwissenschaft • Judith Butler • Marxismus • Pegida • Querdenken • Soziale Bewegung • Sozialwissenschaft • soziologische Analyse • Soziologische Theorie • Ursachen • Ursachen gesellschaftlicher Veränderung • Wissenschaftstheorie |
ISBN-10 | 3-593-50715-3 / 3593507153 |
ISBN-13 | 978-3-593-50715-6 / 9783593507156 |
Zustand | Neuware |
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