Unbeugsam hinter Gittern - Jan-Hendrik Schulz

Unbeugsam hinter Gittern

Die Hungerstreiks der RAF nach dem Deutschen Herbst
Buch | Softcover
520 Seiten
2019
Campus (Verlag)
978-3-593-50681-4 (ISBN)
75,00 inkl. MwSt
Nach dem Deutschen Herbst (1977) sahen die Gefangenen der Roten Armee Fraktion in Hungerstreiks ihre vermeintlich letzte Waffe zur Verbesserung ihrer Situation in den bundesdeutschen Haftanstalten. Jan-Hendrik Schulz legt kenntnisreich dar, wie diese Kampagnen der Inhaftierten von einem internationalen Unterstützerumfeld begleitet wurden, zu dem auch die relativ erfolglosen Hungerstreiks der Action Directe in Frankreich gehörten. Basierend auf einem umfangreichen Quellenkorpus, bietet dieses Buch - eine Pionierarbeit der historischen Terrorismusforschung, die als erste geschichtswissenschaftliche Studie die späte Wirkungsgeschichte der RAF in den 1980er-Jahren untersucht - eine neue Sicht auf das Beziehungsgeflecht zwischen RAF-Gefangenen und ihrem "radikalen Milieu".
Nach dem Deutschen Herbst (1977) sahen die Gefangenen der Roten Armee Fraktion in Hungerstreiks ihre vermeintlich letzte Waffe zur Verbesserung ihrer Situation in den bundesdeutschen Haftanstalten. Jan-Hendrik Schulz legt kenntnisreich dar, wie diese Kampagnen der Inhaftierten von einem internationalen Unterstützerumfeld begleitet wurden, zu dem auch die relativ erfolglosen Hungerstreiks der Action Directe in Frankreich gehörten. Basierend auf einem umfangreichen Quellenkorpus, bietet dieses Buch - eine Pionierarbeit der historischen Terrorismusforschung, die als erste geschichtswissenschaftliche Studie die späte Wirkungsgeschichte der RAF in den 1980er-Jahren untersucht - eine neue Sicht auf das Beziehungsgeflecht zwischen RAF-Gefangenen und ihrem "radikalen Milieu".

Jan-Hendrik Schulz, Dr. phil., ist Historiker und wurde am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz promoviert.

Inhalt
Vorwort 9
Einleitung 11

I. Haftbedingungen, Hungerstreiks und Gefangenenbewegung in den 1970er und 1980er Jahren
1. Das politische Kommunikationsmittel Hungerstreik und seine Bezugsgruppen 33
2. Die Haftbedingungen politischer Gefangener zwischen Mythos und Wirklichkeit 60
3. Das transnationale Unterstützerumfeld von RAF-Gefangenen in den 1970er Jahren 92
4. Gefangenen-Solidarität zwischen Deutschem Herbst und RAF-Hungerstreik 1981 126
Zwischenfazit 153

II. Im Schatten des Deutschen Herbstes und die Erfahrung einer neuen »Jugendrevolte«: Der RAF-Hungerstreik 1981
1. Zwischen Alternativbewegung, Knastgruppen und Hochsicherheitstrakts 156
2. Politische Differenzen im Unterstützerumfeld: Zusammenlegung oder die Abschaffung der Gefängnisse? 160
3. Zwischen Kriminalisierung und Zwangsernährung: Die drohende Eskalation des Hungerstreiks 168
4. Ein schwieriger Märtyrer: Der Tod des Inhaftierten Sigurd Debus 181
5. Die große Unübersicht: Der Hungerstreik in der Nachbetrachtung 194
6. Der »geheime« Dialog: Partielle Erfolge und Scheitern der Verhandlungen zwischen RAF-Gefangenen und Staat 205
Zwischenfazit 222

III. Im Spannungsfeld von Antiimperialistischer Front und »Koma-Lösung«: Der RAF-Hungerstreik 1984/85
1. Der Hungerstreik als Mittel zur Radikalisierung 225
2. Versuche, die radikale Linke auf die »richtige« Linie zu bringen: Front-Konzept, »Forderungsdiskussion« und »ZL-Initiative«, 1982/83 229
3. Der Abwehrkampf gegen die »Counter-Linke«: Amnestiedebatte(n) und »Grußaktion« in der Krisenzeit 1983/84 238
4. Hoffen auf Kontinuität: Die Diskussion über einen weiteren Hungerstreik, 1982–84 255
5. Unter Handlungsdruck: Die transnationale Formierung des RAF-Gefangenen-Umfelds, 1984 259
6. Im Visier des Staates: Die Situation der RAF-Gefangenen im Vorfeld des Hungerstreiks, 1983/84 278
7. Ein neues Paradigma zeichnet sich ab: Die Auseinandersetzung um die Zwangsernährung, Winter 1984/85 284
8. Die Konfrontation mit der »Koma-Lösung«, Anfang 1985 296
9. Eröffnung der Front: Militanz und Terrorismus während des Hungerstreiks, 1984/85 304
10. Die RAF bittet um Abbruch: Der Mord an Ernst Zimmermann und das Ende des Hungerstreiks, Februar 1985 320
11. Der RAF-Hungerstreik 1984/85 als internationales Kommunikationsereignis und seine Folgen
11.1. Die internationalistische Ausrichtung des Hungerstreiks 336
11.2. Frankreich 338
11.3. Belgien, Irland, Spanien, Portugal 349
11.4. Krise des Internationalismus 359
Zwischenfazit 369

IV. Auf neuen Wegen: Der RAF-Hungerstreik 1989
1. Das »Gefangenenprojekt« als Abwehrmittel gegen die Krisen der radikalen Linken 372
2. Krisen im Rücken: Entwicklungstendenzen und Bewegungsprozesse der radikalen Linken im Vorfeld des RAF-Hungerstreiks 1989
2.1. Entwicklungen und Prozesse im Überblick 386
2.2. Das Negativbeispiel: Die radikale Linke im Rhein-Main-Gebiet zwischen Spaltung und Neuorientierung, 1985–89 390
2.3. Das Positivbeispiel: Die Mobilisierung für die Forderung nach Zusammenlegung und der Kampf um die Hamburger Hafenstraße in den 1980er Jahren 404
3. Über den Versuch einer übergreifenden Verständigung: die Dialoginitiative, 1985–88
3.1 Ein vorsichtiges Antasten: Zur Vorgeschichte der Dialoginitiative, 1985–87 415
3.2 Von »Sympathisanten« zur »Staatsschutzlinken«: Die Konkretisierung der Dialoginitiative und ihre Auswirkungen, 1987/88 425
4. Ein linksradikaler Gegenentwurf: Die politische Neuausrichtung der RAF-Gefangenen und die Mobilisierungs-kampagne des Hamburger »Initiativkreises«, 1988/89 439
5. Konsens und Dissens: Die Auseinandersetzung um die praktische Unterstützung des RAF-Hungerstreiks 1989 450
6. Die Lösung zum Greifen nahe? Partielle Erfolge und endgültiges Scheitern eines gesellschaftlichen Dialogs 471
Zwischenfazit 484

V. Die AD-Hungerstreiks 1987/88 und 1989 in Frankreich und Solidarität aus der Bundesrepublik
1. Schwierige Verhältnisse 487
2. Politische Gefangene in der Nebenrolle: Gefängnisrevolten in Frankreich, 1984/85 488
3. Solidarität als Ausnahme: Die AD-Hungerstreiks 1987/88 und 1989 in Frankreich 502
4. Mehr Suchen als Finden: Solidarität mit AD-Gefangenen in der Bundesrepublik, 1987–89 526
Nachbetrachtung: Die transnationale »Brücke« zum RAF-Hungerstreik 1989 548
Fazit 551
Literatur 565

»Jan-Hendrik Schulz hat eine lesenswerte, differenzierte und schlüssige Studie geliefert, die eine wichtige Ergänzung zur Forschung über die RAF insbesondere für die Zeit nach dem 'Deutschen Herbst' sowie zur Geschichte der Gefangenenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich darstellt.« Caroline Peters, H-Soz-Kult, 31.01.2020»Die gut lesbare Studie zeichnet sich durch ihren innovativen Zugriff sowie die breite Erfassung "grauer Literatur" der 1980er Jahre aus.« Thomas Gerhards, Das Historisch-Politische Buch, 10.04.2020»Schulz hat eine Pionierarbeit vorgelegt. [...] Sie ermöglicht den Nachvollzug der internen Debatten unter den Gefangenen und in und mit ihrem Umfeld, und sie zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf die Veränderungen der politischen Verhältnisse und einzelne politische Initiativen.« Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Sitftung, 25.02.2021

»Jan-Hendrik Schulz hat eine lesenswerte, differenzierte und schlüssige Studie geliefert, die eine wichtige Ergänzung zur Forschung über die RAF insbesondere für die Zeit nach dem ›Deutschen Herbst‹ sowie zur Geschichte der Gefangenenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland und in Frankreich darstellt.« Caroline Peters, H-Soz-Kult, 31.01.2020

»Die gut lesbare Studie zeichnet sich durch ihren innovativen Zugriff sowie die breite Erfassung „grauer Literatur“ der 1980er Jahre aus.« Thomas Gerhards, Das Historisch-Politische Buch, 10.04.2020

»Schulz hat eine Pionierarbeit vorgelegt. […] Sie ermöglicht den Nachvollzug der internen Debatten unter den Gefangenen und in und mit ihrem Umfeld, und sie zeigt die unterschiedlichen Reaktionen auf die Veränderungen der politischen Verhältnisse und einzelne politische Initiativen.« Bernd Hüttner, Rosa-Luxemburg-Sitftung, 25.02.2021

Vorwort Das vorliegende Buch ist die überarbeitete Version meiner 2015 am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz eingereichten und im April 2016 verteidigten Dissertation. Es ist Resultat der Unterstützung einer ganzen Reihe von Personen und Institutionen. Zuerst möchte ich meinem Doktorvater Heinz-Gerhard Haupt meinen herzlichen Dank aussprechen. Ich habe ihn vor mittlerweile mehr als zehn Jahren an der Universität Bielefeld als überaus engagierten und analytisch denkenden Professor kennengelernt, dessen thematische Vielseitigkeit und Expertise in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhundert mich seit jeher fasziniert haben. Seine Fähigkeit, komplexe und scheinbar unübersichtliche Zusammenhänge in kürzester Zeit analytisch und zugleich empirisch veranschaulichend auf den Punkt zu bringen, habe ich insbesondere in Florenz miterleben dürfen. Hier habe ich ihn als sehr anteilnehmenden, motivierenden und radikal ehrlichen »Supervisor« empfunden, dem das Gelingen der Arbeit seiner DoktorandInnen eine Herzensangelegenheit ist. Unsere seit 2013 regelmäßig stattgefundenen Treffen in Berlin haben maßgeblich zur Entstehung dieses Buches beigetragen und werden mir nicht nur als Lehr- und Lernstunden, sondern vor allem auch als menschliche Begegnungen in schöner Erinnerung bleiben. Ein weiterer Herzensdank gilt Gisela Diewald-Kerkmann, die mir als Betreuerin meiner Bachelor- und Masterarbeit an der Universität Bielefeld stets unterstützend zur Seite stand. Sie hat meine KommilitonInnen und mich bereits vor gut zehn Jahren mit spannenden Lehrveranstaltungen zum Thema RAF und des Terrorismus in der Bundesrepublik und anderen Ländern begeistern können. Von unermesslichem Wert ist darüber hinaus unsere jahrelange enge Zusammenarbeit, in dessen Rahmen ich als studentische und wissenschaftliche Hilfskraft die Spätphase der Entstehung ihrer Habilitationsschrift begleiten durfte. Diese Erfahrungen ermöglichten mir eine intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF, die mir ansonsten verwehrt geblieben wäre. Ich kann deshalb mit gutem Grund sagen, dass diese Arbeit ohne Gisela Diewald-Kerkmann nicht entstanden wäre. Mein weiterer Dank gilt meinem Zweitgutachter Pavel Kolář und den zahlreichen europäischen KollegInnen, die meine Arbeit durch ihre kritischen Anmerkungen sowie ihre (Gast-)Freundschaft bereichern konnten, insbesondere Matteo Albanese, Fanny Bugnon, Robrecht Declercq, Antoine Duval und Familie, Beatrice de Graaf, Jean-Octave Guérin-Jollet und Familie, Jochen Hung, Jan-Holger Kirsch, Daniel Floris Knëgt, Kristina Kütt, Anne Kwaschik, Marc Lazare, Christophe Lazaro, Dominique Linhardt, Stefan Malthaner, Alfredo Mazzamauro, Gabriele Metzler, Kiran Klaus Patel, Donatella della Porta, Sven Reichardt, Antonella Romano, Frederico Romero, Annette Schuhmann, Hanno Seier, Detlef Siegfried, Isabelle Sommier, Uwe Sonnenberg, Andreas Spreier, Bart van der Steen, Anne Steiner, Trond Ove Tøllefsen, Phillip Wagner, Peter Waldmann und Klaus Weinhauer. Auf der institutionellen Seite gilt mein Dank dem Europäischen Hochschulinstitut für die wunderschöne und, in persönlicher wie in wissenschaftlicher Hinsicht, prägende Zeit in Florenz sowie die finanzielle Unterstützung der Buchpublikation. Besonders hervorzuheben ist die außerordentliche Arbeit und Fürsorge der Institutsangestellten, vor allem von Anna Coda Nunziante und Francesca Parenti. Ermöglicht wurde der Aufenthalt in Italien erst durch das mehrjährige Stipendium des DAAD. Zudem möchte ich der RLS für den freundlichen Druckkostenzuschuss danken. Dieses Buch ist meinen Eltern gewidmet, die meine »Odyssee« bis zum Schluss begleiteten und mir gerade in schwierigen Zeiten Rückhalt gaben. Meine Frau Elisabeth hat mit ihrer Geduld, Liebe und ihrem Vertrauen ein Übriges getan, damit dieses »Projekt« ein Ende finden konnte. Einleitung Die Früh- und Hauptphase des Linksterrorismus der Roten Armee Fraktion (RAF) in der Bundesrepublik – von ihrer Entstehung im Kontext der Studentenbewegung um die Chiffre 1968, über ihre anschließende gewaltsame Radikalisierung und der parallelen, von Hungerstreiks und Strafprozessen geprägten Phase der Gefangenschaft bis hin zur Eskalation der Gewalt während des Jahres 1977 – ist in den letzten zehn Jahren ausgiebig diskutiert worden. Die politischen und wissenschaftlichen Diskussionen konzentrierten sich maßgeblich auf die zugespitzte Konfrontation zwischen westdeutschem Staat und RAF. Höhepunkt dieses Konflikts war bekanntermaßen der Deutsche Herbst, welcher in der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch die RAF, der Stürmung der »Landshut«-Maschine in Mogadischu durch ein GSG 9-Kommando und in der von Mythen umrankten Stammheimer Todesnacht am 17./18. Oktober gipfelte. Die Ereignisse fanden in unterschiedlicher Ausprägung Eingang in die kollektiven Gedächtnisse verschiedener westeuropäischer Gesellschaften. Neben der Bundesrepublik sind hier vor allem die Nachbarländer Frankreich und die Niederlande, aber auch Italien und Griechenland zu nennen. Die Studie widmet sich der unbekannteren und medial weniger beachteten Spätphase des Phänomens RAF in der Zeit vom Deutschen Herbst 1977 bis zum Fall der Berliner Mauer und des damit einhergehenden Zusammenbruchs des sozialistischen Staatensystems seit November 1989. Wer sich mit der RAF beschäftigt, wird unweigerlich auf die Tatsache stoßen, dass die Phase der Gruppe vom Deutschen Herbst 1977 bis zu ihrer offiziellen Auflösung im April 1998 einen ungefähr dreimal längeren Zeitabschnitt abdeckt als die etwa siebenjährige »Hauptphase« in den 1970er Jahren. Anschaulich wird dieses Desiderat etwa in Stefan Austs knapp 900-seitigen Bestseller Der Baader-Meinhof-Komplex, welcher im Buchhandel gewöhnlich als »Standardwerk« zur Geschichte der RAF geführt wird: Das »Nachspiel« der RAF im Anschluss an den Deutschen Herbst wird dort lediglich auf sechs Seiten als eine Art Schlussanekdote abgehandelt. Ein Ausgangsinteresse war, neue Erklärungsansätze für die vergleichsweise lange Kontinuität des Phänomens RAF in der westdeutschen Gesellschaft zu finden. Für eine Kultur- und Neue Politikgeschichte , die die Geschichte der RAF vor dem Hintergrund linksradikalen, antistaatlichen Widerstands im gesellschaftspolitischen Kommunikationsraum untersucht und sich zum Ziel macht, »den Terrorismus« aus dem Narrativ einer hoffnungslos isolierten Verirrung herauszulösen , erscheint eine lediglich täterzentrierte Analyse von gesellschaftlich isolierten Untergrund-AktivistInnen problematisch. Vielmehr muss der Fokus auf Entwicklungsprozesse gelegt werden, die innerhalb der Gesellschaft stattfanden, um so die fortgeführten Untergrund-Aktivitäten der RAF in den 1980er Jahren in einen politischen und sozialen Zusammenhang stellen zu können. Es bietet sich an, die nach dem Deutschen Herbst weitergeführten kollektiven Hungerstreiks von politisch motivierten Inhaftierten aus der RAF und AktivistInnen aus ihrem unmittelbaren Unterstützerumfeld in den Blick zu nehmen. Die bemerkenswerte Mobilisierungsfähigkeit der RAF-Gefangenen im Zuge ihrer drei großen Hungerstreikkampagnen in den 1980er Jahren, die jeweils im Frühjahr 1981, 1984/85 und 1989 geführt wurden und bei denen sich – trotz des langen Schattens des Deutschen Herbstes – tausende Menschen für die Forderungen der Inhaftierten einsetzten, sticht dabei besonders ins Auge. Im Frühjahr 2019 erfährt der im Nachhinein kaum beachtete zehnte kollektive RAF-Hungerstreik 1989 sein 30-jähriges Jubiläum. Diese letzte große Kampagne von RAF-Gefangenen lässt sich nicht zuletzt in ihrer Mobilisierungskraft – obgleich sie aus einem anderen Konzept resultierte – mit dem berühmten dritten RAF-Hungerstreik vergleichen, in dessen Verlauf am 7. November 1973 Holger Meins verstarb. Hauptmerkmale des Buches sind die RAF-Hungerstreikkampagnen 1981, 1984/85 und 1989 sowie die Kampagnen der AD von 1987 bis 1989. Die Hungerstreiks sollen weniger unter dem Vorzeichen einer »politischen Subjektivierungspraxis« , sondern primär als politisches Kommunikationsmittel und auf eine gesellschaftliche Mobilisierung abzielende Widerstandsform gegen den Staat verstanden werden. Die Hungerstreiks waren nicht nur die Aufsehen erregendste Aktivität von RAF-Gefangenen, sondern, wie Padraic Kenney in seiner vergleichenden Studie über »politische Gefangene« im 19. und 20. Jahrhundert schreibt, »the most dramatic protest in which prisoners engage« sowie Mittel »to remove themselves from the authorities’ reach, asserting control through an action that is both incomprehensible and unpredictable«. Im Unterschied zu Kenney, dem es um eine grundsätzliche Entzifferung der Figur des »politischen Gefangenen« und ihrer zahlreichen Facetten in der Moderne geht , soll sich hier der empirischen Rekonstruktion eines sehr spezifischen Kommunikationszusammenhangs von AkteurInnen gewidmet werden, die in ihrem Selbstverständnis als politische Gefangene handelten , wenngleich ihnen dieser Status von einem Großteil der Gesellschaft nicht zugebilligt wurde. Ihre jahrelangen Kommunikationsversuche, deren Höhepunkte die Hungerstreiks darstellten, bezogen sich auf tatsächliche und potentielle – also auch von den Inhaftierten imaginierte – gesellschaftliche Bezugsgruppen inner- und außerhalb der Haftanstalten. Sowohl die Gruppe der Gefangenen als auch ihre AdressatInnen fluktuierten im zu untersuchenden Zeitraum von 1977 bis 1989 teils erheblich. Einzelne Individuen sowie bestimmte Kollektivstrukturen inner- und außerhalb des Gefängnis verblieben bis in die 1990er Jahre zentrale AkteurInnen im Kommunikationsraum der RAF-Gefangenen. Im analytischen Fokus stehen deshalb nicht ausschließlich, wenn auch im Wesentlichen, die politischen Gefangenen als zentrale UnternehmerInnen politischer Kommunikation, sondern auch deren MediatorInnen und AdressatInnen im näheren und weiteren Umfeld. Der »Staat« spielt insofern eine eher externe Rolle, als dass er die Kommunikation im Zuge seiner Bekämpfung des Terrorismus zu verhin-dern bzw. auf ein Minimum zu reduzieren bemüht war. Staatliche Instanzen sollen aus der hier gewählten kommunikationsanalytischen Perspektive als wichtigste »negative Bezugsgruppen« der zu beleuchtenden AkteurInnen behandelt werden. VertreterInnen des »Staates« konnten in bestimmten Phasen aber auch konstruktive Rollen im Kommunikationsprozess spielen, wie am Beispiel der Dialogversuche in der Bundesrepublik in den Jahren 1981 und 1989 gezeigt werden soll. Ein vergleichender und transnationaler Blick auf Frankreich in derselben Zeit kann aufzeigen, dass die (partiellen) Mobilisierungserfolge der RAF-Hungerstreiks in Kontrast standen zu den erfolglosen Gefängnisinitiativen von Mitgliedern aus der Stadtguerilla-Gruppe Action Directe (AD). Die Gruppe um Jean-Marc Rouillan – in der Literatur gewöhnlich als Teil eines »internationalen« Flügels der Organisation bezeichnet – , initiierte mit der sogenannten dritten Generation der RAF Mitte der 1980er Jahre eine transnationale Kooperation, die in der damaligen medialen und sicherheitspolitischen Debatte als Teil eines neuen linken »Euroterrorismus« wahrgenommen wurde. Es wird insgesamt zu klären sein, aus welchen Gründen die Hungerstreiks von AD-Gefangenen in Frankreich 1987/88 und 1989 nicht an die Erfolge der westdeutschen Inhaftierten anknüpfen konnten. Wie lassen sich die Mobilisierungserfolge von RAF-Gefangenen im Kontext ihrer Hungerstreikkampagnen in der westdeutschen Gesellschaft, die ihren späten Höhepunkt erst im Frühjahr 1989 fanden, im Unterschied zu den erfolglosen Hungerstreiks von AD-Gefangenen in Frankreich erklären und welche Schlüsse lassen sich daraus für die Kontinuität der transnational kooperierenden Stadtguerilla-Gruppen RAF und AD sowie ihres militanten Umfelds in der Bundesrepublik seit dem Deutschen Herbst 1977 ziehen? Der gut zwölfjährige Untersuchungszeitraum, der mit dem Deutschen Herbst 1977 und dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 zwei Zäsuren von internationaler Bedeutung im »kurzen 20. Jahrhundert« umfasst , korrespondiert, wie gezeigt werden soll, mit dem gesellschaftlichen Entwicklungsprozess der RAF-Gefangenen und ihres Umfelds. Das letztliche Scheitern ihres »Gefangenenprojektes«, so viel kann vorweggesagt werden, wurde von VertreterInnen des Gefangenenkollektivs wenige Wochen vor dem Fall der Berliner Mauer konstatiert und stand mit diesem weltpolitischen Ereignis nicht unmittelbar in Zusammenhang. Das Phänomen der RAF war anlässlich des 30. Jahrestages des Deutschen Herbstes im Jahr 2007 Gegenstand einer vielschichtigen Debatte in Medien, Politik und Wissenschaft, die von zahlreichen Publikationen zu dem Thema begleitet wurde. Im Zuge der Kontroversen um die Freilassung des langjährigen RAF-Gefangenen Christian Klar und der daran anschließenden Diskussion über die genauen Hintergründe und Tatbeteiligungen an der Ermordung von Generalbundesanwalt Siegfried Buback im April 1977, wie sie maßgeblich von seinem Sohn Michael Buback initiiert worden war, gerieten zunehmend Einzelpersonen in den Fokus des öffentlichen Interesses, die sowohl auf TäterInnen- als auch auf Opferseite in die damaligen Ereignisse (mutmaßlich) involviert gewesen waren. Der publizistische Trend einer personenzentrierten Darstellung des »roten Jahrzehnts« schlug sich in dieser Zeit auch auf die geschichts- und sozialwissenschaftliche Forschung nieder. Das Fundament des Forschungsstands bildet weiterhin ein Korpus sozialwissenschaftlicher Studien, der Ende der 1970er Jahre vom Bundesinnenministerium zur Aufarbeitung der jüngsten Geschichte linksrevolutionärer Gewaltgruppen in Auftrag gegeben wurde. Im Fokus des Forschungsinteresses der beteiligten SozialwissenschaftlerInnen und KriminologInnen standen primär die gesellschaftlichen Ursachen und Entstehungszusammenhänge des Linksterrorismus. Diese Pionierstudien kommen über Strukturanalysen, in denen Erklärungsmuster für konkrete Handlungszusammenhänge gegeben werden könnten, kaum hinaus: »Zwischen der Darstellung gesellschaftlicher Probleme oder auch sozialer Generationenkonflikte und den radikalen Schlüssen, die einige wenige daraus zogen«, wie Klaus Weinhauer treffend darlegt, »ist eine Kausalkette kaum so herzustellen, dass daraus irgendeine Zwangsläufigkeit entstünde.« Erst in der jüngeren Zeit sind in den Sozial- und Geschichtswissenschaften zahlreiche Forschungsarbeiten und -ansätze vorgelegt worden, in denen das von Weinhauer festgestellte Defizit zwischen Strukturanalysen, in denen sich auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Linksterrorismus fokussiert wird, und sozial- und kulturgeschichtlichen Arbeiten, in denen eher das individuelle und kollektive Handeln von (Gewalt-)AkteurInnen im Mittelpunkt steht, abgebaut werden konnte. Der Münchener Zeithistoriker Johannes Hürter plädiert zurecht auf »einer modernen Vergleichs- und Beziehungsgeschichte«, die »den Weg des synchronen historischen Vergleichs« sucht und dabei verstärkt auf die »Analyse der Beziehungen, Verflechtungen und Transfers auf internationaler und transnationaler Ebene« setzt.

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 143 x 213 mm
Gewicht 727 g
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 68er • action directe • AD • Baader-Meinhof-Gruppe • Bundesrepublik Deutschland • Deutscher Herbst • Frankreich • Gefangene • Hungerstreik • Inhaftierte • Klassenkampf • Linksextremismus • linksradikal • Marxismus • Politische Gefangene • Protestbewegung • radikales Milieu • RAF • RAF (Rote Armee Fraktion) • Rote Armee Fraktion • Sigur Debus • Stadtguerilla • Studentenbewegung • Terrorismus • Zeitgeschichte • Zeitgeschichte nach 1945
ISBN-10 3-593-50681-5 / 3593506815
ISBN-13 978-3-593-50681-4 / 9783593506814
Zustand Neuware
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