Unerhörte Leiden - Wilfried Witte

Unerhörte Leiden

Die Geschichte der Schmerztherapie in Deutschland im 20. Jahrhundert

(Autor)

Buch | Softcover
402 Seiten
2017
Campus (Verlag)
978-3-593-50660-9 (ISBN)
54,00 inkl. MwSt
Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten? Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.
Frauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen Europas noch bis ins 20. Jahrhundert. Heute hat sich das Bild gewandelt: Die Akzeptanz, Schmerzen ertragen zu müssen, ist geschwunden, in Deutschland, aber auch in anderen Ländern.

Wie ging dieser Prozess vonstatten? Wie war er in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, der Patientinnen und Patienten?

Wilfried Witte spürt den historischen Entwicklungen im Umgang mit chronischen Schmerzen in Deutschland im 20. Jahrhundert nach. In seiner Geschichte der Schmerztherapie zeigt er anhand eindrücklicher Beispiele, wie medizinischer Fortschritt und gesellschaftliche Änderungen miteinander korrespondierten.

PD Dr. Wilfried Witte ist Historiker und Arzt; er arbeitet als Oberarzt für Anästhesie und Intensivmedizin an der Charité in Berlin.

Inhalt1. Einführung 91.1 Schmerztherapie als Therapie aus den USA 121.2 Translation, Biomedizin und Übertragung in der Geschichte der Emotionen 151.3 Kybernetik und vegetatives Nervensystem 192. Heroismus, Pessimismus und Subjektivität 242.1 Schmerz und Spiel: das Beispiel des Handballs 262.2 Helden des Krieges: Ernst Jünger 352.3 Titanen des Schmerzes: Carl Fervers 362.4 Patienten mit Schmerzen: Ferdinand Sauerbruch 402.5 Katholischer Schmerzheroismus und Anästhesie 432.6 Kulturpessimismus des Schmerzes 472.7 Subjektivität des Schmerzes: Henry Beecher und George Engel 503. Vegetativum und Neuraltherapie bis etwa 1970 543.1 Kopfschmerzen 543.2 Impletol als Wunderwaffe 573.3 Leriche und der Sympathicusschmerz 633.4 Nonnenbruch, Dieter Gross und die Bayer-Werke 663.5 Speransky und von Roques 713.6 Theorie über das Nervensystem 733.7 Anästhesiologie und Anästhesietherapie 753.8 Akupunktur in der frühen Bundesrepublik 794. Die neurochirurgische Schmerztherapie 844.1 Otfrid Foerster 854.2 Lobotomie als Operation und als Metapher 874.3 Stereotaxis und "Gate Control"-Theorie 925. Bedeutungswandel des Schmerzes: Phantomschmerz in der Bundesrepublik 1005.1 Kriegsversehrtheit 1015.2 Das Bundesarbeitsministerium 1065.3 VdK-Lobbyismus und die Empfehlungen des Unterausschusses 1095.4 Der Forschungsauftrag 1145.5 Phantomschmerz in den 1980er Jahren 1196. Die Asiatische Reise: der Akupunktur-Boom in den 1970er Jahren 1226.1 Die Traditionelle Chinesische Medizin 1256.2 China und der Westen 1286.3 Endorphine und elektrisch verstärkte Akupunktur 1306.4 Die Reise gen Osten 1336.5 Mildred Scheel und die Akupunktur 1366.6 Explosion an Meldungen 1376.7 Johannes Bischko 1406.8 Akupunktur und Anästhesiologie 1426.9 Horst Ferdinand Herget 1456.10 Akupunktur und Markt 1486.11 Manfred Köhnlechner 1516.12 Die Bewertung elektrisch verstärkter Akupunktur 1536.13 Die Rezeption der Akupunktur 1577. Krebsschmerz in der Bundesrepublik 1607.1 Tumorschmerz-Therapie in Großbritannien 1607.2 Der Film über St. Christopher's 1657.3 Onkologie in Heidelberg 1727.4 Die "Deutsche Krebshilfe" 1757.5 Therapie mit Opioiden 1787.6 Die WHO-Dreistufenleiter 1808. Therapie chronischer Schmerzen: die Schmerzklinik als Institution 1838.1 Rudolf Frey 1848.2 Institutionalisierung der Schmerzklinik 1898.3 Die Schmerzklinik in Mainz 1918.4 Öffentlichkeit für die Schmerzklinik 1948.5 Das Deutsche Schmerzforschungszentrum 1948.6 Frey und die rheinland-pfälzische Politik 1978.7 Die Herausforderung des Terrorismus 2018.8 Popularisierung des Konzepts 2048.9 Das Schmerzzentrum Mainz 2069. Exkurs: Therapie chronischer Schmerzen in der DDR 2129.1 Physiotherapie in der DDR 2169.2 Bioklimatologie 2209.3 Ivan Petrowi? Pavlov 2219.4 Bandscheibenvorfall und manuelle Therapie 2249.5 Manuelle Therapie nach tschechischem Vorbild 2259.6 Russische Reflextherapie 2299.7 Elektrotherapie 2359.8 Akupunktur in der DDR 2389.9 Schmerz und Anästhesiologie in der DDR 2489.10 Schmerztherapie an der Charité 2559.11 Die Sektion Schmerztherapie 2609.12 Krebsschmerztherapie, Rückenschmerzen und die Bilanz der DDR-Schmerztherapie 26110. Rückenschmerz, Psychologie und die Versorgung von Schmerzpatienten in den 1980er Jahren 26710.1 Rheumatismus 26710.2 Der Bandscheibenvorfall 27010.3 Failed back surgery syndrome 27410.4 Verhaltenstherapie 27610.5 Functional restoration 27910.6 Psychologische Schmerztherapie 28010.7 "Schmerz - Chronik einer Krankheit" 28210.8 Versorgungsstrukturen in der Bundesrepublik 28810.9 Schmerz als Forschungsthema 29210.10 Die "Deutsche Schmerzhilfe" 29310.11 Das SCHMERZtherapeutische Kolloquium 29611. Zusammenfassung 305

1. EinführungFrauen mussten unter Schmerzen gebären, Kleinkindern wurde die Schmerzempfindung abgesprochen, Männlichkeit zeichnete sich durch Gleichmut gegen Schmerzen aus - das galt in weiten Teilen noch bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Solche Auffassungen sind aber nicht mehr en vogue, es hat sich etwas geändert. Deren Akzeptanz ist geschwunden, in Deutschland wie in anderen Ländern. Die Auffassungen über Schmerzen sind nicht immer deckungsgleich mit dem, was "Experten" über Schmerz sagen. Wie haben sich Experten in diesem Wandlungsprozess des Schmerzes angenommen und wie war dies in Einklang zu bringen mit den Erwartungen derjenigen, die unter den Schmerzen litten, den Patientinnen und Patienten? Verortet wird die Expertenschaft allgemein bei der Medizin oder den Natur- und Kulturwissenschaften, wobei das letzte Wort viele für sich reklamieren.Das 20. Jahrhundert zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass die Deutungshoheit darüber, was Wissen ist und was dann zu wissen war, wenn nicht ideologische Bevormundung griff, zu einem großen Teil den Wissenschaften zugesprochen wurde [114]. Auf die eine oder andere Weise gerieten Debatten, die in den Wissenschaften geführt wurden, auch in breitere Kreise der Bevölkerung, ohne dass ursprüngliche theoretische Ansätze dann noch aufzuspüren sein mussten. So verhält es sich beispielsweise mit einer Studie der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry [681], die in den Kulturwissenschaften seit 1985 weite Kreise zog, während sie durch die Radikalität ihres Ansatzes seither das Potential hat, außerhalb von fachwissenschaftlichen Erörterungen Verwirrung zu stiften. Ohne religiöse Auslegungen bemühen zu müssen, betrachtete Scarry Schmerz und das Zufügen von Schmerzen in einem Zusammenhang. Im Extrem der Folter oder des Krieges würde die Welt des Opfers zerstört. Kulturelle Schöpfungen seien in der Lage, gerade das Gegenteil zu bewirken - indem der menschliche Körper nämlich befähigt würde, sich durch ihre Anwendung der zerstörerischen Kraft des Schmerzes zu widersetzen und ihn zu überwinden. Scarrys universell angelegter Erklärungsansatz wirft auch ein Schlaglicht darauf, dass das Streben nach dem ganz großen Wurf - was ist das Wesen des Schmerzes, lautet hier die Gretchenfrage - unendlich viel Platz lässt für Details, Interpretationen, subtile Differenzierungen, aber auch für prätentiöses Auftreten, wie es sich in anderen Publikationen niedergeschlagen hat. Denn es gibt keine Begriffe in den Kulturwissenschaften, die noch universeller angelegt sein können als die Begriffe "Kultur" und "Schmerz". Zum anderen ist Scarrys Mono grafie The Body in Pain (Der Körper im Schmerz) aus dem Jahr 1985 selbst schon ein (zeit-)historisches Dokument, indem es die politischen Bedingungen der Reagan-Ära in den USA widerspiegelt. Ab 1981 wurden Patienten, die unter chronischem Schmerz litten, im konservativen politischen Klima der USA argwöhnisch beäugt, da man "gelernte Hilflosigkeit" als gängigen verursachenden Faktor ansah und diejenigen, die darunter litten, wegen ihrer Schwäche anklagte [850]. Scarrys Studie kann als Stellungnahme gelesen werden, die Bestrebungen, lang andauernden, chronischen Schmerzen medizinisch zu Leibe zu rücken ("management of pain"), nicht zu unterbinden. Sie ist selbst politisch, was zugleich ein Schlaglicht darauf wirft, dass die Geschichte der Schmerztherapie immer auch Politikgeschichte ist.Schmerzen sind eine Empfindung, Schmerz ist aber auch ein Gefühl. Die Beschäftigung mit Gefühlen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts in der Philosophie und in den Kognitionswissenschaften in den Vordergrund gerückt. Dabei herrscht kein Konsens bei der Beantwortung der Frage, ob und wie "Emotion" und "Gefühl" voneinander abzugrenzen sind. Der Neurowissenschaftler António Damásio beispielsweise hat in seinem Buch Self comes to mind eine Theorie entwickelt, in der er "Gefühl" zum Derivat von "Emotion" erk

Erscheinungsdatum
Verlagsort Frankfurt
Sprache deutsch
Maße 140 x 213 mm
Gewicht 507 g
Einbandart kartoniert
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Geschichte Teilgebiete der Geschichte Kulturgeschichte
Medizin / Pharmazie Allgemeines / Lexika
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Schmerztherapie
Sozialwissenschaften Pädagogik Allgemeines / Lexika
Schlagworte 20. Jahrhundert; Geistes-/Kultur-G. • Anästhesie • Anästhesie • Deutschland • Deutschland, Geschichte; Geistes-/Kultur-Geschichte • Kulturgeschichte • Narkose • Schmerz • Schmerzen • Schmerztherapie • Wissenschaftsgeschichte
ISBN-10 3-593-50660-2 / 3593506602
ISBN-13 978-3-593-50660-9 / 9783593506609
Zustand Neuware
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